Gelbwesten-Protest verliert Zulauf
22:41 Minuten
Weitaus weniger Gelbwesten demonstrieren inzwischen gegen die Regierung. Präsident Macron punktete beim großen Bürgerdialog, erhöhte den Mindestlohn, entlastete Rentner finanziell und nahm die Steuererhöhung auf Benzin und Diesel zurück.
"Wir sind da!", singen die Gelbwesten an ihrem Kreisverkehr. "Auch wenn Macron es nicht will: Wir sind da!"
Es ist Samstag, und für die Gelbwesten von Soissons, einer Kleinstadt in der Picardie, gut eineinhalb Stunden nordöstlich von Paris, heißt das, wie immer seit gut einem Jahr: Versammlungstag.
"Ich war sogar schon vor dem eigentlichen Beginn dabei", erzählt Jackie, wie er sich nennt. Der 61-Jährige trägt Sonnenbrille und grauen Dreitagebart. An einem Lederband um den Hals baumelt ein Totenkopf-Amulett. Auf seine gelbe Weste hat er das Wort "Revolution" geschrieben. Darüber drei Jahreszahlen: 1789, 1968 und natürlich 2018, den Beginn der Gelbwestenbewegung.
"Ich protestiere für meinen Enkel. Er ist zwölf, und ich möchte ihm etwas Besseres hinterlassen. Ich habe in den vergangenen Monaten Leute getroffen, die können an einem Tag ihre Wohnung heizen, am anderen etwas essen. Finden Sie das normal in Frankreich, 2019? Ich nicht!"
50 bis 60 Leute protestieren in Soissons
Es gibt nicht mehr viele Kreisverkehre im Land, an denen immer noch Woche für Woche Gelbwesten ausharren. Hierher, neben das Einkaufszentrum von Soissons, kommen deshalb mittlerweile Mitstreiter aus der ganzen Region. 50, vielleicht 60 Leute heute. Es hat sich eine gewisse Protestroutine eingeschlichen, bei allen Beteiligten.
Als Jackie und die anderen auf den Kreisverkehr stürmen und den Verkehr blockieren, ist die Polizei nach nur fünf Minuten zur Stelle und macht der Blockade ein Ende. Die Beamten belassen es bei Ermahnungen statt der fälligen Strafen. Mittlerweile kennt man sich schließlich. Auch die Autofahrer nehmen es gelassen. Noch immer hupen viele, die vorbeifahren, zum Zeichen der Solidarität, bestätigt Stéphanie, etwa Mitte 30, gelbe Weste, Kurzhaarschnitt.
"Vermögenssteuer wieder einführen" steht auf dem Schild, das sie den Autofahrern entgegenreckt. Eine Forderung, die viele Gelbwesten seit mittlerweile einem Jahr erheben. Auch Stéphanie ist seit Beginn der Bewegung dabei, weil sich nicht wirklich etwas geändert hat, findet die Briefträgerin:
"Nicht wirklich. Gar nichts eigentlich. Nur Blabla, sie behandeln uns wie Dummköpfe. Die Arbeitsbedingungen, die Aktionäre, die sich die Taschen vollmachen, während wir für 1300 Euro malochen. Wegen dieser Ungerechtigkeit sind wir hier."
Vor einem Jahr herrschte Volksfeststimmung
Es sind die gleichen Schilderungen wie vor fast einem Jahr, als wir den Kreisverkehr in Soissons schon einmal besucht haben. Damals gab es hier Holzhütten, eine Suppenküche. Lagerfeuer brannten, sieben Tage die Woche, 24 Stunden am Tag. Es herrschte Volksfeststimmung.
"Die Leute bringen uns Suppe. Es fehlt uns an nichts. Wir können ohne Probleme Weihnachten und Neujahr hier verbringen. Wir sind gut organisiert. Die Solidarität ist riesig!"
Wie an Hunderten Kreisverkehren im ganzen Land lag auch in Soissons ein Aufbruch in der Luft. Träume wurden geboren, Freundschaften geschlossen. Es war der Beginn einer Bewegung - der Bewegung der Gilets Jaunes, der Gelbwesten.
Jacline Mouraud zaubert die Erinnerung an diese Anfangszeit der Bewegung ein nostalgisches Lächeln ins Gesicht:
"Während eines Monats haben sich die Leute verbündet. Es gab Geheimtreffen, in Wohnungen, überall im Land, im kleinsten Dorf. Manchmal nur drei, vier Personen. Und dann ging jeder zu seinem Kreisverkehr, um ihn zu besetzen."
Die Bretonin gilt als eine der Gründermütter der Gelbwestenbewegung. Ende Oktober 2018 hatte die 52-Jährige ihrem Ärger auf Facebook Luft gemacht.
"Hallo zusammen. Ich mache gerade ein kleines Protestvideo. Ich habe mit Herrn Macron und seiner Regierung ein Hühnchen zu rupfen. Wann wollen Sie eigentlich mit Ihrer Hetzjagd auf Autofahrer aufhören, die läuft, seit sie an der Macht sind?"
Es folgten vier Minuten und neununddreißig Sekunden Abrechnung mit der Politik des Präsidenten.
"Der Anstieg der Spritpreise: 1,50. Aber keiner sagt etwas. Und warum? Weil wir keine Zeit haben, dagegen auf die Straße zu gehen. Wir müssen schließlich die Steuern zahlen, die sie uns, netterweise, aufbrummen. Wie lange soll das noch dauern? Was machen Sie eigentlich mit der Knete? Das fragen wir uns alle."
Innerhalb kürzester Zeit wird das Video mehrere Millionen Mal geklickt. Der Erfolg habe sie umgehauen, erinnert sich Jacline Mouraud heute:
"Das hat eine phänomenale Wirkung gehabt. Ich selbst war davon am meisten überrascht. Sobald das Video online war, habe ich permanent Nachrichten bekommen, von Leuten, die mir geschildert haben, wie schwierig es für sie ist, einfach nur zu leben."
Von heute auf morgen war die immer adrett gekleidete Akkordeonspielerin mit der markanten Brille Gast in vielen Talkshows. Sie präsentierte sich dort als Stimme der kleinen Leute, die von der großen Politik vergessen worden sind.
Online-Petition gegen hohe Spritpreise
Auch Priscillia Ludosky wollte diesen Menschen und damit sich selbst Gehör verschaffen, sogar schon früher, im Mai 2018. Da hatte die Kosmetikerin und ehemalige Bankangestellte auf der Plattform Change.org eine Onlinepetition lanciert, ebenfalls gegen die hohen Spritpreise. Ende Oktober, etwa zeitgleich zum Video von Jacline Mouraud, unterschrieben plötzlich Hunderttausende diese Petition.
"Vielleicht war es das Timing. In diesem Moment hatten viele Menschen einfach die Schnauze voll. Viele haben mir gesagt, dass das ein Funke war, weil es gereicht hat, mit der Korruption, den falschen Aussagen über die öffentlichen Gelder, mit Steuervermeidung und -betrug, verurteilte Abgeordnete, die wiedergewählt werden. Einfach zu viele Ausschweifungen", erinnert sich die 34-Jährige. Sie habe gefühlt, dass sich da etwa zusammenbraut.
Gemeinsam mit Jacline Mouraud und anderen, die in Sozialen Medien Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatten, rief Priscillia Ludosky schließlich die Französinnen und Franzosen dazu auf, ihre Wut auf die Straße zu tragen. Ohne irgendeine übergeordnete Organisation. Dafür unter einem Zeichen, das jeder Autofahrer bei sich tragen muss: dem "Gilet Jaune", der gelben Warnweste.
300.000 Menschen am 17. November auf den Straßen
Am 17. November, einem Samstag, wurde aus dem schwelenden Feuer des Internetprotests ein Flächenbrand. Rund 300.000 Menschen gingen landesweit auf die Straße – so lauteten die traditionell eher zurückhaltenden Zahlen des französischen Innenministeriums.
Obwohl nicht eine einzige Demonstration angemeldet worden war, blockierten Bürgerinnen und Bürger in gelben Westen an mehreren tausend Orten in ganz Frankreich Kreisverkehre oder Straßen, fluteten die Boulevards von Paris und anderer großer Städte. Am Rande kam es vor allem in Paris zu allerersten kleineren Zusammenstößen zwischen Polizei und Demonstranten, auch wenn die Stimmung weitgehend friedlich blieb.
"Macron demission" – "Macron tritt zurück" – schallte es durch das Land. Der Slogan wurde schnell zum Schlachtruf der Gelbwestenbewegung. Von Caen am Ärmelkanal bis Cannes am Mittelmeer war der Präsident das erklärte Feindbild fast aller Demonstranten:
"Er muss von selbst zurücktreten, unbedingt! Wir sind Sklaven, heutzutage. Und jetzt sind wir auch noch in einer Diktatur, in der Scheiße."
Präsident Macron reagiert anfangs nicht
Und der Präsident selbst? "Ich kommentiere das nicht." – So die erste, lapidare Reaktion von Emmanuel Macron. Für Politikwissenschaftler Bruno Cautrès unterlaufen in der Rückschau dem Präsidenten, ja der ganzen Regierung gerade in der wichtigen Anfangsphase des Protests kapitale Fehler.
"Man hatte das Gefühl, die Regierung habe die Bewegung, mit der sie es zu tun hatte, nicht verstanden. Einige dachten, das Ganze würde schnell verschwinden. Sie glaubten in diesem Moment noch, Emmanuel Macron sei unbesiegbar. Ich denke, tatsächlich hätte er bereits am allerersten Wochenende, um den 17. November herum, der Bewegung und der Beklemmung, die sie ausdrückte, Rechnung tragen, Maßnahmen ankündigen müssen. Stattdessen war die Antwort sehr von oben herab. Eine Antwort der Repression, der Polizei."
Die Regierung geriet in eine Zwickmühle. Laut Umfragen genoss die Bewegung nicht nur unter Anhängern der politisch extremen Lager, sondern auch in der gemäßigten, sogar der konservativen Wählerschaft eine breite Zustimmung. Über 70 Prozent der Franzosen gaben an, die Gelbwesten zu unterstützen oder zumindest Sympathie für die Bewegung zu hegen.
Gleichzeitig stellte die explosive Stimmung innerhalb der Protestbewegung eine unkalkulierbare politische Gefahr dar. Ausschreitungen bei den Protesten schienen vorprogrammiert. Zumal in den Sozialen Medien Aufrufe kursierten, vor den Präsidentenpalast zu ziehen. Einige forderten sogar, diesen für das Volk zu erobern.
Gewalt auf den Straßen: Statue der Marianne zerstört
Am 1. Dezember, dem dritten großen Protestsamstag der Gelbwestenbewegung, gerät die Lage in Paris endgültig außer Kontrolle. Rechts- und linksextreme Krawallmacher mischen sich in großer Zahl schon am Morgen unter die Protestierenden.
Am Arc de Triomphe, einem der Wahrzeichen von Paris, kommt es zu bürgerkriegsartigen Auseinandersetzungen. Rund um die Prachtstraße Champs-Élysees toben regelrechte Straßenschlachten. Hunderte Geschäfte werden zerstört, Autos, Bankfilialen, ja sogar Wohnhäuser in Brand gesteckt.
Randalierer stürmen das Museum unter dem Triumphbogen, zerstören eine historische Statue der Marianne, der Symbolfigur der französischen Republik. Das Foto vom eingeschlagenen Gesicht der Statue geht um die Welt.
"Das Gewaltniveau während dieser ganzen Krise ist ein starkes Alarmsignal für unser demokratisches Modell. Es ist unglaublich, dass so viele Demonstranten und Polizisten verletzt werden konnten. Das ist quasi einzigartig in Europa", sagt Bruno Cautrès in der Rückschau. Für den Politikwissenschaftler ist die immense Gewalt, die sich auf den Straßen des Landes Bahn brach, Ausdruck tiefgreifender Probleme der französischen Gesellschaft – und einer Unzufriedenheit mit dem politischen System.
Schließlich hatte Macron im ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahl 2017 nur 24 Prozent der Stimmen erhalten. Nicht einmal ein Viertel der Wähler hatte sich also bewusst für das Reformprogramm des späteren Präsidenten entschieden.
Dass Macron in der Stichwahl gut 66 Prozent der Stimmen erhielt, sei keine Zustimmung zu seinem Programm gewesen, sondern lediglich die Ablehnung der extrem rechten Gegenkandidatin Marine Le Pen, glaubt Cautrès.
"Ich glaube, in dieser Krise hat sich auch ein starkes Verlangen gezeigt, das französische Modell, wie die Bürger entscheiden, zu erneuern. Macron hat die Präsidentschaft ausgeübt, als ob eine Mehrheit für sein Programm gestimmt hätte. Aber das stimmte einfach nicht. Es stimmte nicht."
Auch wenn die große Mehrheit der Gelbwesten friedlich demonstrierte, gab es innerhalb der Bewegung durchaus die weitverbreitete Ansicht, dass Gewalt bei den Protesten gerechtfertigt sei.
"Die Gewalt geht von Seiten der Macht aus, die den Reichen die Steuern erlässt und die Armen schröpft, die alles kaputt macht, die öffentlichen Verkehrsmittel, die Krankenhäuser, die Schulen. Die Gewalt ist also auf der anderen Seite, und die Wut erzeugt eben Gewalt. Ist doch normal", befand etwa selbst diese friedliche Demonstrantin am Rande der schweren Krawalle am ersten Dezember auf den Champs-Élysées – und war mit dieser Auffassung keinesfalls allein.
Zahlreiche Videos zeigten brutalste Angriffe von Protestierenden auf Beamte. Die massiven Dauereinsätze ließen Überstundenkonten explodieren. Fast ein Jahr nach Beginn der Gelbwestenbewegung gingen in Paris Polizisten selbst auf die Straße, um gegen ihre Arbeitsbelastung zu demonstrieren.
Morddrohungen gegen Gelbwesten, die mit Premier reden
Für Jacline Mouraud, die die Revolution als Wesensmerkmal der Franzosen betrachtet, stellte der gewaltvolle 1. Dezember, der Tag des Sturmes auf den Arc de Triomphe, dennoch einen persönlichen Wendepunkt dar.
"Nach den Geschehnissen vom Arc de Triomphe habe ich mich sofort von jeder Gewalt entsolidarisiert. Ich war also nur drei Samstage auf der Straße. Das war alles. Denn Gewalt kann keine Antwort sein, man kann nichts fordern, wenn man gewalttätig ist. Das geht nicht. Die Antwort auf einen Konflikt kann nur durch Dialog kommen."
Zusammen mit einigen anderen bekannt gewordenen Vertretern der Gelbwesten wollte Jacline Mouraud einen solchen Dialog anstoßen und eine Gesprächseinladung von Premierminister Edouard Philippe annehmen. Aus der eigenen Bewegung heraus wurden sie dafür jedoch massiv angefeindet, ja: bedroht.
"Nachmittags erhielten wir eine SMS aus seinem Amt: Er würde uns am 4. Dezember um 16 Uhr empfangen. Nur: In dem Moment, in dem die französischen Journalisten diese Nachricht verbreitet haben, wurden wir alle mit dem Tode bedroht, alle."
Präsident Macron präsentiert Milliarden-Paket
Das ganze Land wartete auf ein Machtwort, eine Stellungnahme, vielleicht Ankündigungen des Präsidenten.
Doch Emmanuel Macron strich fast alle Termine, war wie vom Erdboden verschluckt. Erst am 10. Dezember, einem Montagabend, nach vier Samstagen mit riesigen Demonstrationen, voller Gewalt, wandte sich der Präsident schließlich mit einer Fernsehansprache an die Nation.
"Die Ereignisse der letzten Wochen im Hexagon und den Überseegebieten haben die Nation zutiefst erschüttert. Sie haben berechtigte Forderungen gemischt mit untragbarer Gewalt."
Vor der Kulisse seines goldstuckgeschmückten Büros im Élyséepalast versuchte sich der Präsident in einer Mischung aus Verständnis und Ermahnung, wollte den Gelbwesten entgegenkommen, ohne von der eigenen Reformpolitik abrücken zu müssen.
"Ihre Not rührt nicht erst von gestern", analysierte Macron. "Aber wir haben uns schändlicherweise daran gewöhnt. Es sind 40 Jahre der Schwäche (Malaise), die nun hervortreten. Es kommt von weit her, aber jetzt ist es da. Ohne Zweifel haben wir es seit eineinhalb Jahren nicht geschafft, eine ausreichend schnelle und starke Antwort zu geben. Ich nehme meinen Teil dieser Verantwortung an."
Um die Wut der Demonstranten zu beruhigen, schnürte Macron ein Paket von Maßnahmen, die er schnell umzusetzen versprach:
"Das Einkommen eines Beschäftigten mit Mindestlohn steigt ab 2019 um 100 Euro, ohne dass es den Arbeitgeber einen Euro mehr kostet. Überstunden werden ab 2019 ohne Steuern und Abgaben ausbezahlt. Ich bitte alle Arbeitgeber, ihren Angestellten Jahresendprämien zu überweisen. Auch diese werden weder mit Steuern, noch mit Abgaben belastet."
Insgesamt, so rechneten Fachleute nach, belasteten die Ankündigungen den Staatshaushalt mit rund zehn Milliarden Euro. Und trotzdem waren viele Gelbwesten, wie Priscillia Ludosky, enttäuscht:
"Zehn Milliarden, das ist nichts. Wenn man die Zahl hört, hört sich das erstmal viel an. Aber wenn man sieht, was er angekündigt hat, war das keinesfalls ein Geschenk, wie viele sagten. Was den Mindestlohn anging, hat er den Leuten 100 Euro netto gegeben, das betraf aber nur einen kleinen Teil der Bevölkerung. Und der Rest war ja längst vorgesehen gewesen."
Proteste schädigen Wirtschaft, sorgen für Entlassungen
Die Proteste und damit auch die Gewalt gingen weiter. Mit gravierenden Folgen, auch für die französische Wirtschaft. Staus an besetzten Kreisverkehren oder an Zufahrten großer Einkaufszentren und Fabriken machten auch in kleineren Städten und auf dem Land Einzelhändlern, Unternehmern, sogar Supermarktketten zu schaffen. Mitten im Weihnachtsgeschäft mussten Ladenbesitzer erste Angestellte entlassen: Menschen, für die die Gelbwesten eigentlich kämpften.
Rund um und auf der Champs-Élysées in Paris vernagelten Luxusboutiquen, Handyshops, kleine Einzelhändler nun Samstag für Samstag ihre Schaufenster. Eine Parlamentskommission versuchte im Sommer, die entstandenen Schäden zu beziffern:
"Die großen Einkaufszentren schätzen die direkten und indirekten Auswirkungen auf etwa zwei Milliarden Euro, die Gastronomen und Hoteliers sprechen von 850 Millionen Euro. Allein die direkten Schäden betragen laut Versicherern hier 217 Millionen Euro, plus dem Ausfall an Umsatz und Besucherzahlen, den alle Bereiche in den Innenstädten verzeichnet haben, die besonders betroffen waren", folgerte der Abgeordnete Roland Lescure, Mitglied der Parlamentskommission bei der Vorstellung des Berichts im Juli.
Die Menschen hätten angesichts der andauernden Demonstrationen viele Einkäufe im Internet erledigt, anstatt in die Stadtzentren zu fahren, heißt es in dem Bericht außerdem. Die Gelbwestenkrise befeuerte somit eine Entwicklung, den Niedergang des lokalen Einzelhandels, die sie selbst kritisierte.
All das hatte sich im Januar, knapp zwei Monate nach Beginn der Proteste, schon abgezeichnet. Präsident Emmanuel Macron suchte fieberhaft einen Ausweg aus der Krise, nachdem seine Dezember-Ankündigungen ins Leere gelaufen waren.
Große Debatte zwischen Regierung und Bürgern
Macron beschloss, auf Tuchfühlung zu gehen, mit einer großen, nationalen Debatte. Zwischen Januar und April fanden auf Anregung des Präsidenten im ganzen Land Tausende Zusammenkünfte von Bürgerinnen und Bürgern statt, organisiert von Privatleuten, Bürgermeistern, Abgeordneten.
Und der Präsident stieg auch mehr als ein Dutzend Mal selbst in die Arena. Mehrere Stunden am Stück durften die Gäste den Präsidenten mit ihren Fragen löchern, ihren Sorgen konfrontieren. Der nutzte die Gelegenheit, mit faszinierender Detailkenntnis jeden noch so abgelegenen Winkel seiner Politik zu beleuchten. Im Laufe mehrerer Monate besuchte Macron Debatten in allen Regionen des Landes.
Bei Priscillia Ludosky, einer der Gründermütter der Gelbwestenbewegung, vermochte Macron - ebenso wie bei vielen ihrer Mitstreiter - damit jedoch kaum zu punkten:
"Die große Debatte war für mich nichts als eine Kommunikationskampagne des Präsidenten für die Europawahl. Es war nur zu offensichtlich, dass er sich für seine Debatten seine Themen ausgesucht und sogar die Gäste ausgewählt hat, dass er im Wahlkampfmodus war, im Mittelpunkt stand. Tatsächlich waren es ja gar keine echten Debatten."
Der Präsident sah das naturgemäß anders. Als Emmanuel Macron Ende April nach mehreren Monaten der "großen nationalen Debatte" vor der Presse eine umfassende Bilanz zog, gab er sich und seine Politik geläutert.
"Angesichts des Gefühls der Ungerechtigkeit muss unsere Antwort sein, den Menschen ins Zentrum unseres Projektes zu stellen, viel mehr, als wir das bisher getan haben. Unser nationales Projekt muss gerechter, menschlicher sein, um die Menschen zusammenzubringen und zu einen."
An seiner Reformpolitik wolle er allerdings festhalten, kündigte Macron an. Aber er wolle sie besser erklären. Weniger Zeit in Paris, dafür mehr Zeit mit Bürgerinnen und Bürgern im Land verbringen, ihnen zuhören. Auch neue Wege der Bürgerbeteiligung in politischen Prozessen ausprobieren.
Gelbwesten erreichten nicht mal ein Prozent bei EU-Wahl
Die Strategie schien Früchte zu tragen. Quasi von Samstag zu Samstag fanden sich weniger Menschen in gelben Westen auf den Straßen des Landes zusammen. Bei der Europawahl Ende Mai erreichten die beiden Listen, die sich auf die Gelbwesten und ihre Forderungen beriefen, zusammen nicht einmal ein Prozent der Stimmen.
Auch die Populisten rechts und links, die vergeblich versucht hatten, die Gelbwesten zu vereinnahmen, konnten von der Bewegung nicht profitieren.
Hat Emmanuel Macron mit seiner großen, nationalen Debatte, mit etwas mehr Bürgernähe und einigen wenigen Zugeständnissen bei Steuern und Mindestlöhnen etwa, jetzt, gut ein Jahr nach Beginn der Gelbwestenbewegung, die Krise also hinter sich gelassen? Der Politikwissenschaftler Bruno Cautrès ist da eher skeptisch.
"Die Maßnahmen, die Macron zum Ende der großen Debatte verkündet hat, haben jedenfalls keinen großen Einfluss auf das Alltagsleben der Franzosen. Ich glaube nicht, dass die Gründe, die zu dieser Krise geführt haben, verschwunden sind."
Auch Jacline Mouraud und Priscillia Ludosky, die beiden Mitbegründerinnen der Gelbwestenbewegung, haben nicht das Gefühl, dass Präsident Macron eine echte Antwort auf die Probleme gegeben hat, die die Gelbwesten angeprangert haben und immer noch anprangern. Die Wut sei weiterhin da.
Trotzdem hat die Kosmetikerin Ludosky nicht das Gefühl, dass der Protest vergebens gewesen ist. Ihr eigenes Leben hat das vergangene Jahr jedenfalls komplett verändert:
"Ich war mitten in der Ausbildung zur Aromatherapeutin, aber habe das ganze Jahr nichts dafür gemacht. Bis April, Mai war ich zu 300 Prozent Gelbweste. Danach habe ich mich in Bürgerprojekten engagiert. Ich sehe zwar keine Zukunft für diese Bewegung, aber ich sehe verschiedene Projekte, die die Dinge ändern werden. Ich zum Beispiel arbeite gerade in einer Gruppe, die eine Lobby für die Bürger aufbauen wird, von Bürgern, ohne in eine Partei oder einen Verein eintreten zu müssen. Mit der kämpfen wir erstmal lokal und später national."
Jacline Mouraud ist viel auf Achse. Die Akkordeonspielerin aus der Bretagne wird in ganz Frankreich zu Diskussionen und Vorträgen eingeladen. Selbst die mächtige Arbeitgebervereinigung Medef wollte von ihr wissen, woher die Gelbwestenbewegung kam und was die Wirtschaft daraus für Lehren ziehen kann. Trotz der Gewalt und vielem, was schiefgelaufen sei: Die Gelbwestenbewegung habe das Land, habe Frankreich grundlegend verändert, meint Jacline Mouraud.
"Ich glaube, auf dem Land sind die Leute jetzt tatsächlich solidarischer miteinander. Die Leute haben sich einfach getroffen – ich habe viele Menschen kennengelernt, die ich nicht getroffen hätte, wenn es die Bewegung nicht gegeben hätte. Jetzt reden die Menschen wieder miteinander. Das ist eine sehr positive Seite. Es ist eine Bewegung, die in die französischen Geschichtsbücher eingehen wird. Daran führt gar kein Weg vorbei."