Ein Jahrhundert-Briefwechsel
Die Philosophin Hannah Arendt und der Historiker Joachim Fest galten als herausragende Intellektuelle des 20. Jahrhunderts. Der nun herausgebrachte Briefwechsel zwischen den beiden erleichtert es, das Wesen ihrer Zeit zu begreifen.
Die Beziehung zwischen Hannah Arendt und Joachim Fest war ein Glücksfall in der Geschichte der deutschen Nachkriegsintellektualität. Jenseits aller einfältigen Schul- und Frontenbildung, die allzu oft nur das Produkt gedanklicher Inflexibilität und Defizienz sind, fanden hier zwei wahrhaft philosophische Köpfe in einem souveränen Ideenaustausch zueinander. Mit der Publikation ihres schmalen, aber aufschlussreichen Briefwechsels sowie des berühmten Rundfunkgesprächs aus dem Jahr 1964, dessen Tonspur verschollen ist, machen die Herausgeber Ursula Ludz und Thomas Wild, beides bewährte Arendtforscher, diesen Austausch endlich einer breiten Öffentlichkeit zugänglich.
Als Fest und Arendt Ende 1964 die ersten Briefe miteinander wechseln, liegt hinter ihnen das Schicksalsjahr 1963. Fest veröffentlicht sein erstes Buch, "Das Gesicht des Dritten Reiches", ein Standardwerk, das seinen bis heute andauernden publizistischen Ruhm legitim begründet; Arendt aber veröffentlicht "Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen" - jenes Buch, das Hannah Arendt zwar endgültig weltberühmt macht; das sie aber auch in vordem ungeahntem Ausmaß zur Zielscheibe von Kritik und Verleumdung werden lässt.
Eichmanns Banalität ist strenggenommen auch das Thema des vorliegenden Buches. Es zerfällt in drei Teile: jenes Rundfunkgespräch, dann 17 Briefe und zuletzt vier zeitgenössische Dokumente zur Eichmannkontroverse, darunter die kritische Rezension von Golo Mann und die Verteidigungsschrift der Arendt-Freundin Mary McCarthy. Die Erkenntnis, dass "das Böse sich heute nicht in außergewöhnlichen Erscheinungen manifestiert, dass kein Cesare Borgia dazu vonnöten, sondern schon ein Eichmann [ ... ] ausreichend ist", bildet für Fest den Ausgang seiner Interviewanfrage an die 20 Jahre Ältere Hannah Arendt im August 1964. Das Gespräch wurde am 9. November im Südwestfunk ausgestrahlt, nur zehn Tage nach dem berühmteren, aber weniger tiefgründigen Fernsehinterview mit Günter Gaus. Stand bei Gaus die Person Arendt im Vordergrund, so geht es bei Fest um das tiefere Wesen ihrer Rede von der "Banalität des Bösen".
Arendt: "Wenn ich sage: 'Das ist doch kein typischer Mörder', dann meine ich doch nicht, dass er was Besseres ist. Sondern was ich meine, ist, dass er etwas unendlich Schlimmeres ist, obwohl er gar keine eigentlich - was wir nennen - 'verbrecherischen Instinkte' [hat]. Er ist in die Sache reingerutscht."
Hineinrutschen ist das richtige Wort, denn es bezeichnet eben jene epochenspezifische geistige Standlosigkeit, die Voraussetzung ist für die totale Negation des Menschseins, die von Hitler und seinem Regime betrieben wurde. Ihre Analyse führt Arendt zum Kantischen Pflichtbegriff, der eben nicht - auch wenn ausgerechnet Eichmann sich darauf berief - eine kategorische Trennung zwischen einer ungreifbaren transzendentalen Idee des Guten und einer, moralisch unverbindlichen, diesseitigen Gesetzlichkeit behauptet. Im Gegenteil:
Arendt: "Kants ganze Moral läuft doch darauf hinaus, dass jeder Mensch bei jeder Handlung sich selbst überlegen muss, ob die Maxime seines Handelns zum allgemeinen Gesetz werden kann. [ ... ] Es ist ja gerade sozusagen das extrem Umgekehrte des Gehorsams! Jeder ist Gesetzgeber. Kein Mensch hat bei Kant das Recht zu gehorchen."
Eben dieses "Recht zu gehorchen" aber nahm Eichmann für sich in Anspruch - weniger aus Berechung oder Bosheit, als aus dem bequemen Unwillen, sich über die moralische Qualität seines Tuns selbständig Gedanken zu machen. "Statt Eichmanns Verhalten", das erkennen auch die Herausgeber in ihrem Vorwort, mit "(sozial-) psychologischen Theoremen [ ... ] wegzuerklären, lenkt Arendt das Augenmerk auf ein grundsätzliches [ ... ] Problem: das Funktionieren der menschlichen Urteilskraft" einerseits; und andererseits die fatale "Kombination aus Wirklichkeitsverweigerung [ ... ] und Verantwortungslosigkeit", die auftritt, wenn jene Urteilskraft nicht mehr funktioniert.
Das gleiche Muster wie bei Eichmann weist dann Fest, (als er den Briefwechsel nach fünfjähriger Unterbrechung 1969 wieder aufnimmt,) an einem anderen prominenten NS-Funktionär nach: Albert Speer, Rüstungsdiktator und Lieblingsarchitekt des "Führers".
Fest: "Man kann wohl nicht sagen, Speer habe sich korrumpieren lassen, denn er hat für Hitler keine Wertbegriffe aufgegeben. Er ging auch seinen eigenen Einfällen nicht ins Garn, denn er hatte [ ... ] wohl gar keine. Vielmehr hat der Hitler [ ... ] ihn einfach erobert und besetzt, und Speer hatte ihm nichts entgegenzusetzen."
Auch hier also wieder ein "Hineinrutschen", ein Besetzwerden durch das Böse nicht aus Fehlorientierung, sondern schlicht aus Nichtorientierung. Das ist es, was Hannah Arendt mit der "Banalität des Bösen" sagen wollte (und was man übrigens auch schon ihren früheren Schriften über die totale Herrschaft und das tätige Leben hätte entnehmen können); und das ist es auch, was ihrer moralischen Maxime zugrunde liegt, die sie in diesem Gespräch so klar und eindeutig wie nirgends sonst formuliert:
Arendt: "Es gab eine Alternative, hüben und drüben, und die hieß: nicht mitmachen, selber urteilen: 'Bitte schön ..., das mach' ich nicht mit. Ich [ ... ] versuche zu entkommen, ich versuche, wie ich um die andere Ecke komme.' Nicht wahr? 'Aber ich mache nicht mit. Und falls ich gezwungen sein sollte mitzumachen, dann werde ich mir das Leben nehmen.' Diese Möglichkeit gab es. Dazu gehörte, dass man nicht Wir sagt, sondern dass man Ich sagt, dass man selbst urteilt."
Dieses 'Ich' sagen aber, das auch den eigenen Tod in Kauf nimmt, erfordert Isolation, ein freiwilliges sich herausziehen aus der Welt, kurz: den Mut zur Weltlosigkeit, einer Weltlosigkeit übrigens, die Joachim Fest in der Haltung seiner eigenen Familie in der NS-Zeit wiedererkannt haben mochte. Das extreme Gegenteil dieser Weltlosigkeit ist freilich die Dummheit dessen, der sich zum Handlanger von Verbrechen erniedrigt, an die er nicht einmal glaubt:
Arendt: "Aber die Dummheit hat etwas wirklich Empörendes [ ... ] Eichmann war ganz intelligent, aber diese Dummheit hatte er. Das war die Dummheit, die so empörend war. Und das habe ich eigentlich gemeint mit der Banalität. Da ist keine Tiefe - das ist nicht dämonisch!"
Genau diese Erkenntnis steht auch am Schluss von Fests monumentaler Hitler-Biografie. Und mit dem Dank der "lieben und verehrten Frau Arendt" an den "lieben Joachim Fest" für die Übersendung ebendieses Buches nach seinem Erscheinen im Dezember 1973 schließt auch der Briefwechsel; ein Briefwechsel, in dem Fest sich nicht nur als "besonders geeigneter Gesprächspartner", sondern als Seelenverwandter gezeigt hatte; ein in Bildung, Haltung und wohl auch Charakter Ebenbürtiger. In Fest fand Arendt, was sie bis heute bei ihren Kritikern, aber leider auch bei ihren zahlreichen akademischen und nicht-akademischen, "Fans" selten findet: einen Menschen, der ihrem Gedankenflug folgen konnte; der ihrem geistesgeschichtlichen, phänomenologischen und hermeneutischen Genie wirklich gewachsen war.
Noch in einem persönlichen Gespräch wenige Jahre vor seinem Tod im Jahr 2006 konnte ich die tiefe Bewunderung und Dankbarkeit spüren, die Joachim Fest zeitlebens seinem intellektuellen (und übrigens auch literarischen) Vorbild Hannah Arendt entgegenbrachte. Beide, die Philosophin und der Historiker, blieben auch nach ihrem Tod akademische Außenseiter; doch das ist in Deutschland nicht verwunderlich. Wer immer aber die Geschichte des 20. Jahrhunderts und was ihr vorausging in ihrem Wesen verstehen will, der wird in diesen beiden seine wahren Wegbegleiter finden. Das vorliegende Buch wird dafür allemal ein gutes Brevier abgeben.
Hannah Arendt, Joachim Fest: Eichmann war von empörender Dummheit. Gespräche und Briefe.
Hrsg. Ursula Ludz & Thomas Wild
Piper Verlag, München 2011
Als Fest und Arendt Ende 1964 die ersten Briefe miteinander wechseln, liegt hinter ihnen das Schicksalsjahr 1963. Fest veröffentlicht sein erstes Buch, "Das Gesicht des Dritten Reiches", ein Standardwerk, das seinen bis heute andauernden publizistischen Ruhm legitim begründet; Arendt aber veröffentlicht "Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen" - jenes Buch, das Hannah Arendt zwar endgültig weltberühmt macht; das sie aber auch in vordem ungeahntem Ausmaß zur Zielscheibe von Kritik und Verleumdung werden lässt.
Eichmanns Banalität ist strenggenommen auch das Thema des vorliegenden Buches. Es zerfällt in drei Teile: jenes Rundfunkgespräch, dann 17 Briefe und zuletzt vier zeitgenössische Dokumente zur Eichmannkontroverse, darunter die kritische Rezension von Golo Mann und die Verteidigungsschrift der Arendt-Freundin Mary McCarthy. Die Erkenntnis, dass "das Böse sich heute nicht in außergewöhnlichen Erscheinungen manifestiert, dass kein Cesare Borgia dazu vonnöten, sondern schon ein Eichmann [ ... ] ausreichend ist", bildet für Fest den Ausgang seiner Interviewanfrage an die 20 Jahre Ältere Hannah Arendt im August 1964. Das Gespräch wurde am 9. November im Südwestfunk ausgestrahlt, nur zehn Tage nach dem berühmteren, aber weniger tiefgründigen Fernsehinterview mit Günter Gaus. Stand bei Gaus die Person Arendt im Vordergrund, so geht es bei Fest um das tiefere Wesen ihrer Rede von der "Banalität des Bösen".
Arendt: "Wenn ich sage: 'Das ist doch kein typischer Mörder', dann meine ich doch nicht, dass er was Besseres ist. Sondern was ich meine, ist, dass er etwas unendlich Schlimmeres ist, obwohl er gar keine eigentlich - was wir nennen - 'verbrecherischen Instinkte' [hat]. Er ist in die Sache reingerutscht."
Hineinrutschen ist das richtige Wort, denn es bezeichnet eben jene epochenspezifische geistige Standlosigkeit, die Voraussetzung ist für die totale Negation des Menschseins, die von Hitler und seinem Regime betrieben wurde. Ihre Analyse führt Arendt zum Kantischen Pflichtbegriff, der eben nicht - auch wenn ausgerechnet Eichmann sich darauf berief - eine kategorische Trennung zwischen einer ungreifbaren transzendentalen Idee des Guten und einer, moralisch unverbindlichen, diesseitigen Gesetzlichkeit behauptet. Im Gegenteil:
Arendt: "Kants ganze Moral läuft doch darauf hinaus, dass jeder Mensch bei jeder Handlung sich selbst überlegen muss, ob die Maxime seines Handelns zum allgemeinen Gesetz werden kann. [ ... ] Es ist ja gerade sozusagen das extrem Umgekehrte des Gehorsams! Jeder ist Gesetzgeber. Kein Mensch hat bei Kant das Recht zu gehorchen."
Eben dieses "Recht zu gehorchen" aber nahm Eichmann für sich in Anspruch - weniger aus Berechung oder Bosheit, als aus dem bequemen Unwillen, sich über die moralische Qualität seines Tuns selbständig Gedanken zu machen. "Statt Eichmanns Verhalten", das erkennen auch die Herausgeber in ihrem Vorwort, mit "(sozial-) psychologischen Theoremen [ ... ] wegzuerklären, lenkt Arendt das Augenmerk auf ein grundsätzliches [ ... ] Problem: das Funktionieren der menschlichen Urteilskraft" einerseits; und andererseits die fatale "Kombination aus Wirklichkeitsverweigerung [ ... ] und Verantwortungslosigkeit", die auftritt, wenn jene Urteilskraft nicht mehr funktioniert.
Das gleiche Muster wie bei Eichmann weist dann Fest, (als er den Briefwechsel nach fünfjähriger Unterbrechung 1969 wieder aufnimmt,) an einem anderen prominenten NS-Funktionär nach: Albert Speer, Rüstungsdiktator und Lieblingsarchitekt des "Führers".
Fest: "Man kann wohl nicht sagen, Speer habe sich korrumpieren lassen, denn er hat für Hitler keine Wertbegriffe aufgegeben. Er ging auch seinen eigenen Einfällen nicht ins Garn, denn er hatte [ ... ] wohl gar keine. Vielmehr hat der Hitler [ ... ] ihn einfach erobert und besetzt, und Speer hatte ihm nichts entgegenzusetzen."
Auch hier also wieder ein "Hineinrutschen", ein Besetzwerden durch das Böse nicht aus Fehlorientierung, sondern schlicht aus Nichtorientierung. Das ist es, was Hannah Arendt mit der "Banalität des Bösen" sagen wollte (und was man übrigens auch schon ihren früheren Schriften über die totale Herrschaft und das tätige Leben hätte entnehmen können); und das ist es auch, was ihrer moralischen Maxime zugrunde liegt, die sie in diesem Gespräch so klar und eindeutig wie nirgends sonst formuliert:
Arendt: "Es gab eine Alternative, hüben und drüben, und die hieß: nicht mitmachen, selber urteilen: 'Bitte schön ..., das mach' ich nicht mit. Ich [ ... ] versuche zu entkommen, ich versuche, wie ich um die andere Ecke komme.' Nicht wahr? 'Aber ich mache nicht mit. Und falls ich gezwungen sein sollte mitzumachen, dann werde ich mir das Leben nehmen.' Diese Möglichkeit gab es. Dazu gehörte, dass man nicht Wir sagt, sondern dass man Ich sagt, dass man selbst urteilt."
Dieses 'Ich' sagen aber, das auch den eigenen Tod in Kauf nimmt, erfordert Isolation, ein freiwilliges sich herausziehen aus der Welt, kurz: den Mut zur Weltlosigkeit, einer Weltlosigkeit übrigens, die Joachim Fest in der Haltung seiner eigenen Familie in der NS-Zeit wiedererkannt haben mochte. Das extreme Gegenteil dieser Weltlosigkeit ist freilich die Dummheit dessen, der sich zum Handlanger von Verbrechen erniedrigt, an die er nicht einmal glaubt:
Arendt: "Aber die Dummheit hat etwas wirklich Empörendes [ ... ] Eichmann war ganz intelligent, aber diese Dummheit hatte er. Das war die Dummheit, die so empörend war. Und das habe ich eigentlich gemeint mit der Banalität. Da ist keine Tiefe - das ist nicht dämonisch!"
Genau diese Erkenntnis steht auch am Schluss von Fests monumentaler Hitler-Biografie. Und mit dem Dank der "lieben und verehrten Frau Arendt" an den "lieben Joachim Fest" für die Übersendung ebendieses Buches nach seinem Erscheinen im Dezember 1973 schließt auch der Briefwechsel; ein Briefwechsel, in dem Fest sich nicht nur als "besonders geeigneter Gesprächspartner", sondern als Seelenverwandter gezeigt hatte; ein in Bildung, Haltung und wohl auch Charakter Ebenbürtiger. In Fest fand Arendt, was sie bis heute bei ihren Kritikern, aber leider auch bei ihren zahlreichen akademischen und nicht-akademischen, "Fans" selten findet: einen Menschen, der ihrem Gedankenflug folgen konnte; der ihrem geistesgeschichtlichen, phänomenologischen und hermeneutischen Genie wirklich gewachsen war.
Noch in einem persönlichen Gespräch wenige Jahre vor seinem Tod im Jahr 2006 konnte ich die tiefe Bewunderung und Dankbarkeit spüren, die Joachim Fest zeitlebens seinem intellektuellen (und übrigens auch literarischen) Vorbild Hannah Arendt entgegenbrachte. Beide, die Philosophin und der Historiker, blieben auch nach ihrem Tod akademische Außenseiter; doch das ist in Deutschland nicht verwunderlich. Wer immer aber die Geschichte des 20. Jahrhunderts und was ihr vorausging in ihrem Wesen verstehen will, der wird in diesen beiden seine wahren Wegbegleiter finden. Das vorliegende Buch wird dafür allemal ein gutes Brevier abgeben.
Hannah Arendt, Joachim Fest: Eichmann war von empörender Dummheit. Gespräche und Briefe.
Hrsg. Ursula Ludz & Thomas Wild
Piper Verlag, München 2011