Ein Jahrhundertroman, zwei Interpretationen

"Der große Gatsby" rangiert auf Platz 2 der Liste der 100 besten englischsprachigen Romane und soll demnächst in 3D neuverfilmt werden. Das hat gleich zwei Audio-Verlage dazu veranlasst, das Werk als Hörbuch auf den Markt zu bringen.
"Die Sommernächte hindurch drang Musik aus dem Haus meines Nachbarn. In seinen blauen Gärten schwirrten Männer und junge Mädchen wie Falter zwischen dem Geflüster und dem Champagner und den Sternen umher."

Long Island, 1922: Die High Society amüsiert sich. Auf der Suche nach Sex und Zerstreuung findet sich allabendlich in der prächtigen Villa Jay Gatsbys der Geldadel New Yorks ein, Glamour-Girls und Wirtschaftsbosse, Hollywoodstars und Habenichtse.

"Die Luft vibriert, die Lichter werden heller, je weiter die Erde von der Sonne forttaumelt. Das Orchester spielt goldgelbe Cocktailmusik, und die Stimmenoper rutscht eine Tonlage höher. Das Gelächter perlt von Minute zu Minute leichter, schon ein launiges Wort genügt, und es fließt in verschwenderischen Strömen."

Über den Gastgeber sind die wildesten Gerüchte in Umlauf. Keiner weiß, woher er kommt und wie er zu seinem Reichtum gelangte. Doch jeder ist beeindruckt. Dass Gatsby mit seiner aus dem Nichts geschaffenen, märchenhaften Existenz nur ein einziges Ziel verfolgt, ahnt freilich niemand. Er will die große Liebe seiner Jugend zurückgewinnen, Daisy, die einst an seiner Stelle einen reichen Erben heiratete, weil er, Gatsby, damals nur ein armer Schlucker war. Dafür benutzt er alles und alle, ergaunert in sinistren Geschäften ein Vermögen und mimt mit bezwingendem Charme den Mann von Welt.
"Er lächelte verständnisvoll – ja, mehr als verständnisvoll."

Gert Heidenreich ist ein verhaltener Interpret der Stimmungen. Geschmeidig passt er sich der Übersetzung von Bettina Abarbanell an, die mit ihren melodiösen Satzkaskaden geradezu ideal den Klang des Originaltextes nachzeichnet.

"Es war ein so besonderes Lächeln, wie es einem vielleicht vier oder fünf Mal im Leben zuteil werden mag, ein Lächeln, das einem für alle Ewigkeit Mut zusprach. Es nahm – so schien es wenigstens – für einen Moment die gesamte äußere Welt in Blick und konzentrierte sich dann mit unwiderstehlicher Voreingenommenheit ganz und gar auf einen selbst."
Mit seiner eleganten Sprechkunst schmeckt Heidenreich das Aroma des melancholischen Grundtons in dieser Parabel auf den schönen Schein noch einmal ab. Er liest ruhig, kühl, mit nur angedeuteten Positionswechseln, und damit umso wirkungsmächtiger. Denn er schafft es mit gutem Gespür, die Zwischentöne im Geflecht der Beziehungen hörbar zu machen.

"'Ich würde nicht zu viel von ihr erwarten', wagte ich ihm zu raten. 'Man kann die Vergangenheit nicht wiederholen.' – 'Die Vergangenheit nicht wiederholen?', rief er ungläubig. 'Aber natürlich kann man das!'"

Burkhardt Klaußner hingegen setzt die Geschichte des Emporkömmlings, der korrupt wurde aus lauter Liebe, als Ein-Mann-Theater in Szene. Die schnellen Perspektivwechsel, Fitzgeralds bewusst gesetzte stilistische Brüche, die in der Neuübersetzung von Lutz-W. Wolff noch bizarrer, surrealer erscheinen, werden durch dramaturgisch wohlbedachte Pausen rhythmisiert, als wären es harte Filmschnitte.
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"'Mein Haus sieht gut aus, nicht wahr?', fragte er. 'Sehen Sie mal, wie die Vorderseite das Sonnenlicht einfängt.' Ich bestätigte ihm, dass es großartig aussah. – 'Ja.' Seine Augen wanderten darüber hin, über jeden gewölbten Fensterbogen und eckigen Turm. 'Ich habe bloß drei Jahre gebraucht, um das Geld dafür zu verdienen.'"

Klaußner dramatisiert das Geschehen, er schlüpft in alle Rollen, versucht jeder Figur einen eigenen Klangkörper zu geben – Daisy ist kapriziös und kalt, deren Ehemann ein polternder Egoist, der Ich-Erzähler staunend-abgebrüht. Nur Gatsby selbst misslingt.

"Sagen Sie mal, alter Junge, was haben Sie für eine Meinung von mir?"

Der Mann, der Berge versetzt um der Liebe willen, müsste über mehr Register als nur das eines heiseren Raubeins verfügen. Dennoch ist die temporeiche Interpretation Klaußners von eigenem, von boulevardeskem Reiz.
"Noch ehe ich antworten konnte, kam Daisy aus dem Haus. Die beiden Reihen von Messingknöpfen an ihrem Kleid glänzten im Sonnenlicht. – 'Der Riesenpalast da?', rief sie und zeigte darauf. – 'Gefällt er dir?' – 'Ich liebe ihn, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass du da ganz allein wohnst.' – 'Ich sorge immer dafür, dass er voller interessanter Leute ist, Tag und Nacht. Leute, die interessante Sachen machen. Berühmte Leute.'"

Am Ende liegt Gatsby tot in seinem Swimmingpool, die Party ist vorbei. Der sprichwörtlich amerikanische Traum auch. Ein Jahrhundertroman, zwei Interpretationen: Klaußners Achterbahnfahrt durch ein wildes Leben, Heidenreichs melancholischer Nachruf auf die "lost generation", eine verlorene Generation. Dass man dieser schönen Vergeblichkeit gleich zweimal hinterher hören kann, ist ein Glück, das nicht oft vorkommt. Ein Glück, das man kaufen kann.

Besprochen von Edelgard Abenstein

F. Scott Fitzgerald: Der große Gatsby
Übersetzt von Bettina Abarbanell
Gelesen von Gert Heidenreich
Diogenes Hörbuch, Zürich 2011
5 CDs, 31,90 Euro

F. Scott Fitzgerald: Der große Gatsby
Übersetzt von Lutz-W. Wolff
Gelesen von Burghart Klaußner
Hörbuch Hamburg, Hamburg 2011
5 CDs, 19,95 Euro
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