Ein Jahrhundertwerk
Die Anthologie zum Hören bietet eine Sammlung von deutschsprachigen Gedichten aus den letzten 100 Jahren. Sie werden von den Autorinnen und Autoren wie Ingeborg Bachmann oder Michael Lentz selbst gelesen. "Lyrikstimmen" wurde als "Hörbuch des Jahres 2009" ausgezeichnet.
"Manche freilich müssen drunten sterben, wo die schweren Ruder der Schiffe streifen."
Keine Frage, ein Dichter spricht, und was da so rauscht und knarzt, ist die Vergangenheit selber. Die Aufnahme stammt nämlich aus dem Jahre 1907 und ist das erste lyrische Tondokument überhaupt. Hugo von Hofmannsthal rezitiert hier sein berühmtestes Gedicht "Manche freilich..". Seine Stimme klingt, als käme sie von einem anderen Stern und würde durch einen Zeittunnel direkt an unser Ohr gebeamt.
"Ganz vergessener Völker Müdigkeiten kann ich nicht abtun von meinen Lidern."
Aufnahmen wie diese, die aus den Anfängen des letzten Jahrhunderts stammen, sind wahre Fundstücke. Auch wenn der hohe Ton des Vortrags heutzutage befremden mag, kommt beim Hören doch fast so etwas wie Aura auf. Ob Alfred Kerr oder Ricarda Huch, Hermann Hesse - ihre Stimmen transportieren nicht nur Moden ihrer Epoche in die Gegenwart, expressionistisches Stimmentheater, grundiert vom gewittrig grollenden "R", das seinerzeit alle Bühnen beherrschte:
"Erheitert sich doch das Gemüt durch die Aussicht, es könne künftig besser werden"
Sie tragen obendrein im Pathos dieses Singsangs, in dem sogar der Spötter Karl Kraus sprach, das Selbstverständnis des Dichters vor sich her: Der gefällt sich da noch in seiner altbewährten Rolle, als Seher, Prediger und moralische Instanz, während Kabarett und Nonsense-Poesie mit Ringelnatz' Kuddel Daddeldu schon keck an der Stimmungsschraube drehen.
"Die Badewanne prahlte sehr, sie hielt sich für das Mittelmeer. Und ihre eine Seitenwand für Helgoländer Küstenland ... .Sie war – nicht wahr, das merken Sie? Sehr schwach in der Geographie."
Mit Haupt- und Seitenwegen fächern die "Lyrikstimmen" das ganze Jahrhundert auf. Sie veranschaulichen poetische Umbrüche und Traditionslinien, formale Experimente und dadaistische Negationen. Auch Politisches aller Art verschafft sich Gehör. Der Formen sind mannigfache. Manche, wie die Sprachartistik eines Ernst Jandl, oder Oskar Pastior sind besonders von der Vortragskunst ihrer Autoren abhängig. Dass diese ihre Vorbilder bei Kurt Schwitters und Hans Arp suchten, ist bekannt. Weniger geläufig aber ist, wie der bildende Künstler Raoul Hausmann den sprachlichen Klang schon gegen jeden Wortsinn ausspielt.
Wie die Lyrik nicht nur mit solchen Spielen ihr traditionelles Erb-Gen variiert, ihre nahe Verwandtschaft zur Musik, auch dies macht die akustische Lyrikkollektion aufs Schönste sinnfällig. Erlebt man hier doch weitaus mehr als die physikalische Stimme eines Autors. Man hört klangvolle Wortpartituren, weil Autoren so lesen wie sie schreiben, man hört Stimmungen, biographische Eigenarten und mundartliche Färbungen, immer auf dem basso continuo des jeweiligen Zeitgeistes. Kurzum: hörend erlebt man mehr als der Leser der Gedichte je erfahren könnte.
"Einsamer nie als im August: / Erfüllungsstunde - im Gelände /die roten und die goldenen Brände, /doch wo ist deiner Gärten Lust? ( ... ) Wo alles sich durch Glück beweist /und tauscht den Blick und tauscht die Ringe / im Weingeruch, im Rausch der Dinge -: /dienst du dem Gegenglück, dem Geist."
Zugegeben, es gibt bessere Vorleser als Gottfried Benn, wenn er seine Weltfluchtsapotheose vorträgt. Man hätte sich das schärfer und weniger sentimental gewünscht, genauso hartgekocht und kalt und ausgenüchtert, wie es dem Bild entspricht, das sich die Welt von "Big Benn" macht. Dass uns hier stattdessen ein altersmilder, leicht berlinernder Zeitgenosse entgegentritt, entbehrt nicht der Komik, wie überhaupt der Reiz dieser akustischen Bibliothek auch in ihren überraschenden Konstellationen liegt.
Da sie nach Geburtstagen der Autoren, nicht nach Erscheinungsjahren der Gedichte oder Aufnahmedaten geordnet ist, ergeben sich spannungsreiche Nachbarschaften.
"Hinter der Trommel her / trotten die Kälber / Das Fell für die Trommel liefern sie selber./ Der Metzger ruft. Die Augen fest geschlossen / das Kalb marschiert mit ruhig festem Tritt."
Hart im Raum stoßen sich die Balladen Brechts mit dem einzigen Tondokument des Nazidichters Josef Weinheber, Johannes R. Bechers Ode an Stalin trifft auf Hans Arps böse Posse "Kaspar ist tot". Natürlich fehlt auch einiges in dieser wunderbaren Edition: Morgenstern und Rilke etwa, Stefan George und Else Lasker-Schüler, von denen keine Originaltöne aufzuspüren waren. Gefunden hingegen wurde die einzige Lyrik-Aufnahme des noch jungen Thomas Bernhard, der in fast makellosem Hochdeutsch engelssanft zwei bisher unveröffentlichte Gedichte vorträgt.
"Erfinde eine Klage über mir und stampfe mich in den Winter."
Es gibt Stimmen, die immer wieder befremden, wie die taumelnd tonlose von Ingeborg Bachmann und es gibt solche, die sich mit professioneller Lust ins Wortgetümmel werfen wie die von Rühmkorf, Artmann oder Michael Lentz.
"Ende gut – Frage. Kann ich irgendetwas für dich tun, kann ich etwas für dich tun, kann ich was tun?"
Kein Zweifel: Die "100 Jahre Lyrik im Originalton" sind ein Klangporträt erster Güte und ein Glück für alle, für Liebhaber von Gedichten genauso wie für Lyrikneulinge.
Service:
Das gab's noch nie: eine Sammlung von deutschsprachigen Gedichten aus den letzten 100 Jahren, die von den Autorinnen und Autoren selbst gelesen wurden. In fünfjähriger Recherche haben die vier Herausgeber, Christiane Collorio, Peter Hamm, Harald Hartung und Michael Krüger, allesamt ausgewiesene Lyrikkenner, diese Anthologie aus Originaltönen zusammengetragen. Was die Suche bei Autoren, in Nachlässen, Rundfunkarchiven und Antiquariaten zutage förderte, ist buchstäblich ein Jahrhundertwerk: 420 Gedichte von 122 Autorinnen und Autoren auf neun CDs, Programm für zehn Stunden.
Besprochen von Edelgard Abenstein
Lyrikstimmen - Die Bibliothek der Poeten. 100 Jahre Lyrik im Originalton.
Herausgegeben von Christiane Collorio, Peter Hamm, Harald Hartung und Michael Krüger.
Der Hörverlag, München 2009
9 CDs, 638 Minuten, 49,95 Euro
Keine Frage, ein Dichter spricht, und was da so rauscht und knarzt, ist die Vergangenheit selber. Die Aufnahme stammt nämlich aus dem Jahre 1907 und ist das erste lyrische Tondokument überhaupt. Hugo von Hofmannsthal rezitiert hier sein berühmtestes Gedicht "Manche freilich..". Seine Stimme klingt, als käme sie von einem anderen Stern und würde durch einen Zeittunnel direkt an unser Ohr gebeamt.
"Ganz vergessener Völker Müdigkeiten kann ich nicht abtun von meinen Lidern."
Aufnahmen wie diese, die aus den Anfängen des letzten Jahrhunderts stammen, sind wahre Fundstücke. Auch wenn der hohe Ton des Vortrags heutzutage befremden mag, kommt beim Hören doch fast so etwas wie Aura auf. Ob Alfred Kerr oder Ricarda Huch, Hermann Hesse - ihre Stimmen transportieren nicht nur Moden ihrer Epoche in die Gegenwart, expressionistisches Stimmentheater, grundiert vom gewittrig grollenden "R", das seinerzeit alle Bühnen beherrschte:
"Erheitert sich doch das Gemüt durch die Aussicht, es könne künftig besser werden"
Sie tragen obendrein im Pathos dieses Singsangs, in dem sogar der Spötter Karl Kraus sprach, das Selbstverständnis des Dichters vor sich her: Der gefällt sich da noch in seiner altbewährten Rolle, als Seher, Prediger und moralische Instanz, während Kabarett und Nonsense-Poesie mit Ringelnatz' Kuddel Daddeldu schon keck an der Stimmungsschraube drehen.
"Die Badewanne prahlte sehr, sie hielt sich für das Mittelmeer. Und ihre eine Seitenwand für Helgoländer Küstenland ... .Sie war – nicht wahr, das merken Sie? Sehr schwach in der Geographie."
Mit Haupt- und Seitenwegen fächern die "Lyrikstimmen" das ganze Jahrhundert auf. Sie veranschaulichen poetische Umbrüche und Traditionslinien, formale Experimente und dadaistische Negationen. Auch Politisches aller Art verschafft sich Gehör. Der Formen sind mannigfache. Manche, wie die Sprachartistik eines Ernst Jandl, oder Oskar Pastior sind besonders von der Vortragskunst ihrer Autoren abhängig. Dass diese ihre Vorbilder bei Kurt Schwitters und Hans Arp suchten, ist bekannt. Weniger geläufig aber ist, wie der bildende Künstler Raoul Hausmann den sprachlichen Klang schon gegen jeden Wortsinn ausspielt.
Wie die Lyrik nicht nur mit solchen Spielen ihr traditionelles Erb-Gen variiert, ihre nahe Verwandtschaft zur Musik, auch dies macht die akustische Lyrikkollektion aufs Schönste sinnfällig. Erlebt man hier doch weitaus mehr als die physikalische Stimme eines Autors. Man hört klangvolle Wortpartituren, weil Autoren so lesen wie sie schreiben, man hört Stimmungen, biographische Eigenarten und mundartliche Färbungen, immer auf dem basso continuo des jeweiligen Zeitgeistes. Kurzum: hörend erlebt man mehr als der Leser der Gedichte je erfahren könnte.
"Einsamer nie als im August: / Erfüllungsstunde - im Gelände /die roten und die goldenen Brände, /doch wo ist deiner Gärten Lust? ( ... ) Wo alles sich durch Glück beweist /und tauscht den Blick und tauscht die Ringe / im Weingeruch, im Rausch der Dinge -: /dienst du dem Gegenglück, dem Geist."
Zugegeben, es gibt bessere Vorleser als Gottfried Benn, wenn er seine Weltfluchtsapotheose vorträgt. Man hätte sich das schärfer und weniger sentimental gewünscht, genauso hartgekocht und kalt und ausgenüchtert, wie es dem Bild entspricht, das sich die Welt von "Big Benn" macht. Dass uns hier stattdessen ein altersmilder, leicht berlinernder Zeitgenosse entgegentritt, entbehrt nicht der Komik, wie überhaupt der Reiz dieser akustischen Bibliothek auch in ihren überraschenden Konstellationen liegt.
Da sie nach Geburtstagen der Autoren, nicht nach Erscheinungsjahren der Gedichte oder Aufnahmedaten geordnet ist, ergeben sich spannungsreiche Nachbarschaften.
"Hinter der Trommel her / trotten die Kälber / Das Fell für die Trommel liefern sie selber./ Der Metzger ruft. Die Augen fest geschlossen / das Kalb marschiert mit ruhig festem Tritt."
Hart im Raum stoßen sich die Balladen Brechts mit dem einzigen Tondokument des Nazidichters Josef Weinheber, Johannes R. Bechers Ode an Stalin trifft auf Hans Arps böse Posse "Kaspar ist tot". Natürlich fehlt auch einiges in dieser wunderbaren Edition: Morgenstern und Rilke etwa, Stefan George und Else Lasker-Schüler, von denen keine Originaltöne aufzuspüren waren. Gefunden hingegen wurde die einzige Lyrik-Aufnahme des noch jungen Thomas Bernhard, der in fast makellosem Hochdeutsch engelssanft zwei bisher unveröffentlichte Gedichte vorträgt.
"Erfinde eine Klage über mir und stampfe mich in den Winter."
Es gibt Stimmen, die immer wieder befremden, wie die taumelnd tonlose von Ingeborg Bachmann und es gibt solche, die sich mit professioneller Lust ins Wortgetümmel werfen wie die von Rühmkorf, Artmann oder Michael Lentz.
"Ende gut – Frage. Kann ich irgendetwas für dich tun, kann ich etwas für dich tun, kann ich was tun?"
Kein Zweifel: Die "100 Jahre Lyrik im Originalton" sind ein Klangporträt erster Güte und ein Glück für alle, für Liebhaber von Gedichten genauso wie für Lyrikneulinge.
Service:
Das gab's noch nie: eine Sammlung von deutschsprachigen Gedichten aus den letzten 100 Jahren, die von den Autorinnen und Autoren selbst gelesen wurden. In fünfjähriger Recherche haben die vier Herausgeber, Christiane Collorio, Peter Hamm, Harald Hartung und Michael Krüger, allesamt ausgewiesene Lyrikkenner, diese Anthologie aus Originaltönen zusammengetragen. Was die Suche bei Autoren, in Nachlässen, Rundfunkarchiven und Antiquariaten zutage förderte, ist buchstäblich ein Jahrhundertwerk: 420 Gedichte von 122 Autorinnen und Autoren auf neun CDs, Programm für zehn Stunden.
Besprochen von Edelgard Abenstein
Lyrikstimmen - Die Bibliothek der Poeten. 100 Jahre Lyrik im Originalton.
Herausgegeben von Christiane Collorio, Peter Hamm, Harald Hartung und Michael Krüger.
Der Hörverlag, München 2009
9 CDs, 638 Minuten, 49,95 Euro