Ein kindlich kluger Glaube

Georg Magirius |
Der Glaube ist immer wieder Thema in Arnold Stadlers Werk. Sein neues Buch widmet er dem wichtigsten Symbol des Christentums: dem Kreuz. Anstoß dafür war eine Installation, ein mit Mullbinden verhülltes Kruzifix. Stadler schreibt über das Heilsame des Glaubens und über die Hoffnung, mit Gott verbunden zu sein.
Durchsage: "Werte Reisende, auf voraussichtlich Gleis neun erhält in wenigen Minuten Einfahrt verspäteter Intercity…"

Arnold Stadler: "Ich bin ja unterwegs nach Ithaka…"

Hauptbahnhof, Frankfurt am Main: Wer den Schriftsteller Arnold Stadler trifft, kann an dessen Romanfiguren denken, die oft Reisende sind – nicht nur im wörtlichen Sinn. Ithaka ist real, aber auch der legendäre Ziel- und Heimatort des Irrfahrers Odysseus. Dorthin zu wollen, sei etwas Urmenschliches, sagt Stadler. Für ihn sei das Reisen allerdings kein Irren, kein Hin- und Her-Geworfen-Werden, sondern eher ein Suchen, das von Wehmut und Erwartung bestimmt ist, einem durchaus religiösen Empfinden. In dem 2002 veröffentlichten Roman "Sehnsucht" sagt der Erzähler.

Ich war sehr einsam, schien mir der Letzte zu sein, der noch Hoffnung hatte, der noch seine Tage hatte, ein Verlangen, dass dies, was ich hatte und sah, nicht alles sein konnte.

Arnold Stadler wurde 1954 in Rast bei Meßkirch in Oberschwaben geboren, wo er auch heute lebt, einen zweiten Wohnsitz hat er im Wendland. Zunächst wollte er katholischer Priester werden, studierte Theologie in Rom und Freiburg, danach Germanistik, ehe er in den 1980er-Jahren mit dem Schreiben begann.

Kein Theologe im üblichen Sinn
1999 erhält er den Georg-Büchner-Preis, den renommiertesten deutschen Literaturpreis. Doch der Autor habe etwas vom Theologen geerbt, sagt er. So hat er biblische Psalmen ins Deutsche übertragen, womit er in den Kirchen bekannt geworden ist. Auch seine Promotion in Germanistik ist den Psalmen gewidmet, allerdings jenen im Werk von Bertolt Brecht und Paul Celan.
Im Jahr 2006 erhält Stadler die Ehrendoktorwürde der Freien Universität Berlin am Seminar für Katholische Theologie. Ein Theologe im üblichen Sinn allerdings sei er nicht, sagt Arnold Stadler.

"Die Theologen haben es ja nur intellektuell mit dem Glauben zu tun. Das ist meine Position. Ich bin insofern kein Theologe, auch wenn ich Theologie studiert habe und sogar abgeschlossen habe, das Studium. Aber ich würde mich doch lieber nicht unter die Theologen einreihen, wenn ich dann zu einer Fraktion geschlagen würde, die eher ihre Berechtigung aus einer Distanz zum Gegenstand bezieht, ich habe keine Distanz."

Das wird deutlich in seinem neuen Buch: "Da steht ein großes JA vor mir." Es geht um nicht weniger als das Symbol des Christentums, das Kreuz. Während heutige Theologen es zuweilen als ein überholtes Zeichen göttlicher Grausamkeit verstehen, ist es für Stadler zentral, allerdings nicht als sogenannter Lehrgegenstand.

Ausgangspunkt für das Buch ist stattdessen eine Erfahrung, die verstörend und heilsam ist: Stadler geht in die Evangelische Stadtkirche in Tuttlingen, sieht das Kruzifix, das heißt: Er sieht es gerade nicht, denn es ist verhüllt. Es handelt sich um eine Installation der Schweizer Künstlerin Margaret Marquardt, die den Leichnam Jesu und das Kreuz mit einer fast endlos anmutenden Mullbinde verhüllt hat. Daneben ein roter Lichtstrahl, der Oben und Unten miteinander verbindet.

Stadler: "Und das zwingende Wort, das sich mir aufdrängte, war ‚JA‘. Und ich sehe das wie ein Bild, irgendwie sehe ich das aufrecht vor mir stehen, auch ikonographisch, wie ein Kürzel. Das ist wie ein Kürzel, das ist für mich wie ein ‚Ja‘."

Dass das Kreuz anstößig war und ist, gehört von Anfang dazu. Hier aber: Durch das Verhüllen zeigt sich etwas. Das Verhüllen ist ein Zeigen. Diese Kunst hat es nicht mit Ästhetik, sondern mit Wahrheit, die uns so gezeigt wird, dass mir das verworfene Wort schön einfällt. (aus: "Da steht ein grosses JA vor mir. Zu einer Arbeit von Margaret Marquardt")

Stadler: "Da kehre ich zurück, intellektuell vielleicht völlig unabgesichert, aber dann auch vielleicht etwas mystisch begabt, damit meine ich mich, indem ich sage: Kinderglaube, ja, das ist doch etwas Schönes. Ich weiß nicht, dass man etwas Abwertendes mit dem Wort Kind verbinden könnte. also das ist doch eine Auszeichnung, Kinderglaube."

Ich lese die Bibel und alles nicht wie ein Wissenschaftler, nicht wie ein Sachbuch und schon gar nicht wie ein Jurist oder ein Zyniker (was auf dasselbe hinauslaufen mag, auf Rechthaberei, Nachweis von Fehlern und eindimensionales Lesen, als wäre dieser Text nichts als ein Text und eine Information und ein Inhalt, der als Gesetzesgrundlage, zur Formulierung von Gesetzen dienstbar zu machen wäre), sondern eher etwa so wie ein Kind, das lesen und glauben kann, wie ein Leser, wie einer also, der es noch für möglich hält, beim Lesen auf Wunder zu stoßen. ( aus: "Da steht ein grosses JA vor mir. Zu einer Arbeit von Margaret Marquardt")

Theologen, die nicht staunen können, sind ihm suspekt
Arnold Stadler nähert sich dem Glauben und auch dem Kreuz kindlich, aber nicht ungebildet. In sein neues Buch fließen faszinierend vielschichtig musikalische, kunstgeschichtliche, historische und theologische Kenntnisse ein. Diese aber münden immer wieder in ereignisartig einfachen Sätzen.

Die schönste Richtung, die es nach wie vor gibt, ist die Himmelsrichtung. ("Da steht ein grosses JA vor mir. Zu einer Arbeit von Margaret Marquardt")

Theologen, die nicht staunen können, sind ihm suspekt, all jene, die den Glauben und die Bibel auf technokratische, oft auf historisch-kritische Weise auseinandernehmen. So empfindet das wenigstens "Salvatore", die Hauptfigur in dem gleichnamigen Buch aus dem Jahr 2008: Salvatore ist ein – wie er sich selbst bezeichnet – "an den Theologen gescheiterter Theologe", "ein Linkshänder im Kopf", der freilich eine fantastische Begabung hat: Das Träumen, Hoffen, Glauben. Und – die Wut:

Die modernen Theologen hatten wie Automechaniker den Text zerstört, auseinandergenommen wie ein altes Auto, und gerade noch zwei Wörter Jesu waren übrig geblieben, welche diese Frisierer als "echt" gelten ließen: "abba" und "amen" – das war alles. Diese zwei Wörter blieben aus allen Evangelien zusammen übrig. Glaubte man den Theologen. Also pro Evangelium ein halbes Wort. Das war Salvatore entschieden zu wenig. (aus: "Salvatore")

Stadlers neuem Buch geht es um viel, ums Ganze, um das Heilsame des Glaubens. Der Band ist mit vielen Fotos versehen, die die Installation Margaret Marquardts in ein Gespräch mit den Gedanken des Autors treten lassen. Stadler hat ein Buch geschrieben, das auf kluge Weise einfach ist: Es handelt vom Menschen, der ein verletzbares und oft verletztes Wesen ist. Und von der Hoffnung darauf, verbunden zu werden und mit Gott verbunden zu sein.

Stadler: "Das ist eine Meditation im Anblick des Kreuzes. Ich habe alle kritischen Momente außer Acht gelassen. Die habe ich im Buch Salvatore noch berücksichtigt, da war es eine Auseinandersetzung auch in oftmals ganz polemischen Zuspitzungen. Aber mir geht es jetzt überhaupt nicht und ging es damals auch nicht, die historisch-kritische Exegese zu verwerfen. Ich wollte nur andeuten, mehr war das nicht, dass etwas nicht stimmen kann, wenn man die Geschichte der historisch-kritischen Theologie und das Ergebnis, das ist nämlich ein Negativ-Befund, vergegenwärtigt. Das ist mir zu wenig. Also ich neige eher – generell - dem Ja zu als dem Nein. Bin aber kein Optimist. Auch kein Pessimist, aber ich habe ein Bedürfnis, ‚Ja‘ sagen zu wollen und zu können. Und dieses Bedürfnis wird auf wunderbare Weise gerade in Bereichen dann gestillt, die religiöser Natur sind."


Arnold Stadler: Da steht ein großes JA vor mir. Zu einer Arbeit von Margaret Marquardt
Jung und Jung, Salzburg und Wien 2013
96 Seiten, 14 Euro
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