Ein Koffer voller Hoffnung
Roman Doblado kam vor über 50 Jahren als Gastarbeiter nach Deutschland - mit nichts weiter als einem Koffer voller Habseligkeiten. Von Integration sprach damals noch niemand, man wollte Arbeiter und keine Menschen. Doch viele der Arbeiter sind geblieben. Vor ihnen lag ein langer Weg in die Mitte der Gesellschaft.
Liebevoll streicht Roman Doblado mit den Händen über einen Koffer aus andalusischem Kiefernholz. Trotz mancher Schramme - das Erinnerungsstück glänzt poliert, die Scharniere sind noch immer geölt und wenn man den Koffer aufklappt, dann erblickt man im Deckel ein Bild der Gottesmutter.
"Ja, den hab ich selber gebaut vor 50 Jahren. Ich musste doch einen Koffer haben, um nach Deutschland zu reisen. Aber kaufen konnte ich damals keinen. Also habe ich ihn mir selbst gebaut. Und alle meine Hoffnung hineingesteckt und bin nach Deutschland gekommen."
Dieser Koffer gab dem Projekt der Archivare aus dem Kreis Gütersloh den Namen: "Ein Koffer voller Hoffnung". Sein Foto ziert Plakate und Prospekte als Werbung für das Projekt. Ein handgearbeitetes Stück: angefüllt mit Pässen, Aufenthalts- und Arbeitserlaubnisscheinen… Offizielle Dokumente, dürre Daten, Behördensprache. Aber man erfährt, dass richtiges Leben dahintersteckt, wenn man den Besitzern des Koffers und der Dokumente zuhört.
Den hölzernen Koffer hat sich Roman Doblado 1961 über Nacht zusammengezimmert, denn sein Entschluss, nach Deutschland zu gehen, entsteht aus einer Laune des Augenblicks. Gerade hatte er seine Militärzeit absolviert, Zukunftspläne hatte er aber noch nicht, als er mit seiner Freundin einen Spaziergang durch Madrid machte. Auf einem Platz plötzlich eine Riesenmenschenmenge - Ausrufer mit Megaphonen warben Arbeiter für Deutschland an.
"Tausende Menschen. Ich hab gefragt, was ist los. Alle wollen nach Alemania, arbeiten. Da mach ich mit. Ich probier Alemania. Meine Verlobte hat geweint ohne Ende."
Optimismus, Neugier auf die Welt, sicherlich eine bessere Bezahlung als zu Hause – das lockt den jungen Spanier. Für den 19-jährigen Gino Badagliacca aus Sizilien ist die Reise bittere Notwendigkeit, denn sein Start ins Berufsleben beginnt gleich mit Arbeitslosigkeit.
"…da habe ich gesagt, ohne Arbeit geht’s nicht. Da bin ich zum Arbeitsamt gegangen und da war ein Kumpel von mir und sagt, willst du nach Deutschland, kommst mit mir, Gelsenkirchen Zeche."
Das passt aber dem Vater nicht:
"…da gehst du nicht in Zeche, kannst du sterben da unten. Ich wieder zu Arbeitsamt, hörnse mal, möchte nach Deutschland. Ja, die werden da rekrutiert aus Italien nach Deutschland, dann fährst du nach Palermo, wirst untersucht und wenn alles klar ist, nimmst Koffer mit, fährst weiter nach Neapel und so ist passiert."
"Rekrutiert" ist der richtige Begriff. Die zukünftigen Gastarbeiter werden kurz nach ihren Kenntnissen gefragt – denn ein Ausbildungssystem wie in Deutschland gibt es ja in Europa sonst nicht. Dann folgt eine medizinische Untersuchung. Gino Badagliacca erlebt sie in Neapel:
"Da war ich zwei Tage und da wurden wir von deutschen Ärzten und Ärztinnen untersucht, nackig, wurde alles untersucht, sie können sich nicht vorstellen. Und zwei Tage später auf den Zug übern Brenner nach München und von München nach Gütersloh."
So schnell ging das damals – vorbereitende Kurse, Sprachunterricht? Keine Spur. Es wurden Arbeiter gebraucht…
"Ja, den hab ich selber gebaut vor 50 Jahren. Ich musste doch einen Koffer haben, um nach Deutschland zu reisen. Aber kaufen konnte ich damals keinen. Also habe ich ihn mir selbst gebaut. Und alle meine Hoffnung hineingesteckt und bin nach Deutschland gekommen."
Dieser Koffer gab dem Projekt der Archivare aus dem Kreis Gütersloh den Namen: "Ein Koffer voller Hoffnung". Sein Foto ziert Plakate und Prospekte als Werbung für das Projekt. Ein handgearbeitetes Stück: angefüllt mit Pässen, Aufenthalts- und Arbeitserlaubnisscheinen… Offizielle Dokumente, dürre Daten, Behördensprache. Aber man erfährt, dass richtiges Leben dahintersteckt, wenn man den Besitzern des Koffers und der Dokumente zuhört.
Den hölzernen Koffer hat sich Roman Doblado 1961 über Nacht zusammengezimmert, denn sein Entschluss, nach Deutschland zu gehen, entsteht aus einer Laune des Augenblicks. Gerade hatte er seine Militärzeit absolviert, Zukunftspläne hatte er aber noch nicht, als er mit seiner Freundin einen Spaziergang durch Madrid machte. Auf einem Platz plötzlich eine Riesenmenschenmenge - Ausrufer mit Megaphonen warben Arbeiter für Deutschland an.
"Tausende Menschen. Ich hab gefragt, was ist los. Alle wollen nach Alemania, arbeiten. Da mach ich mit. Ich probier Alemania. Meine Verlobte hat geweint ohne Ende."
Optimismus, Neugier auf die Welt, sicherlich eine bessere Bezahlung als zu Hause – das lockt den jungen Spanier. Für den 19-jährigen Gino Badagliacca aus Sizilien ist die Reise bittere Notwendigkeit, denn sein Start ins Berufsleben beginnt gleich mit Arbeitslosigkeit.
"…da habe ich gesagt, ohne Arbeit geht’s nicht. Da bin ich zum Arbeitsamt gegangen und da war ein Kumpel von mir und sagt, willst du nach Deutschland, kommst mit mir, Gelsenkirchen Zeche."
Das passt aber dem Vater nicht:
"…da gehst du nicht in Zeche, kannst du sterben da unten. Ich wieder zu Arbeitsamt, hörnse mal, möchte nach Deutschland. Ja, die werden da rekrutiert aus Italien nach Deutschland, dann fährst du nach Palermo, wirst untersucht und wenn alles klar ist, nimmst Koffer mit, fährst weiter nach Neapel und so ist passiert."
"Rekrutiert" ist der richtige Begriff. Die zukünftigen Gastarbeiter werden kurz nach ihren Kenntnissen gefragt – denn ein Ausbildungssystem wie in Deutschland gibt es ja in Europa sonst nicht. Dann folgt eine medizinische Untersuchung. Gino Badagliacca erlebt sie in Neapel:
"Da war ich zwei Tage und da wurden wir von deutschen Ärzten und Ärztinnen untersucht, nackig, wurde alles untersucht, sie können sich nicht vorstellen. Und zwei Tage später auf den Zug übern Brenner nach München und von München nach Gütersloh."
So schnell ging das damals – vorbereitende Kurse, Sprachunterricht? Keine Spur. Es wurden Arbeiter gebraucht…
Transport in verplompten Zügen
…und oft in vom Zoll verplombten Zügen durch die Nachbarstaaten nach Deutschland verfrachtet, damit sie nur am Zielort aussteigen konnten. Kein sehr menschenfreundlicher Transport – und das Ziel kann man sich nur selten aussuchen auf dieser Reise in die Fremde.
"Ich bin nach Gütersloh gekommen mit einem Kumpel, der wollte unbedingt mit mir, weil er wollte, dass ich ihn mitschleppe und er hat immer Angst und hat immer geheult."
Ein paar Jahre später, sind die deutschen Firmen und Behörden schon wählerischer. Attila Kence aus Istanbul ist 1965 bereits 25 Jahre alt und Abteilungsleiter in einer Möbelfirma. Er möchte etwas von der Welt sehen:
"Abenteuerlust, ne. Das war wirklich, ich war jung und höre, besonders wunderbare deutsche Mädchen (lacht). Ach, ein Jahr mein Glück versuchen, habe ich gesagt und Antrag und hier gekommen."
Die ersten Begegnungen mit dem fremden Land, den fremden Menschen und dem fremden Klima sorgen nicht gerade für gute Stimmung. Gino Badagliacca kommt im August nach Deutschland – in Sizilien herrschen zu der Jahreszeit bis zu 50 Grad im Schatten; im verregneten Gütersloh muss er sich bei 16 Grad den ersten Mantel seines Lebens kaufen. Roman Doblado trifft es bei seiner Ankunft noch schlimmer:
"Einen Tag danach, am 28. November, war ich aufgestanden und nach draußen geguckt. Und da sehe ich - alles weiß. Und habe ich meinen Kollegen aus Madrid gefragt, und der sagt: 'Das ist Schnee!' Schnee? Ich bin da runter in Pantoffeln, dünner Schlafanzug, Treppe runter. Und auf einmal meine Hände kalt werden. Komm die Treppe hoch, ziehe mir eine Hose an und Jacke und alles was ich habe, packe meine Koffer und er fragt mich: 'Wo gehst du hin?' – ich: 'Nach Spanien, dieses kalte Wetter macht mich kaputt.'"
Wenn es nur das Wetter wäre… Für unsere heutigen Vorstellungen bieten die Unterkünfte nicht gerade ein Zuhause. Die Männer aus dem Süden jedoch, nehmen das hin, für ein Jahr, so lange gelten die ersten Arbeitsverträge, kann man es wohl aushalten…Manche haben noch Glück, so wie Gino Badagliacca, der erst einmal im Kolpinghaus wohnt. Roman Doblado dagegen wird direkt neben seiner Arbeitsstelle in einer Schreinerei untergebracht:
"…für ein Jahr war Zimmer gut genug - alles mit Spanplatte gebaut im Betrieb. Aber in dem Moment konnten wir nicht meckern, das war nur provisorisch. Da war Heizung drin, kleine Toilette und wenn die Tür aufmachen von dem Zimmer, da stand vor der Tür eine Bandschleifmaschine."
Ähnlich ergeht es Attila Kence bei seinem Arbeitgeber, immerhin, einer schon damals sehr bekannten Möbelfabrik. Er und seine Kollegen werden untergebracht auf Jugendherbergsniveau…
"…über dem Verwaltungsbüro eine Etage war das, sechs Zimmer, vier Mann, drei Mann, sechs Mann mit Etagenbett. War das eine große Küche, Bad war da, Dusche war da – auf andere Seite Kantine und Umkleideräume…"
"Ich bin nach Gütersloh gekommen mit einem Kumpel, der wollte unbedingt mit mir, weil er wollte, dass ich ihn mitschleppe und er hat immer Angst und hat immer geheult."
Ein paar Jahre später, sind die deutschen Firmen und Behörden schon wählerischer. Attila Kence aus Istanbul ist 1965 bereits 25 Jahre alt und Abteilungsleiter in einer Möbelfirma. Er möchte etwas von der Welt sehen:
"Abenteuerlust, ne. Das war wirklich, ich war jung und höre, besonders wunderbare deutsche Mädchen (lacht). Ach, ein Jahr mein Glück versuchen, habe ich gesagt und Antrag und hier gekommen."
Die ersten Begegnungen mit dem fremden Land, den fremden Menschen und dem fremden Klima sorgen nicht gerade für gute Stimmung. Gino Badagliacca kommt im August nach Deutschland – in Sizilien herrschen zu der Jahreszeit bis zu 50 Grad im Schatten; im verregneten Gütersloh muss er sich bei 16 Grad den ersten Mantel seines Lebens kaufen. Roman Doblado trifft es bei seiner Ankunft noch schlimmer:
"Einen Tag danach, am 28. November, war ich aufgestanden und nach draußen geguckt. Und da sehe ich - alles weiß. Und habe ich meinen Kollegen aus Madrid gefragt, und der sagt: 'Das ist Schnee!' Schnee? Ich bin da runter in Pantoffeln, dünner Schlafanzug, Treppe runter. Und auf einmal meine Hände kalt werden. Komm die Treppe hoch, ziehe mir eine Hose an und Jacke und alles was ich habe, packe meine Koffer und er fragt mich: 'Wo gehst du hin?' – ich: 'Nach Spanien, dieses kalte Wetter macht mich kaputt.'"
Wenn es nur das Wetter wäre… Für unsere heutigen Vorstellungen bieten die Unterkünfte nicht gerade ein Zuhause. Die Männer aus dem Süden jedoch, nehmen das hin, für ein Jahr, so lange gelten die ersten Arbeitsverträge, kann man es wohl aushalten…Manche haben noch Glück, so wie Gino Badagliacca, der erst einmal im Kolpinghaus wohnt. Roman Doblado dagegen wird direkt neben seiner Arbeitsstelle in einer Schreinerei untergebracht:
"…für ein Jahr war Zimmer gut genug - alles mit Spanplatte gebaut im Betrieb. Aber in dem Moment konnten wir nicht meckern, das war nur provisorisch. Da war Heizung drin, kleine Toilette und wenn die Tür aufmachen von dem Zimmer, da stand vor der Tür eine Bandschleifmaschine."
Ähnlich ergeht es Attila Kence bei seinem Arbeitgeber, immerhin, einer schon damals sehr bekannten Möbelfabrik. Er und seine Kollegen werden untergebracht auf Jugendherbergsniveau…
"…über dem Verwaltungsbüro eine Etage war das, sechs Zimmer, vier Mann, drei Mann, sechs Mann mit Etagenbett. War das eine große Küche, Bad war da, Dusche war da – auf andere Seite Kantine und Umkleideräume…"
Ein rauer Ton in der neuen Arbeitswelt
Arbeiten sollen die "Gastarbeiter" - wie es ihnen sonst ergeht, darüber haben sich die "Gastgeber" kaum Gedanken gemacht. Und auf der Arbeit treten dann schon gleich in den ersten Tagen Probleme auf – meist bedingt durch die fehlenden Sprachkenntnisse. Gino Badagliacca, der als Maurer auf dem Bau arbeiten soll, gerät mit seinem Chef aneinander:
"Da sagt er – du Putzer – das war mich eine große Beleidigung. Puzza heißt stinken auf italienisch. Hab ich gesagt zu Chef, jetzt hau ich ab hier. Du Putzer – da hab ich mich ausgezogen, sag hier, alles sauber – Klamotten alle neu. Da kam der Italiener, der vorher da war: 'Der will wissen, ob du putzen kannst' - ah ja, das kann ich!"
Es herrscht ein rauher Ton in der neuen Arbeitswelt. In jener Zeit, in der noch wenige einen Fernseher besitzen, der Bilder aus fremden Ländern zeigt und in der Reisen ans Mittelmeer noch etwas Besonderes sind, sind die Ostwestfalen mißtrauisch gegenüber den Männern aus Italien, der Türkei oder Spanien. Immer wieder sind es die Sprachschwierigkeiten, die zu Problemen führen. Roman Doblado gerät deswegen sogar in eine gefährliche Situation:
"Wir haben die ersten zwei Tage Verpflegung bekommen von Firma. Nach zwei Tagen war alles weg und da mussten wir was kaufen. Da waren wir zwei Mann in kleine Geschäft, da haben wir gesehen Kartoffeln – und wir haben gezeigt da, wir wollten Kartoffeln ja, heute weiß ich, was Kartoffel ist, früher wusste ich auch nicht. Und da haben wir wie in Spanien gesagt papa. Frau versteht nicht. Papa medio Kilo papa. Ich immer mit Messer Kartoffeln schälen. Und papa hier und feuro papa mit Gabel essen. Ja, die Frau ist aufgestanden, und sagt Moment - da kommt ihr Vater mit eine Waffe, schießt eine Kugel an Dach und wir springen raus und draußen hat auch nachgeschossen, aber nicht getroffen da wären wir beiden schon weg. Und in der Firma mit Hände und Füße erzählt, dann sofort Polizei gerufen, da hat ein Dolmetscher erzählt. Die Tochter von ihm hat verstanden, wir wollen ihr Vater Kopf ab, Haare abschneiden und in der Pfanne verbrennen und dann essen."
"Da sagt er – du Putzer – das war mich eine große Beleidigung. Puzza heißt stinken auf italienisch. Hab ich gesagt zu Chef, jetzt hau ich ab hier. Du Putzer – da hab ich mich ausgezogen, sag hier, alles sauber – Klamotten alle neu. Da kam der Italiener, der vorher da war: 'Der will wissen, ob du putzen kannst' - ah ja, das kann ich!"
Es herrscht ein rauher Ton in der neuen Arbeitswelt. In jener Zeit, in der noch wenige einen Fernseher besitzen, der Bilder aus fremden Ländern zeigt und in der Reisen ans Mittelmeer noch etwas Besonderes sind, sind die Ostwestfalen mißtrauisch gegenüber den Männern aus Italien, der Türkei oder Spanien. Immer wieder sind es die Sprachschwierigkeiten, die zu Problemen führen. Roman Doblado gerät deswegen sogar in eine gefährliche Situation:
"Wir haben die ersten zwei Tage Verpflegung bekommen von Firma. Nach zwei Tagen war alles weg und da mussten wir was kaufen. Da waren wir zwei Mann in kleine Geschäft, da haben wir gesehen Kartoffeln – und wir haben gezeigt da, wir wollten Kartoffeln ja, heute weiß ich, was Kartoffel ist, früher wusste ich auch nicht. Und da haben wir wie in Spanien gesagt papa. Frau versteht nicht. Papa medio Kilo papa. Ich immer mit Messer Kartoffeln schälen. Und papa hier und feuro papa mit Gabel essen. Ja, die Frau ist aufgestanden, und sagt Moment - da kommt ihr Vater mit eine Waffe, schießt eine Kugel an Dach und wir springen raus und draußen hat auch nachgeschossen, aber nicht getroffen da wären wir beiden schon weg. Und in der Firma mit Hände und Füße erzählt, dann sofort Polizei gerufen, da hat ein Dolmetscher erzählt. Die Tochter von ihm hat verstanden, wir wollen ihr Vater Kopf ab, Haare abschneiden und in der Pfanne verbrennen und dann essen."
Unerträgliches Heimweh
Heute erzählt Roman Doblado sein erstes Zusammentreffen mit Deutschen als Anekdote. Doch sie zeigt ja eigentlich, wie wenig man voneinander weiß, ja, dass man sogar Angst voreinander hat. Die Klischees von den heißblütigen Südländern und den dickköpfigen Ostwestfalen versperren damals den Blick.
Manchmal steckt hinter den Klischees aber doch ein wenig Wahrheit – oft genug, wenn es um die Gefühle der Menschen geht. Das kalte Klima, die rauen Arbeitsbedingungen, die ungemütlichen Unterkünfte – da kommt schnell Heimweh auf. Ein kitschiger Schlager jener Zeit macht das Heimweh zum Thema. Was im Schlager albern wirkt, hat Gino Badagliacca wirklich erlebt:
"Wissen Sie, was Heimweh ist? Wenn Sie irgendwo sind und die Heimat fehlt und dann fahren sie jeden Abend zum Bahnhof nach dem Feierabend und gucken Sie die Züge, die vorbeikommen. Da hält in Gütersloh immer dieser Zug Amsterdam - Mailand. Riesige Räder. Und wo der Zug losfuhr: Wumm Wumm, und da sagte ich zu meinem Kumpel: 'Vier Uhr fünf nach Mailand und wir sind hier.' Das ist Heimweh."
Integration - das ist in den 60er Jahren nicht einmal ein Fremdwort. Kein Wunder, dass die "Gastarbeiter" unter sich bleiben, da hören sie wenigstens ihre eigene Sprache. Daran, dass sie vielleicht länger bleiben könnten als ihr erster Arbeitsvertrag es erlaubt, denken noch wenige. Schritte in Richtung einer neuen Heimat, macht man eher unbewusst, wie Gino Badagliacca in Gütersloh. Die Stadt möchte er schon in den ersten Tagen gern kennen lernen:
"Da bin ich der erste Sonntag ein bisschen zu Fuß gegangen und habe von weitem Pianomusik gehört. Und da hab ich gesagt, da gehst du hin, und da waren Lieder, die waren am singen "Mama". Und da sagt die Frau 'Du Italiano?' Ja, singe weiter – und hat mich zur Hochzeit eingeladen und da hab ich gesungen weil ich immer gesungen habe – du kommst jetzt jedes Wochenende hier. Und die musste ich immer Mama sagen, war eine ältere Dame, aber der hat das Lokal gehört. So ist mein Leben angefangen. Und in diesem Lokal habe ich auch meine Frau kennengelernt und anderthalb Jahr später haben wir geheiratet."
Roman Doblado und Attila Kence holen ihre Verlobten aus Madrid und Istanbul nach Deutschland und heiraten sie hier. Ehe, Familie, Haus – ob in Spanien, der Türkei, in Italien oder Deutschland – das macht eigentlich keinen Unterschied. Plötzlich entwickeln sich aus dem anfangs für ein oder zwei Jahre geplanten Aufenthalt Lebensperspektiven. Roman Doblado kauft einen völlig heruntergekommenen westfälischen Fachwerkkotten.
"Eine Ruine. Kein Dach, die Leute, die früher da gewohnt, hatten nur ein Zimmer, war zugedeckt mit Blechgaragentor. Das Haus, 1800 gebaut. Wir haben alles mit der Hand gemacht, war keine Maschine da. Und dann habe ich nach und nach die Wände, die habe ich alle selber gemacht."
Manchmal steckt hinter den Klischees aber doch ein wenig Wahrheit – oft genug, wenn es um die Gefühle der Menschen geht. Das kalte Klima, die rauen Arbeitsbedingungen, die ungemütlichen Unterkünfte – da kommt schnell Heimweh auf. Ein kitschiger Schlager jener Zeit macht das Heimweh zum Thema. Was im Schlager albern wirkt, hat Gino Badagliacca wirklich erlebt:
"Wissen Sie, was Heimweh ist? Wenn Sie irgendwo sind und die Heimat fehlt und dann fahren sie jeden Abend zum Bahnhof nach dem Feierabend und gucken Sie die Züge, die vorbeikommen. Da hält in Gütersloh immer dieser Zug Amsterdam - Mailand. Riesige Räder. Und wo der Zug losfuhr: Wumm Wumm, und da sagte ich zu meinem Kumpel: 'Vier Uhr fünf nach Mailand und wir sind hier.' Das ist Heimweh."
Integration - das ist in den 60er Jahren nicht einmal ein Fremdwort. Kein Wunder, dass die "Gastarbeiter" unter sich bleiben, da hören sie wenigstens ihre eigene Sprache. Daran, dass sie vielleicht länger bleiben könnten als ihr erster Arbeitsvertrag es erlaubt, denken noch wenige. Schritte in Richtung einer neuen Heimat, macht man eher unbewusst, wie Gino Badagliacca in Gütersloh. Die Stadt möchte er schon in den ersten Tagen gern kennen lernen:
"Da bin ich der erste Sonntag ein bisschen zu Fuß gegangen und habe von weitem Pianomusik gehört. Und da hab ich gesagt, da gehst du hin, und da waren Lieder, die waren am singen "Mama". Und da sagt die Frau 'Du Italiano?' Ja, singe weiter – und hat mich zur Hochzeit eingeladen und da hab ich gesungen weil ich immer gesungen habe – du kommst jetzt jedes Wochenende hier. Und die musste ich immer Mama sagen, war eine ältere Dame, aber der hat das Lokal gehört. So ist mein Leben angefangen. Und in diesem Lokal habe ich auch meine Frau kennengelernt und anderthalb Jahr später haben wir geheiratet."
Roman Doblado und Attila Kence holen ihre Verlobten aus Madrid und Istanbul nach Deutschland und heiraten sie hier. Ehe, Familie, Haus – ob in Spanien, der Türkei, in Italien oder Deutschland – das macht eigentlich keinen Unterschied. Plötzlich entwickeln sich aus dem anfangs für ein oder zwei Jahre geplanten Aufenthalt Lebensperspektiven. Roman Doblado kauft einen völlig heruntergekommenen westfälischen Fachwerkkotten.
"Eine Ruine. Kein Dach, die Leute, die früher da gewohnt, hatten nur ein Zimmer, war zugedeckt mit Blechgaragentor. Das Haus, 1800 gebaut. Wir haben alles mit der Hand gemacht, war keine Maschine da. Und dann habe ich nach und nach die Wände, die habe ich alle selber gemacht."
Viele Gründe, in Deutschland zu bleiben
Sechs Jahre lang baut und bastelt Roman Doblado an dem Haus, legt Strom- und Wasserleitungen und die deutschen Nachbarn, die ihn erst komisch angucken, kriegen Respekt und werden zu Freunden. Da stirbt plötzlich seine Frau kurz nach der Geburt des dritten Kindes.
"Wenn ich Lust gehabt hätte zurück nach Spanien, das hätte ich in dem Moment gemacht, aber hab ich nicht getan. Da war in Deutschland Beerdigung und da war für mich alles klar, ich will nicht mehr nach Spanien."
Attila Kence trifft es noch härter: Auch seine erste Frau stirbt, seine Tochter verunglückt tödlich, sein Sohn erkrankt schwer an Diabetes. Eine gesicherte und von der Krankenkasse bezahlte Behandlung ist eher in Deutschland als in der Türkei möglich.
Es sind viele Gründe, die in den 70er Jahren dazu beitragen, in Deutschland zu bleiben. Das Grab der Ehefrau, die unendliche Mühe, die man ins Haus investiert hat, die besseren Arbeitsverhältnisse, die Kinder, die inzwischen auf deutsche Schulen gehen. Gino Badagliacca hat sich sogar selbständig gemacht mit einer der ersten Pizzerien in der Region.
So ganz nebenbei erzählen die Männer anscheinend bedeutungslose Geschichten, die aber zeigen, wie sehr sie auch eine neue Mentalität angenommen haben. Die Veränderungen beginnen schon in den ersten Tagen im neuen Land und haben Auswirkungen, wie der erste Arztbesuch von Attila Kence:
"Habe ich Termin gehabt 10 Uhr, aber unsere Mentalität war so - hab ich gesagt, irgendwann geh ich und da hab ich kurz vor 11 Uhr hingegangen. Beim Empfang, das Fräulein hat so böse Blick gehabt und paar Wörter gesagt. Und Doktor hat gesagt: 'Junge, ist hier keine Türkei. Ist hier Regel: Pünktlichkeit.' - Das hat mich geprägt: Pünktlichkeit."
Deutsche Sekundärtugenden – oft belächelt, aber auch Roman Doblado haben sie beeindruckt:
"Ich war in Deutschland vielleicht ein Jahr und habe hier langsam gelernt, wie man hier arbeitet. Heute was lassen für morgen, ah, heute – manjana – in Spanien immer manjana, manjana. Kann man morgen machen. Wenn ich was mache, dann lasse ich nicht für morgen. Dann mache ich heute fertig, nicht für morgen."
Bei den Sekundärtugenden ist es nicht geblieben…
"Wenn ich Lust gehabt hätte zurück nach Spanien, das hätte ich in dem Moment gemacht, aber hab ich nicht getan. Da war in Deutschland Beerdigung und da war für mich alles klar, ich will nicht mehr nach Spanien."
Attila Kence trifft es noch härter: Auch seine erste Frau stirbt, seine Tochter verunglückt tödlich, sein Sohn erkrankt schwer an Diabetes. Eine gesicherte und von der Krankenkasse bezahlte Behandlung ist eher in Deutschland als in der Türkei möglich.
Es sind viele Gründe, die in den 70er Jahren dazu beitragen, in Deutschland zu bleiben. Das Grab der Ehefrau, die unendliche Mühe, die man ins Haus investiert hat, die besseren Arbeitsverhältnisse, die Kinder, die inzwischen auf deutsche Schulen gehen. Gino Badagliacca hat sich sogar selbständig gemacht mit einer der ersten Pizzerien in der Region.
So ganz nebenbei erzählen die Männer anscheinend bedeutungslose Geschichten, die aber zeigen, wie sehr sie auch eine neue Mentalität angenommen haben. Die Veränderungen beginnen schon in den ersten Tagen im neuen Land und haben Auswirkungen, wie der erste Arztbesuch von Attila Kence:
"Habe ich Termin gehabt 10 Uhr, aber unsere Mentalität war so - hab ich gesagt, irgendwann geh ich und da hab ich kurz vor 11 Uhr hingegangen. Beim Empfang, das Fräulein hat so böse Blick gehabt und paar Wörter gesagt. Und Doktor hat gesagt: 'Junge, ist hier keine Türkei. Ist hier Regel: Pünktlichkeit.' - Das hat mich geprägt: Pünktlichkeit."
Deutsche Sekundärtugenden – oft belächelt, aber auch Roman Doblado haben sie beeindruckt:
"Ich war in Deutschland vielleicht ein Jahr und habe hier langsam gelernt, wie man hier arbeitet. Heute was lassen für morgen, ah, heute – manjana – in Spanien immer manjana, manjana. Kann man morgen machen. Wenn ich was mache, dann lasse ich nicht für morgen. Dann mache ich heute fertig, nicht für morgen."
Bei den Sekundärtugenden ist es nicht geblieben…
Deutsche Vereinsmeierei auf spanisch
Wie seine beiden Kollegen fand Gino Badagliacca Gefallen am typisch deutschen Vereinswesen. Er singt nämlich nicht nur mit seinem schmeichelnden Tenor in seiner Stammkneipe, sondern auch in einem deutschen Männergesangverein:
"Da hab ich mich vorgestellt, gucken sie mich alle skeptisch. Du kannst singen? Sicher, sag ich. Sing mal was! Ich habe losgeschmettert, hau, du bleibst hier (lacht)! Seit dann war ich in Gesangverein."
Roman Doblado trieb die Vereinsmeierei noch weiter. Durch Zufall wurde er vor dreißig Jahren Mitglied im Schützenverein.
"Und da bin ich marschiert und danach kamen die anderen: Heimatverein, ein katholischer Männerverein, Reiterverein und Brandyverein – es sind sieben Vereine."
Attila Kence gründet mehrere Sport- und Sozialvereine, vor allem für türkische Jugendliche und wird für sein jahrzehntelanges Engagement im Jahr 2012 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.
Erst in den 70er Jahren, nachdem man so achtlos Menschen ins Land geholt hatte, stellt man in Deutschland nach und nach fest: Wir wollten Arbeiter und es kamen Menschen. Viele von ihnen haben sich hier Existenzen aufgebaut. Wo man gut leben kann, will man bleiben. Roman Doblado, Gino Badagliacca und Attila Kence sind Deutsche geworden. In ihren Ursprungsländern fremdeln sie:
"Wenn ich nach meine Heimat gehe, dann heißt es immer – ah, da kommt El Alemann, el Aleman, E L A L E M A N N."
Dass sie ihn mal "Itaker" genannt haben, das hat Gino Badagliacca, der heute Deutscher ist, nicht vergessen; aber er schaut dennoch positiv auf sein Leben:
"Man kann das Rad nicht mehr zurückdrehen sowieso. Ich bin sehr zufrieden, ich besitze zwei Oldtimer und besitze ein Auto. Und ich habe drei Häuser, alles selbst geschaffen."
Auch Attila Kence fühlt sich seit Jahrzehnten in Ostwestfalen zuhause. Er überlässt es aber lieber seiner zweiten Frau Yüksel, zu sagen, warum Deutschland Heimat geworden ist:
"Ich meine, wenn ich nach Hause fliege, nicht lange, nein. Höchstens zwei Monate, aber nicht lange. Zuhause - so lange meine Eltern leben, ich will dort gerne öfter hinfliegen. Aber für immer, nein. Heimat ist Heimat, aber Zuhause ist was anderes."
Jeden Morgen lehnt Roman Doblado eine Leiter an das Vordach seines Hauses und klettert hinauf, um dort die Fahne seines Fußballclubs, Real Madrid, aufzustecken. Dann weht die spanische Fußballflagge den ganzen Tag über einem westfälischen Fachwerkkotten. Gibt es ein besseres Sinnbild fürs Angekommensein und dafür, daß sich Fremdheit überwinden lässt?
Roman Doblado kam mit einem Koffer voller Hoffnung vor über 50 Jahren und wusste nicht, was alles wirklich darin war:
"Das war ein Abenteuer. Wir haben erlebt viel Gutes, aber auch viel Schlechtes. Aber jetzt bleiben wir hier. Bis an unsere Endetage!"
"Da hab ich mich vorgestellt, gucken sie mich alle skeptisch. Du kannst singen? Sicher, sag ich. Sing mal was! Ich habe losgeschmettert, hau, du bleibst hier (lacht)! Seit dann war ich in Gesangverein."
Roman Doblado trieb die Vereinsmeierei noch weiter. Durch Zufall wurde er vor dreißig Jahren Mitglied im Schützenverein.
"Und da bin ich marschiert und danach kamen die anderen: Heimatverein, ein katholischer Männerverein, Reiterverein und Brandyverein – es sind sieben Vereine."
Attila Kence gründet mehrere Sport- und Sozialvereine, vor allem für türkische Jugendliche und wird für sein jahrzehntelanges Engagement im Jahr 2012 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.
Erst in den 70er Jahren, nachdem man so achtlos Menschen ins Land geholt hatte, stellt man in Deutschland nach und nach fest: Wir wollten Arbeiter und es kamen Menschen. Viele von ihnen haben sich hier Existenzen aufgebaut. Wo man gut leben kann, will man bleiben. Roman Doblado, Gino Badagliacca und Attila Kence sind Deutsche geworden. In ihren Ursprungsländern fremdeln sie:
"Wenn ich nach meine Heimat gehe, dann heißt es immer – ah, da kommt El Alemann, el Aleman, E L A L E M A N N."
Dass sie ihn mal "Itaker" genannt haben, das hat Gino Badagliacca, der heute Deutscher ist, nicht vergessen; aber er schaut dennoch positiv auf sein Leben:
"Man kann das Rad nicht mehr zurückdrehen sowieso. Ich bin sehr zufrieden, ich besitze zwei Oldtimer und besitze ein Auto. Und ich habe drei Häuser, alles selbst geschaffen."
Auch Attila Kence fühlt sich seit Jahrzehnten in Ostwestfalen zuhause. Er überlässt es aber lieber seiner zweiten Frau Yüksel, zu sagen, warum Deutschland Heimat geworden ist:
"Ich meine, wenn ich nach Hause fliege, nicht lange, nein. Höchstens zwei Monate, aber nicht lange. Zuhause - so lange meine Eltern leben, ich will dort gerne öfter hinfliegen. Aber für immer, nein. Heimat ist Heimat, aber Zuhause ist was anderes."
Jeden Morgen lehnt Roman Doblado eine Leiter an das Vordach seines Hauses und klettert hinauf, um dort die Fahne seines Fußballclubs, Real Madrid, aufzustecken. Dann weht die spanische Fußballflagge den ganzen Tag über einem westfälischen Fachwerkkotten. Gibt es ein besseres Sinnbild fürs Angekommensein und dafür, daß sich Fremdheit überwinden lässt?
Roman Doblado kam mit einem Koffer voller Hoffnung vor über 50 Jahren und wusste nicht, was alles wirklich darin war:
"Das war ein Abenteuer. Wir haben erlebt viel Gutes, aber auch viel Schlechtes. Aber jetzt bleiben wir hier. Bis an unsere Endetage!"