Ein Komponist auf Sinnsuche
Der Komponist Gustav Mahler war ein religiöser Mensch, allerdings ohne stärkere konfessionelle Bindung. Auch sein musikalisches Werk ist durchdrungen von einem tiefen religiösen Gefühl. Nun jährt sich Mahlers Todestag zum 150. Mal.
Georg Borchardt: "Gustav Mahler war in meinen Augen einer der größten Komponisten."
Juliane Wandel: "Ein Sinn- und Erlösungssucher, vielleicht ein religiöser Philosoph, jemand, der alles, was ihn bewegte, in seine Musik steckte und in seiner Musik verarbeitete."
Constantin Floros: "Er war Visionär, war hochgeistig, war sehr rege, belesen, mit vielen Dingen beschäftigt, mit existenziellen Fragen vor allem."
Annäherungen an Gustav Mahler. Geboren wird der spätere Dirigent und Komponist am 7. Juli 1860 in einem böhmischen Dorf namens Kalischt als Kind jüdischer Eltern. Berühmt ist folgender Ausspruch Mahlers:
"Ich bin dreifach heimatlos: als Böhme unter den Österreichern, als Österreicher unter den Deutschen und als Jude in der ganzen Welt. Überall ist man Eindringling, nirgends 'erwünscht'."
Constantin Floros: "Sein Judentum hat in zweifellos geprägt."
Constantin Floros. Der emeritierte Professor für Musikwissenschaft ist ein bedeutender Mahler-Experte. In seinen Augen zählt Gustav Mahler zu den energischsten Künstlern, die es je gab.
Constantin Floros: "Dieser enorme Elan, der Schwung, den er hatte, auch sein großer Antrieb, das alles hängt sicherlich mit der jüdischen Abstammung zusammen.
Er pflegte Folgendes zu sagen: Ein Jude zu sein, entspricht der Vorstellung eines Menschen, der mit einem Arm geboren ist. Und da ist er gezwungen und verpflichtet, mit diesem einen Arm so viel zu leisten wie ein Gesunder mit zwei Armen."
Mahler hat seine jüdische Abstammung nie versteckt. Es heißt aber, sie habe ihm keine Freude gemacht. Dennoch: Gustav Mahler war ein religiöser Mensch, allerdings ohne stärkere konfessionelle Bindung. "Gott ist die Liebe und die Liebe ist Gott." Davon ist Mahler überzeugt. Sein Glaube trägt sehr persönliche Züge; er verbindet insbesondere christliches Gedankengut mit neuzeitlichen, meist philosophischen Reflexionen und greift mitunter auch zurück auf buddhistische Auffassungen.
Constantin Floros: "Die entscheidende Frage, die ihn besonders interessierte und zeitlebens bewegte, war die Frage nach dem Sinn der Existenz, die Frage nach dem Sinn des Lebens und nach dem Sinn des Todes."
Georg Borchardt: "Mahler hat zum Judentum als Religion überhaupt keine Beziehung gehabt. Es gibt meines Wissens keine einzige Stelle, wo er darauf zu sprechen kommt. Allerdings gibt es etwas, was ihn gewissermaßen wie ein biblisches, wie ein alttestamentliches Erbe begleitet hat, und das ist das Hadern mit Gott."
So urteilt Georg Borchardt. Der Musik- und Literaturwissenschaftler ist Geschäftsführer der Hamburger Gustav Mahler Vereinigung. Ein Beleg für Mahlers Hadern mit Gott findet sich in einem Brief aus dem Jahre 1909. Darin schreibt Mahler aus New York an seinen Freund, den Dirigenten und Komponisten Bruno Walter:
"Ich brachte vorgestern hier meine Erste! Wie es scheint, ohne besondere Resonanz. Dagegen war ich mit diesem Jugendwurf recht zufrieden. Sonderbar geht es mir mit allen diesen Werken, wenn ich sie dirigiere. Es kristallisiert sich eine brennend schmerzliche Empfindung: Was ist das für eine Welt, welche solche Klänge und Gestalten als Widerbild auswirft. So was wie der Trauermarsch und der darauf ausbrechende Sturm scheint mir wie eine brennende Anklage an den Schöpfer."
Mit einem musikalischen Sturm beginnt der vierte und letzte Satz von Mahlers Erster Symphonie. Ein Aufschrei. Allegro furioso.
"... der plötzliche Ausbruch der Verzweiflung eines im Tiefsten verwundeten Herzens."
Das notiert Mahler auf dem Konzertzettel der Hamburger Aufführung 1893.
Bei der folgenden Aufführung in Weimar erhält der Finalsatz den Titel "Dall’ Inferno al Paradiso". Von der Hölle zum Paradies. Diese Überschrift findet man auch im Autograf der Partitur.
Der Titel "Dall’ Inferno al Paradiso" ist weder poetisches noch belangloses Beiwerk. Im Gegenteil: Er ist Programm. Denn mit musikalischen Motiven versinnbildlicht Mahler zunächst das Inferno – und später das Paradies.
Eine besondere Rolle spielt im Finalsatz der Ersten Symphonie das tonische Symbol des Kreuzes.
Georg Borchardt: "Eine große Sekunde und eine anschließende Terz.
'Dam-pam-pam', das ist alles. Demonstrativ geradezu kommt es in der Ersten Symphonie vor."
Georg Borchardt: "Das ist eine ganz kurze dreitönige Tonfolge, die uralt ist, eine uralte liturgische Formel, die auch sich schon findet bei Franz Liszt in religiösen Kompositionen, und es ist ganz klar, dass Mahler dieses tonische Symbol des Kreuzes verwendet hat."
Gustav Mahler verbindet das Kreuzmotiv mit einem weiteren, mit dem sogenannten Dresdner Amen.
Kenner hören hier eine rhythmische Variante des Gralsthemas aus Richard Wagners Oper Parsifal. Mahler rechnete damit, dass nicht nur dieses Thema "weiten Hörerkreisen bekannt" war.
Aber auch wer diese musikalischen Motive nicht kennt, kann dennoch Zugang finden zu Mahlers Religiosität. Denn er mag eher intuitiv spüren, dass existenzielle Fragen und Konflikte ebenso Einzug gefunden haben in Mahlers Musikwelt wie Sehnsucht und Schmerz.
Davon ist auch Juliane Wandel überzeugt. Sie hat über die Rezeption von Mahlers Symphonien promoviert und arbeitet als Geschäftsführerin der Orchester-Akademie der Berliner Philharmoniker:
"Sie können sich aber auch einfach hinsetzen und die Musik gesamt auf sich wirken lassen, so wie Mahler sich das ja gewünscht hat, wie die Menschen es tun sollten, und würden wahrscheinlich in jeder Phrase etwas finden, was sie Mahlers Idee von Welt- und Sinnsuche näher bringt. Und das ist dann sicher religiös geprägt auch."
Georg Borchardt: "Mahler wird auf eine merkwürdige Weise auch ohne Text so emotional verstanden, dass Menschen in Japan, die kein Wort deutsch können, die zwar den deutschen Text gehört haben, gesungen im Finale, dass die also von einer euphorischen Begeisterung ergriffen sind und den Aufschwung, dieses 'Zu-Gott-wird-es-dich-tragen', so möchte ich es noch einmal nennen, dass das also spürbar ist in seiner Musik, gerade im Finale der Zweiten, dieser ungeheure Aufschwung."
Mahlers Zweite Symphonie ist ein Bekenntniswerk zum Themenkreis Tod und Auferstehung. Geht es am Ende der Ersten Symphonie um das Ringen von Hölle und Himmel, so geht es in der Zweiten darüber hinaus um die Letzten Fragen: Welchen Sinn hat das Leben? Welchen Sinn hat der Tod?
Über sieben Jahre erstreckt sich die Entstehung des Werkes. Lange Zeit sucht Mahler nach einer Idee für das Finale. Da stirbt Hans von Bülow. Der Dirigent, Pianist und Komponist war viele Jahre lang Mahlers Vorbild.
Georg Borchardt: "Es war also ganz genau am 29. März 1894 um zehn Uhr vormittags, als die Trauerfeier für Hans von Bülow in der Hamburger Michaeliskirche stattfand. Und Mahler nahm da als einfacher Trauergast teil. Er saß also mit der Gemeinde unten im Kirchenschiff. Und bei dieser Trauerfeier da ertönte plötzlich von der Empore der Gesang des Knabenchors: 'Auferstehen, ja auferstehen wirst Du, mein Staub, nach kurzer Ruh; unsterblich’s Leben wird, der Dich rief, Dir geben.'"
"Auch ich las den Text und hatte in demselben Moment die Empfindung, die sich auch Mahlers bemächtigte: Hier war das Finale der II. Symphonie gegeben. Am Nachmittag desselben Tages wurde meine Ahnung bestätigt, ich fand Mahler bereits an der Arbeit."
Das schreibt der Komponist Joseph Foerster 1920 in seinen "Erinnerungen an Gustav Mahler".
"Langsam. Misterioso", heißt es an dieser Stelle der Partitur. Mahler übernimmt zwei Strophen des Klopstock-Chorals mit kleinen Änderungen.
Constantin Floros: "Aber er hat auch eigene, sechs weitere Strophen gedichtet, die ein persönliches religiöses Bekenntnis implizieren."
O glaube, mein Herz ... Du wardst nicht umsonst geboren!
Hast nicht umsonst gelebt, gelitten!
Was entstanden ist, das muss vergehen!
Was vergangen, auferstehen!
Hör auf zu beben ...
Der 1. Korintherbrief des Apostels Paulus, genauer: Dessen 15. Kapitel bildet den Hintergrund für Mahlers Dichtung. Mahlers Kerngedanken findet man in Vers 36:
Auch das, was Du säst, wird nicht lebendig, wenn es nicht stirbt.
Constantin Floros: "Und Mahler formuliert ihn zu der Kernaussage der Auferstehungssinfonie um: 'Sterben wird’ ich um zu leben'."
Der Finalsatz der Zweiten Symphonie ist Mahlers persönliche, überkonfessionelle Sicht der Apokalypse. Schreckensfanfaren künden das Jüngste Gericht an. Ebenso hört man das Dies irae-Motiv. Mahler entwickelt es aus der gregorianischen Sequenz der lateinischen Totenmesse:
Constantin Floros: "Ein Kampf mit Hölle und Himmel und Fegefeuer. Alle diese Dinge spielen eine große Rolle. Aber bei seiner letzten Deutung sagt er: Es gibt im Grunde kein Jüngstes Gericht, es gibt keinen Reichen und keinen Armen. Es gibt keinen König und kein Bettler, nichts. Es gibt nur die Liebe. Die Liebe ist das Wesentliche, das alles Entscheidende."
Gott ist die Liebe, und der Tod ist nicht das Ende. Diesen Glauben, diese Hoffnung teilt Mahler mit dem Christentum. So wundert es nicht, dass Mahler wenige Jahre nach Abschluss der Zweiten Symphonie zum Katholizismus konvertiert. Dazu Georg Borchardt:
"Er wusste, dass er die Stelle als Hofoperndirektor in Wien nicht bekommen würde, ohne zum Katholizismus übergetreten zu sein. Es wird natürlich oft behauptet, das sei ein reiner Akt des Opportunismus gewesen, aber das ist es nicht. Mahler war ein religiöser Mensch, und er sympathisierte schon frühzeitig mit dem Christentum, allerdings nicht im konfessionellen Sinne."
Kunst und Persönlichkeit, Musik und Weltanschauung sind bei Gustav Mahler nicht zu trennen. Religiöse und philosophische Fragen beschäftigen ihn zeitlebens. Seine Musik nimmt Diesseits und Jenseits in den Blick. Sie gibt Kunde von einer anderen Welt und lässt teilhaben am "Sehnen über die Dinge dieser Welt hinaus".
Juliane Wandel: "Ein Sinn- und Erlösungssucher, vielleicht ein religiöser Philosoph, jemand, der alles, was ihn bewegte, in seine Musik steckte und in seiner Musik verarbeitete."
Constantin Floros: "Er war Visionär, war hochgeistig, war sehr rege, belesen, mit vielen Dingen beschäftigt, mit existenziellen Fragen vor allem."
Annäherungen an Gustav Mahler. Geboren wird der spätere Dirigent und Komponist am 7. Juli 1860 in einem böhmischen Dorf namens Kalischt als Kind jüdischer Eltern. Berühmt ist folgender Ausspruch Mahlers:
"Ich bin dreifach heimatlos: als Böhme unter den Österreichern, als Österreicher unter den Deutschen und als Jude in der ganzen Welt. Überall ist man Eindringling, nirgends 'erwünscht'."
Constantin Floros: "Sein Judentum hat in zweifellos geprägt."
Constantin Floros. Der emeritierte Professor für Musikwissenschaft ist ein bedeutender Mahler-Experte. In seinen Augen zählt Gustav Mahler zu den energischsten Künstlern, die es je gab.
Constantin Floros: "Dieser enorme Elan, der Schwung, den er hatte, auch sein großer Antrieb, das alles hängt sicherlich mit der jüdischen Abstammung zusammen.
Er pflegte Folgendes zu sagen: Ein Jude zu sein, entspricht der Vorstellung eines Menschen, der mit einem Arm geboren ist. Und da ist er gezwungen und verpflichtet, mit diesem einen Arm so viel zu leisten wie ein Gesunder mit zwei Armen."
Mahler hat seine jüdische Abstammung nie versteckt. Es heißt aber, sie habe ihm keine Freude gemacht. Dennoch: Gustav Mahler war ein religiöser Mensch, allerdings ohne stärkere konfessionelle Bindung. "Gott ist die Liebe und die Liebe ist Gott." Davon ist Mahler überzeugt. Sein Glaube trägt sehr persönliche Züge; er verbindet insbesondere christliches Gedankengut mit neuzeitlichen, meist philosophischen Reflexionen und greift mitunter auch zurück auf buddhistische Auffassungen.
Constantin Floros: "Die entscheidende Frage, die ihn besonders interessierte und zeitlebens bewegte, war die Frage nach dem Sinn der Existenz, die Frage nach dem Sinn des Lebens und nach dem Sinn des Todes."
Georg Borchardt: "Mahler hat zum Judentum als Religion überhaupt keine Beziehung gehabt. Es gibt meines Wissens keine einzige Stelle, wo er darauf zu sprechen kommt. Allerdings gibt es etwas, was ihn gewissermaßen wie ein biblisches, wie ein alttestamentliches Erbe begleitet hat, und das ist das Hadern mit Gott."
So urteilt Georg Borchardt. Der Musik- und Literaturwissenschaftler ist Geschäftsführer der Hamburger Gustav Mahler Vereinigung. Ein Beleg für Mahlers Hadern mit Gott findet sich in einem Brief aus dem Jahre 1909. Darin schreibt Mahler aus New York an seinen Freund, den Dirigenten und Komponisten Bruno Walter:
"Ich brachte vorgestern hier meine Erste! Wie es scheint, ohne besondere Resonanz. Dagegen war ich mit diesem Jugendwurf recht zufrieden. Sonderbar geht es mir mit allen diesen Werken, wenn ich sie dirigiere. Es kristallisiert sich eine brennend schmerzliche Empfindung: Was ist das für eine Welt, welche solche Klänge und Gestalten als Widerbild auswirft. So was wie der Trauermarsch und der darauf ausbrechende Sturm scheint mir wie eine brennende Anklage an den Schöpfer."
Mit einem musikalischen Sturm beginnt der vierte und letzte Satz von Mahlers Erster Symphonie. Ein Aufschrei. Allegro furioso.
"... der plötzliche Ausbruch der Verzweiflung eines im Tiefsten verwundeten Herzens."
Das notiert Mahler auf dem Konzertzettel der Hamburger Aufführung 1893.
Bei der folgenden Aufführung in Weimar erhält der Finalsatz den Titel "Dall’ Inferno al Paradiso". Von der Hölle zum Paradies. Diese Überschrift findet man auch im Autograf der Partitur.
Der Titel "Dall’ Inferno al Paradiso" ist weder poetisches noch belangloses Beiwerk. Im Gegenteil: Er ist Programm. Denn mit musikalischen Motiven versinnbildlicht Mahler zunächst das Inferno – und später das Paradies.
Eine besondere Rolle spielt im Finalsatz der Ersten Symphonie das tonische Symbol des Kreuzes.
Georg Borchardt: "Eine große Sekunde und eine anschließende Terz.
'Dam-pam-pam', das ist alles. Demonstrativ geradezu kommt es in der Ersten Symphonie vor."
Georg Borchardt: "Das ist eine ganz kurze dreitönige Tonfolge, die uralt ist, eine uralte liturgische Formel, die auch sich schon findet bei Franz Liszt in religiösen Kompositionen, und es ist ganz klar, dass Mahler dieses tonische Symbol des Kreuzes verwendet hat."
Gustav Mahler verbindet das Kreuzmotiv mit einem weiteren, mit dem sogenannten Dresdner Amen.
Kenner hören hier eine rhythmische Variante des Gralsthemas aus Richard Wagners Oper Parsifal. Mahler rechnete damit, dass nicht nur dieses Thema "weiten Hörerkreisen bekannt" war.
Aber auch wer diese musikalischen Motive nicht kennt, kann dennoch Zugang finden zu Mahlers Religiosität. Denn er mag eher intuitiv spüren, dass existenzielle Fragen und Konflikte ebenso Einzug gefunden haben in Mahlers Musikwelt wie Sehnsucht und Schmerz.
Davon ist auch Juliane Wandel überzeugt. Sie hat über die Rezeption von Mahlers Symphonien promoviert und arbeitet als Geschäftsführerin der Orchester-Akademie der Berliner Philharmoniker:
"Sie können sich aber auch einfach hinsetzen und die Musik gesamt auf sich wirken lassen, so wie Mahler sich das ja gewünscht hat, wie die Menschen es tun sollten, und würden wahrscheinlich in jeder Phrase etwas finden, was sie Mahlers Idee von Welt- und Sinnsuche näher bringt. Und das ist dann sicher religiös geprägt auch."
Georg Borchardt: "Mahler wird auf eine merkwürdige Weise auch ohne Text so emotional verstanden, dass Menschen in Japan, die kein Wort deutsch können, die zwar den deutschen Text gehört haben, gesungen im Finale, dass die also von einer euphorischen Begeisterung ergriffen sind und den Aufschwung, dieses 'Zu-Gott-wird-es-dich-tragen', so möchte ich es noch einmal nennen, dass das also spürbar ist in seiner Musik, gerade im Finale der Zweiten, dieser ungeheure Aufschwung."
Mahlers Zweite Symphonie ist ein Bekenntniswerk zum Themenkreis Tod und Auferstehung. Geht es am Ende der Ersten Symphonie um das Ringen von Hölle und Himmel, so geht es in der Zweiten darüber hinaus um die Letzten Fragen: Welchen Sinn hat das Leben? Welchen Sinn hat der Tod?
Über sieben Jahre erstreckt sich die Entstehung des Werkes. Lange Zeit sucht Mahler nach einer Idee für das Finale. Da stirbt Hans von Bülow. Der Dirigent, Pianist und Komponist war viele Jahre lang Mahlers Vorbild.
Georg Borchardt: "Es war also ganz genau am 29. März 1894 um zehn Uhr vormittags, als die Trauerfeier für Hans von Bülow in der Hamburger Michaeliskirche stattfand. Und Mahler nahm da als einfacher Trauergast teil. Er saß also mit der Gemeinde unten im Kirchenschiff. Und bei dieser Trauerfeier da ertönte plötzlich von der Empore der Gesang des Knabenchors: 'Auferstehen, ja auferstehen wirst Du, mein Staub, nach kurzer Ruh; unsterblich’s Leben wird, der Dich rief, Dir geben.'"
"Auch ich las den Text und hatte in demselben Moment die Empfindung, die sich auch Mahlers bemächtigte: Hier war das Finale der II. Symphonie gegeben. Am Nachmittag desselben Tages wurde meine Ahnung bestätigt, ich fand Mahler bereits an der Arbeit."
Das schreibt der Komponist Joseph Foerster 1920 in seinen "Erinnerungen an Gustav Mahler".
"Langsam. Misterioso", heißt es an dieser Stelle der Partitur. Mahler übernimmt zwei Strophen des Klopstock-Chorals mit kleinen Änderungen.
Constantin Floros: "Aber er hat auch eigene, sechs weitere Strophen gedichtet, die ein persönliches religiöses Bekenntnis implizieren."
O glaube, mein Herz ... Du wardst nicht umsonst geboren!
Hast nicht umsonst gelebt, gelitten!
Was entstanden ist, das muss vergehen!
Was vergangen, auferstehen!
Hör auf zu beben ...
Der 1. Korintherbrief des Apostels Paulus, genauer: Dessen 15. Kapitel bildet den Hintergrund für Mahlers Dichtung. Mahlers Kerngedanken findet man in Vers 36:
Auch das, was Du säst, wird nicht lebendig, wenn es nicht stirbt.
Constantin Floros: "Und Mahler formuliert ihn zu der Kernaussage der Auferstehungssinfonie um: 'Sterben wird’ ich um zu leben'."
Der Finalsatz der Zweiten Symphonie ist Mahlers persönliche, überkonfessionelle Sicht der Apokalypse. Schreckensfanfaren künden das Jüngste Gericht an. Ebenso hört man das Dies irae-Motiv. Mahler entwickelt es aus der gregorianischen Sequenz der lateinischen Totenmesse:
Constantin Floros: "Ein Kampf mit Hölle und Himmel und Fegefeuer. Alle diese Dinge spielen eine große Rolle. Aber bei seiner letzten Deutung sagt er: Es gibt im Grunde kein Jüngstes Gericht, es gibt keinen Reichen und keinen Armen. Es gibt keinen König und kein Bettler, nichts. Es gibt nur die Liebe. Die Liebe ist das Wesentliche, das alles Entscheidende."
Gott ist die Liebe, und der Tod ist nicht das Ende. Diesen Glauben, diese Hoffnung teilt Mahler mit dem Christentum. So wundert es nicht, dass Mahler wenige Jahre nach Abschluss der Zweiten Symphonie zum Katholizismus konvertiert. Dazu Georg Borchardt:
"Er wusste, dass er die Stelle als Hofoperndirektor in Wien nicht bekommen würde, ohne zum Katholizismus übergetreten zu sein. Es wird natürlich oft behauptet, das sei ein reiner Akt des Opportunismus gewesen, aber das ist es nicht. Mahler war ein religiöser Mensch, und er sympathisierte schon frühzeitig mit dem Christentum, allerdings nicht im konfessionellen Sinne."
Kunst und Persönlichkeit, Musik und Weltanschauung sind bei Gustav Mahler nicht zu trennen. Religiöse und philosophische Fragen beschäftigen ihn zeitlebens. Seine Musik nimmt Diesseits und Jenseits in den Blick. Sie gibt Kunde von einer anderen Welt und lässt teilhaben am "Sehnen über die Dinge dieser Welt hinaus".