Ein Land ohne Erinnerung

Von Michael Stürmer |
In einem Land ohne Erinnerung ist alles möglich. Im Vakuum gedeiht die Richtungslosigkeit, denn ohne Woher gibt es auch kein Wohin. Seitdem die 68er und ihre Epigonen, in der unheiligen Allianz mit den Technokraten in den Kultusministerien, den Verbänden und Parlamenten, die tabula rasa des Nichtwissens, Nichtlernens, Nichterinnerns herstellten, ist alles gleich, irgendwo im Nebel ferner Vergangenheiten.
Adenauer, pater patriae der Bundesrepublik, ist noch irgendwie bewusst, so wie früheren Generationen Barbarossa. Aber die ganze Geschichte des kommunistischen Deutschland verliert sich im Grau der Ignoranz im Westen oder der Verklärung im Osten. Gar die Voraussetzungen zu studieren, unter denen unsere Nachbarn, Polen und Franzosen, Briten oder Skandinavier, sich sehen und durch das Prisma der eigenen Geschichte auch die Deutschen - solches gilt nur noch als Zeitverschwendung. Das grenzenlose Europa findet statt für Handel und Tourismus, aber in der geistigen Welt ist die nationale Betrachtungsweise vorherrschend – man kann auch sagen die nationale Ignoranz. Denn vom Eigenen wird kaum mehr gewusst als vom benachbarten. Da erweitert sich die Europäische Union nach Süden und Osten, und es werden Statistiken abgeprüft, es wird gezählt und gewogen. Aber die Traditionen, die Mentalitäten, das Unausgesprochene der Erinnerung und der Zukunftserwartung, was Stolz und Angst der Menschen ausmacht, Hoffnung und Verzweiflung – davon ist nicht die Rede.

Es geht nicht ums Verdrängen oder Vergessen. Vergessen kann man nur, was einmal gewusst war, und verdrängen kann man nur, was einmal lebendiges Erleben war, an die Oberfläche drängt und wieder ins Verborgene zurückgedrückt wird. Dafür gibt es Beispiele, prominente wie Walter Jens und Günter Grass. Der eine vergaß, der andere verdrängte. Und beide stiegen, zusammen mit anderen, weniger prominenten Personen der Zeitgeschichte, auf zu Großinquisitoren des öffentlichen Dialogs. Ihr moralischer Absturz könnte zu einer schmerzhaften Revision führen – wird es aber, wie die jüngste Debatte zeigt, nicht tun.

Der Platz jedoch, den im öffentlichen Gedenken der NS-Diktatur gegeben wird, zum Beispiel durch Guido Knopps Doku-Industrie, wird allen anderen Epochen der deutschen Geschichte, älteren und neueren, genommen. Eine gewaltige Disproportion entsteht, die gerechtfertigt war, solange der Schrecken noch frisch, die Schuld noch lebendig, die Wirkung noch unter der Haut war. Aber mittlerweile ist aus dem Horror der NS-Geschichte oftmals nur noch bequemer Vorwand geworden, zum Beispiel wenn es um militärische Einsätze geht. Da wurde doch, keine 15 Jahre ist es her, allen Ernstes von der Regierung behauptet, das Grundgesetz verbiete jeden Einsatz jenseits das NATO-Verteidigungsraumes – bis dann die Flüchtlingsmassen aus Ex-Jugoslawien diese und andere Vorwände beiseiteschoben. Die Tugenden des Mutes, der Selbstdisziplin, der Kameradschaft im Einsatz, die doch für jede ernste militärische Prüfung lebenswichtig sind, werden weder gelobt noch gelebt. Aus dem Grab reckt sich die tote Hand des Nationalsozialismus und greift nach Herz und Seele der Lebenden. Am Ende aber muss auch für die NS-Diktatur gelten, was der große Schweizer Historiker Jacob Burckhardt einst über alle Historisierung gesagt hat: "Was einst Jubel und Jammer war, muss nun Erkenntnis werden".

An dieser Erkenntnis aber fehlt es. Die öffentlichen Bußübungen sind zu Ritualen geworden. Martin Walser hat das ausgesprochen und ist dafür öffentlich abgestraft worden, nicht weil er offenkundig im Unrecht gewesen wäre, sondern weil er einen wunden Punkt getroffen hatte.

Die fortschreitende Industriegesellschaft hat keinen Sensus mehr für geschichtliche Legitimität. Sie schafft das alles ab zugunsten praktischer Künste. Literatur, Poesie, alte Sprachen? Lasst die Toten ihre Toten begraben. Ein neues Barbarentum ist unterwegs, das glaubt, im Internet sei alles zu finden, was ein Mensch braucht, wenn er nur klicken kann. Das Alte, eben weil es alt ist, ist schon verdächtig. Auf eine unheimliche Weise wird der Anspruch der NS-Propagandisten verwirklicht, dass vor ihnen nur Dunkelheit war, und nach ihnen nichts Erinnernswertes mehr kommt. Erinnerung, Zeit und Geschichte sind seit vier Jahrzehnten, man kann es auf 1968 datieren, zum irrationalen Rest abgesunken. Darin waren sich seitdem Ideologen und Technokraten – zwar unbewusst - einig. Als ein Politiker vor ein paar Jahren einmal von "Leitkultur" sprach, wozu als Kern gewisslich ein nationaler und übernationaler Dialog über Geschichte gehört, und was die vielerlei Vergangenheiten für Gegenwart und Zukunft enthalten, wo sie Warnungen andeuten und wo Ermutigung, da wurde er niedergemacht im öffentlichen Scherbengericht.

In diesem Jahr jährt sich zum 200. Mal das Ende des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation. Es war eine politische Lebensform, die an die tausend Jahre gedauert hat und die bis heute die deutschen Mentalitäten, Rechtsformen, Zünfte und Selbstverwaltung, Städtewesen und vielstimmige Kultur, von den Brotsorten bis zum Wein, die Sprache, ja die städtischen und ländlichen Landschaften geprägt und die, auch das ist bemerkenswert, die Nachbarn der Deutschen nicht um den Schlaf brachte. Dieses Reich war vornational und übernational, und es würde sich heute lohnen, wenn die Europäische Union etwas von der reifen Staatsweisheit, die diesem Gebilde zu Eigen war, borgen wollte. Aber als in Magdeburg und Berlin dieser Tage zwei große Ausstellungen eröffnet wurden, war kein Präsident, keine Kanzlerin zugegen, so als ob böse Geister drohten.

Demenz ist ein bedauernswerter Krankheitszustand, der alte Leute befällt, Erinnerungslosigkeit die öffentliche Form, die eine ganze Nation befällt, und beides ist gefährlich für die Betroffenen und besorgniserregend für alle anderen. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. In einem Land ohne Geschichte ist alles möglich.

Michael Stürmer: Der 1938 in Kassel geborene Michael Stürmer studierte in London, Berlin und Marburg, wo er 1965 promovierte. Nach seiner Habilitation wurde er 1973 ordentlicher Professor für Neuere und Neueste Geschichte, Sozial- und Verfassungsgeschichte; außerdem lehrte er u.a. an der Harvard University, in Princeton und der Pariser Sorbonne. 1984 wurde Stürmer in den Vorstand der Konrad-Adenauer-Stiftung berufen und zwei Jahre später zum Vorsitzenden des Forschungsbeirates des Center for European Studies in Brüssel. Zehn Jahre lang war er überdies Direktor der StiftungWissenschaft und Politik. Zu seinen Veröffentlichungen zählen: "Das ruhelose Reich", "Dissonanzen des Fortschritts", "Bismarck - die Grenzen der Politik" und zuletzt "Die Kunst des Gleichgewichts. Europa in einer Welt ohne Mitte". Im so genannten Historikerstreit entwickelte Stürmer die von Habermas und Broszat bestrittene These von der Identität stiftenden Funktion der Geschichte. Stürmer, lange Kolumnist für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung", schreibt jetzt für die "Welt" und die "Welt am Sonntag".