Ein Leben, das zum Roman wurde
Mit seinem Roman "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" ist Marcel Proust in die Literaturgeschichte eingegangen. Jean-Yves Tadié hat eine über tausend Seiten dicke Biographie über den französischen Schriftsteller verfasst. Sie eignet sich als ein Geschenk für Proust-Fans und solche, die es werden wollen.
Marcel Proust (1871-1922) hat mit seinem viele tausend Seiten umfassenden Roman "A la recherche du temps perdu" ("Auf der Suche nach der verlorenen Zeit") eines der größten Meisterwerke der europäischen Moderne geschaffen. Freilich wurde dieser Roman von Anfang an als Schlüsselroman gelesen, hinter dessen fiktionalen Figuren, Orten und Ereignissen sich, mehr oder weniger gut verschlüsselt, reale Figuren, Orte und Ereignisse verbergen. Das schien um so pikanter, als die "Recherche" sich zu weiten Teilen in der Welt der Aristokratie und des Großbürgertums einerseits und der Homosexuellen andererseits abspielt und Proust tatsächlich während der Arbeit daran immer wieder Freunde und Bekannte nach bestimmten vergangenen Ereignissen, Gegenständen oder Konstellationen befragte. Indessen wäre der Roman nicht so groß, wäre er nur die kaum verhüllte Geschichte von Proust selbst.
Prousts Verfahren ist ein eminent modernes: er nimmt seine eigenen Erfahrungen und Wahrnehmungen auseinander und setzt sie mit einer ganz bestimmten, in der Wirklichkeit niemals vorgegebenen Absicht völlig neu zusammen, das heißt er nimmt sie als Ausgangspunkt eines großangelegten Prozesses der De-Kontextualisierung und Re-Kontextualisierung. Das Ergebnis ist durch und durch Fiktion, und man kann sich darüber streiten, ob die Kenntnis des Lebens des Autors dazu beiträgt, den Roman besser zu verstehen. George Painter, der 1959 und 1965 die erste umfassende Biographie Prousts in zwei Bänden veröffentlicht hat, bejaht das vehement.
Auch Jean-Yves Tadié, dessen 1996 in Frankreich erschienenen Biographie erst jetzt auf Deutsch publiziert worden ist, betrachtet die Biographie eines Künstlers als die Biographie seines Werkes - als "die einzige, die nicht mit dem Tod endet". Er will zunächst den Typus schildern: "Was heißt es, um 1890 Schriftsteller, Homosexueller, Kranker oder Arzt zu sein?", um auf diesem Hintergrund Prousts Individualität und Einzigartigkeit aufzuzeigen.
Zwar konzediert er die Subjektivität jedes Biographen, der immer auch seine eigenen Voraussetzungen in die Interpretation - und nichts anderes ist ja eine Biographie - einfließen lässt, macht freilich ebenfalls deutlich, dass er sich – zu Recht - als einen der wichtigsten Proust-Spezialisten versteht: Herausgeber der maßgeblichen Ausgabe der Werke Prousts in der "Bibliothèque de la Pléiade", Verfasser etlicher Bücher über Proust und sein Werk.
Tadié ist ein echter Philologe gut positivistischer Prägung, wie man sie in Frankreich noch häufig findet. Entsprechend zuverlässig ist seine über 1200 Seiten dicke Biographie (wovon über 300 Seiten Anmerkungen, vor allem Quellennachweise sind). Und entsprechend redlich geht er mit seinen eigenen Interpretationen um, die er stets als solche kenntlich macht. Dabei hütet er sich vor jeder simplen Gleichsetzung. Niemals wird das Leben mit dem Werk in eins gesetzt. Tadié erläutert stets, welche Aspekte des Proustschen (Er-)Lebens in welcher Weise modifiziert ins Werk eingegangen sind und welche Bedeutung sie darin gewinnen.
Der Respekt vor "seinem" Autor ist in jeder Zeile zu spüren. Zugleich zieht sich die Bewunderung durch den umfangreichen Text: für ein Leben, das zum Roman – und einen Roman, der zum ganzen Leben geworden sei. Das alles ist weniger erzählt, als sehr gut dargestellt, in einer geschliffenen Diktion, die Sicherheit und Vorsicht vereint und immer wieder den Romancier selbst zu Wort kommen lässt. Diese Biographie will die Lektüre des Romans nicht ersetzen, im Gegenteil: Sie führt immer wieder zu ihm zurück und regt seine (erneute) Lektüre an - ein Geschenk für Proust-Fans und solche, die es werden wollen.
Rezensiert von Gertrud Lehnert
Jean-Yves Tadié: Marcel Proust. Biographie.
Aus dem Französischen von Max Looser, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2008, 1266 S., € 68.-
Prousts Verfahren ist ein eminent modernes: er nimmt seine eigenen Erfahrungen und Wahrnehmungen auseinander und setzt sie mit einer ganz bestimmten, in der Wirklichkeit niemals vorgegebenen Absicht völlig neu zusammen, das heißt er nimmt sie als Ausgangspunkt eines großangelegten Prozesses der De-Kontextualisierung und Re-Kontextualisierung. Das Ergebnis ist durch und durch Fiktion, und man kann sich darüber streiten, ob die Kenntnis des Lebens des Autors dazu beiträgt, den Roman besser zu verstehen. George Painter, der 1959 und 1965 die erste umfassende Biographie Prousts in zwei Bänden veröffentlicht hat, bejaht das vehement.
Auch Jean-Yves Tadié, dessen 1996 in Frankreich erschienenen Biographie erst jetzt auf Deutsch publiziert worden ist, betrachtet die Biographie eines Künstlers als die Biographie seines Werkes - als "die einzige, die nicht mit dem Tod endet". Er will zunächst den Typus schildern: "Was heißt es, um 1890 Schriftsteller, Homosexueller, Kranker oder Arzt zu sein?", um auf diesem Hintergrund Prousts Individualität und Einzigartigkeit aufzuzeigen.
Zwar konzediert er die Subjektivität jedes Biographen, der immer auch seine eigenen Voraussetzungen in die Interpretation - und nichts anderes ist ja eine Biographie - einfließen lässt, macht freilich ebenfalls deutlich, dass er sich – zu Recht - als einen der wichtigsten Proust-Spezialisten versteht: Herausgeber der maßgeblichen Ausgabe der Werke Prousts in der "Bibliothèque de la Pléiade", Verfasser etlicher Bücher über Proust und sein Werk.
Tadié ist ein echter Philologe gut positivistischer Prägung, wie man sie in Frankreich noch häufig findet. Entsprechend zuverlässig ist seine über 1200 Seiten dicke Biographie (wovon über 300 Seiten Anmerkungen, vor allem Quellennachweise sind). Und entsprechend redlich geht er mit seinen eigenen Interpretationen um, die er stets als solche kenntlich macht. Dabei hütet er sich vor jeder simplen Gleichsetzung. Niemals wird das Leben mit dem Werk in eins gesetzt. Tadié erläutert stets, welche Aspekte des Proustschen (Er-)Lebens in welcher Weise modifiziert ins Werk eingegangen sind und welche Bedeutung sie darin gewinnen.
Der Respekt vor "seinem" Autor ist in jeder Zeile zu spüren. Zugleich zieht sich die Bewunderung durch den umfangreichen Text: für ein Leben, das zum Roman – und einen Roman, der zum ganzen Leben geworden sei. Das alles ist weniger erzählt, als sehr gut dargestellt, in einer geschliffenen Diktion, die Sicherheit und Vorsicht vereint und immer wieder den Romancier selbst zu Wort kommen lässt. Diese Biographie will die Lektüre des Romans nicht ersetzen, im Gegenteil: Sie führt immer wieder zu ihm zurück und regt seine (erneute) Lektüre an - ein Geschenk für Proust-Fans und solche, die es werden wollen.
Rezensiert von Gertrud Lehnert
Jean-Yves Tadié: Marcel Proust. Biographie.
Aus dem Französischen von Max Looser, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2008, 1266 S., € 68.-