Ein Leben mit Angststörungen

"Es fühlt sich an, als würde man sterben"

Ein Mann geht durch einen Tunnel, der zur Londoner U-Bahn führt.
Im dunklen Tunneln kommt die Panik... © imago/ viennaslide London Underground
Von Lydia Heller |
Angst ist ein wichtiges Warnsignal. Sie sorgt in unbekannten und riskanten Situationen dafür, dass wir besonders aufmerksam und vorsichtig sind. Aber wann wird Angst zu einer Erkrankung? Und wie lässt sich diese behandeln?
Berlin-Alexanderplatz: S-Bahnen fahren ein, U-Bahnen fahren ab. Aussteigen, einsteigen. Mehr als 350.000 Menschen allein hier. Jeden Werktag. Alltag. Normal. Und manchmal: bedrohlich.
"Ungefähr 25 Jahre ist das her. Ich saß in der U-Bahn. Ich war auf dem Weg nach Hause und ich habe plötzlich gemerkt, wie mir heiß wird innerlich, wie ich irgendwie schwerer Luft kriege und habe gedacht: Ich muss raus, irgendwas ist komisch."
Anja Schulz ist Mitte 20, als sie zum ersten Mal mit dem Gefühl schwerer Atemnot aus der U-Bahn steigt. Dass sie eine Panikattacke erlebt hat, auf den Gedanken kommt sie nicht. Sie beruhigt sich, nimmt die nächste Bahn, bekommt wieder Atemnot.
"Dann bin ich nach Hause gelaufen und dachte: Naja, das wird jetzt irgendwie auch wieder weggehen. Aber am nächsten Tag kamen dann andere ähnliche Symptome in einer anderen Situation. Da war ich einkaufen. Im Supermarkt stand ich in der Schlange. Es gab kein Vor und kein Zurück. Da kam es plötzlich wieder: keine Luft. Es wurde mir heiß. Schwindel. Und dann bin ich zum Arzt. Und dabei kam heraus, dass es eine Angststörung ist."

Wenn Angst den Alltag bestimmt

Angststörungen gehören, neben Depressionen und Suchterkrankungen, zu den häufigsten psychischen Erkrankungen bei Erwachsenen. In Deutschland ist etwa jeder Zehnte betroffen, Frauen zwei- bis dreimal häufiger als Männer.
Innerhalb eines Lebens besteht Forschern zufolge für jeden Menschen eine zwanzigprozentige Wahrscheinlichkeit, an einer Angststörung zu erkranken – am weitesten verbreitet sind "spezifische Phobien": die Furcht vor bestimmten Objekten oder Situationen.
Der ICD 10, das Krankheits-Klassifikations-System der Weltgesundheitsorganisation, unterscheidet acht Angststörungen, darunter die "Generalisierte Angststörung" – eine Dauer-Besorgtheit in Bezug auf Alltags-Ereignisse, Panikstörungen und Agoraphobie: die Angst vor Menschenmengen und öffentlichen Orten.
"Angst ist eine normale Basis-Emotion, die für das Überleben notwendig ist, des Individuums", sagt Professor Andreas Ströhle, Leiter der Angst-Ambulanz an der Charité Berlin. "Und wenn sie einen behindert im Alltag, wenn sie einen daran hindert die Dinge zu machen, die man machen möchte, dann kann man von einer Erkrankung sprechen."

Angst vor Panikattacken, ein Teufelskreis

Neurobiologisch wird Angst vor allem in der Amygdala verortet, ein Teil des limbischen Systems, das im Gehirn bei der Regulierung von Emotionen und Gedächtnis eine Rolle spielt. Droht Gefahr, versetzt sie den Organismus in Alarmbereitschaft: Der Blutdruck steigt, die Atmung beschleunigt sich, die Muskeln spannen sich an, die Sinne werden geschärft. Der Körper ist bereit für Kampf oder Flucht. Soweit, so lebenswichtig. Aber:
"Bei einem Menschen mit einer Angsterkrankung läuft die Angstreaktion schneller ab, werden Situationen als potenziell bedrohlich wahrgenommen, die dann auch eine Angst-Reaktion auslösen, die aber nicht der Bedrohung entspricht. Teilweise ist es auch so, dass Menschen mit einer Angsterkrankung, gerade mit Panikattacken, die körperlichen Veränderungen stärker wahrnehmen, als sie eigentlich sind. Sie haben den Eindruck, ihr Herzschlag rast, aber im Endeffekt ist er bei 120 und wenn sie die Treppe hochgehen, ist der vergleichbar hoch."

"Ich bin irgendwann gar nicht mehr rausgegangen"

Manchmal setzt die gesteigerte Aufmerksamkeit einen Teufelskreis in Gang: Die normale, körperliche Angstreaktion wird als bedrohlich wahrgenommen. Dadurch steigt die Angst und die körperlichen Reaktionen werden stärker. Am Ende kann eine Panikattacke stehen.
"So eine Angststörung verbreitet sich dann auch. Bei mir kam dann der Aufzug dazu, die Tiefgarage. Man kann nicht mehr einkaufen gehen, nicht mehr in einem Auto sitzen. Man hat plötzlich so eine Grundangst und bei mir war das dann so, dass ich irgendwann gar nicht mehr rausgegangen bin. Und ich bin dann auch ein halbes Jahr gar nicht mehr arbeiten gegangen."
Warum bei einigen Menschen die "Alarmanlage" unverhältnismäßig stark anschlägt, hängt unter anderem von genetischen Faktoren ab. Studien zufolge haben nahe Angehörige von Panik-Patienten ein erhöhtes Risiko, auch eine Angststörung zu entwickeln. Zudem können gesellschaftliche Verhältnisse psychisch destabilisieren: etwa, wenn jemand Wohnen, Essen und Arbeiten als ständiges Problem erlebt.

Sich mit der verstörenden Situation konfrontieren

Nicht zuletzt spielen erworbene Verhaltensmuster eine Rolle: Wem Vertrauen in Bezugspersonen und die eigenen Fähigkeiten vermittelt wurde, der ist später meist weniger anfällig für Angststörungen. Angst wird zum großen Teil gelernt – und das kann rückgängig gemacht werden.
"Für die Behandlung von wirklich situativ auftretenden Ängsten oder auch von Panikattacken wird die Konfrontation mit den Situationen empfohlen, um die Angstreaktionen auch wieder zu verlernen. Dass der Mensch wiederholt die Erfahrung macht: Okay, ich bin in der U-Bahn und es kommt Symptomatik auf, aber die ist nicht wirklich gefährlich. Und wenn ich das häufiger übe, wird die Symptomatik, die auftritt, immer geringer sein, sodass ich dann wieder gelernt habe, dass die U-Bahn nicht zwangsläufig mit Angst assoziiert sein muss."
Ähnlich wie Psychopharmaka, deren Wirksamkeit gegen Angststörungen nachgewiesen ist, verändert auch die kognitive Verhaltenstherapie Strukturen im Gehirn.

Einfach mal zuhören, statt Ratschläge zu geben

"Sehr verkürzt formuliert kann man sagen, dass Antidepressiva eher die basalen älteren Hirnstrukturen beeinflussen und dadurch einen Einfluss auf das Vorderhirn haben. Und in der Verhaltenstherapie eher der frontale Kortex aktiver wird und eine stärkere Kontrolle der älteren Hirnfunktion, wie zum Beispiel der Amygdala, zur Folge hat. Und ein Ungleichgewicht des Zusammenarbeitens dieser Hirnregionen scheint ein wesentlicher Faktor für die Entstehung von Angsterkrankungen zu sein."
Jüngste Forschungen an der Charité deuten zudem darauf hin, dass Psychotherapien wirksamer sind, wenn die Angst-Patienten parallel dazu Sport treiben.
Jemanden von der Unbegründetheit seiner Angst überzeugen zu wollen, das ist dagegen meistens kontraproduktiv.
"Hilfreich sind eher die, die einfach nur mal zuhören und die nicht sofort tollen Ratschlag parat haben. Und es ist auch immer schwierig, wenn man jemanden das Gefühl gibt, man würde sich anstellen. Weil: Das denkt man sowieso selber immer von sich, dass man sich anstellt."
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