Ein letztes Miserere

Von Christian Gampert |
Jetzt beginnt auch Christoph Marthaler, sich mit dem Tod zu beschäftigen. Sein musikalischer Herzschrittmacher, "Lo Stimolatore Cardiaco", spielt in einem Krankenhaus und ist eine Hommage an den späten Verdi.
Zwei Seelen trägt er, ach, in seiner Brust, eine sehr lustige und eine traurige. Christoph Marthaler, der Wartesaal-Bewohner mit dem Hang zum depressiven Slapstick, lässt an diesem Abend gleich zwei Dirigenten auf die Bühne kommen: den Leiter des Basler Sinfonieorchesters Giuliano Betta und seinen eigenen Hausmusiker Bendix Dethleffsen, der später abendfüllend über einem Harmonium hängen wird. Also: ein Klangkörper für's große Gefühl und einer für die persönlichen Nebensachen. Die beiden sehen mit ihren identischen langen Bärten aus wie ein verdoppelter Friedrich Engels oder wie die Gitarreros von ZZ Top - wie eineiige Zwillinge jedenfalls. Und sie dirigieren zunächst synchron eine Art Ouvertüre, die allerdings nur aus wenigen, sich ständig wiederholenden Verdi-Takten besteht.

Die Musik ist zwar der "Stimolatore Cardiaco", der Herzschrittmacher des Stücks - aber sie tritt auf der Stelle, und wirklicher Lebensfluss will nicht mehr aufkommen. Die Oper des 19. Jahrhunderts wird hier als serielle Musik aufgefasst, deren Sequenzen so lange dargeboten werden, bis es nervt. Später werden wir dann vordringen zu stürmischen Klangmalereien und zum religiösen Gesang, zur Dramatik und Innerlichkeit des späten Verdi. Zunächst aber ist man gefangen im Bühnenbild von Duri Bischoff: Sie hat ein imposant-sachliches Treppenhaus gebaut, das offenbar zu einem Krankenhaus gehört – hinter dem verwaltungstechnisch anmutenden Foyer befinden sich Milchglasscheiben und automatisch öffnende Türen wie in einem OP-Trakt.

In dieser kalten Welt tragen zwei Möbelpacker beständig ein Klavier durch die Stockwerke, und dezent gewandete Besucher absolvieren allerlei sinnlose Gänge. Es findet auch gleich eine Operation statt: Ein Ärzteteam öffnet den Leib eines großen Fisches, der offenbar der weiße Wal oder der weiße Hai sein soll, aber mehr wie ein Delfin aussieht. Aus dessen Leib fördert das OP-Team abstruse Dinge zutage, Handys, Telefonkabel und auch eine große Packung "Bounty". Als der OP-Tisch gedreht wird, sieht man, dass es sich eigentlich um ein Kinderbett handelt.

Das ist Marthalers Programm: von der Wiege bis zur Bahre. Von der Erschaffung Adams (Michelangelos berühmte Finger-Geste wird zum Standbild) bis zum Abgang des in Schwarz gekleideten Orchesters. Der Regisseur nimmt Bruchstücke von Verdis Musik, um damit eine ganze Lebensbahn zu beschreiben: Liebe, Eifersucht, Ehrgeiz und schlussendlich Altern und Vergehen. Das ist Oper und Opernparodie zugleich. Aber Verdi wird von Marthaler doch sehr ernst genommen: Da beginnt offenbar einer, sich mit dem Tod auseinanderzusetzen. Im Programmheft sind Motti und Kapitelüberschriften so filigran auf Notenpapier gezeichnet, als wären sie von Robert Walser; und Verdis gefühlserkundende Musik, vor allem aus "Otello" und "Falstaff", überwältigt letztlich die Bewegungsticks und sinnfreien Hampeleien, mit denen der sterbenstraurige Humorist Marthaler auch diesmal seine Inszenierung beginnt.

Zwar lässt er die Tänzerin Altea Garrido mit ihren High Heels clownesk umknicken und ins Spagat rutschen, zwar inszeniert er Küsse wie Turnübungen und Liebesakte als komische Huckepack-Aktionen, aber der grimassierend vorgeführte Kopfschmerz nimmt zu, und die philosophischen Reflektionen kippen immer wieder in eine demente Nonsens-Sprache. In diesem Krankenhaus geht es eben ums Sterben, um Leiden und Abschied, um Trauer, auch musikalisch. Um ein großes Miserere für die zum Tode Verurteilten, oder, als Buß- und Bittgebet, um ein Ave Maria.

Marthaler lockert das immer wieder auf durch entertainende Einschübe, vor allem durch die Konfrontation von Profi-Sängern mit Schauspielern, die zu singen versuchen. Der famose Ueli Jaeggi, einer der herausragend komischen Lebens-Dilettanten dieser Aufführung, muss sich vom Dirigenten anschnauzen lassen: Che Vergogna! Ab in die Ecke, schäm dich! Aber sind wir nicht alle ungelenke Anfänger der Daseinsbewältigung? Die wahren, berührend schönen Klagelieder singt dann die norwegische Sopranistin Tora Augestad.

Der Greis, der gegen Ende verloren im Foyer steht und auf den Tod wartet, gibt sich selber noch einmal eine Losung vor: Ich will mein Zittern selber kurieren! Aber auch die Musik, der ideelle Herzschrittmacher, ist irgendwann machtlos und erstirbt im Röcheln einer immer schwächer werdenden Bassgeige. Marthaler ist hier also ganz anders als in seiner aufgekratzten "My fair Lady"-Bearbeitung des letzten Jahres, er zeigt sehr ausführlich seine dunkle Seite. Im Grunde ist der Abend eine Hommage an den späten Verdi und dessen dramatische Trauermusik; inszenatorisch schimmert bisweilen Herbert Wernickes "Actus tragicus" durch. Das Basler Publikum aber mag so etwas nicht unbedingt: Buhs und Pfiffe, bevor dann der große Beifall obsiegt.
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