"Ein literarisches Land"

Roger Boyes im Gespräch mit Ulrike Timm |
Er habe Albanien durch die Literatur Ismail Kadares kennengelernt, sagt der Brite Roger Boyes im Rahmen unserer Sommerserie "Europäischer Kanon" - und lobt den neuen Roman "Ein folgenschwerer Abend" als ein hoch aktuelles Werk aus dem muslimischen Europa.
Ulrike Timm: Und heute ist Roger Boyes zu Gast, Autor, Kolumnist und Brite in Deutschland, so sagt seine Website, auch Brite in Deutschland kann schließlich ein Beruf sein. Roger Boyes erklärt den Engländern die Deutschen als Korrespondent der "Times", und weil er sich nach gut einem Dutzend Jahren hierzulande immer noch über uns wundert, erklärt er auch gerne die Deutschen sich selbst: pfiffig und alle Klischees noch mal possierlich in jeder Hinsicht umdrehend. Sein letztes Buch war ein Bestseller, "How to be a Kraut", der Deutschlandfaden von Roger Boyes. Herzlich willkommen, Herr Boyes!

Roger Boyes: Hi! Hallo!

Timm: Für unseren "Europäischen Kanon" haben Sie ein ganz neues Buch ausgesucht, gerade erschienen, der jüngste Roman des albanischen Autors Ismail Kadare, "Ein folgenschwerer Abend". Was passiert an diesem Abend?

Boyes: Eigentlich geht es nicht nur um einen Abend, sondern um ein ganzes folgenschweres Jahrzehnt, etwa von 1943 bis 53, also ein ziemlicher brutaler Moment in der europäischen Geschichte. Die Handlung: Es geht um zwei Ärzte, zwei Chirurgen, die teilen denselben Namen: Gurameto. Und die wohnen in einer kleinen albanischen Stadt, also in Südalbanien, Gjirokastras, wo Kadare auch geboren wurde. Der eine Arzt, der sogenannte große Arzt, weil er hoch gewachsen ist, ist Deutschlandfreund. Die Deutschen marschieren ein. Und an dem Abend lädt der große Arzt, also Dr. Gurameto, den deutschen Oberst ein zu einem Abendessen. Draußen am Rathausplatz stehen Dutzende von Geiseln, die eigentlich ermordet sein sollen.

Timm: Geiseln, die die Deutschen genommen haben?

Boyes: Ja, Deutsche, weil eben dann Partisanen dann auf die Deutschen geschossen haben, wie es dann so auf dem Balkan war, Zivilleute zusammengesammelt und am Rathausplatz vorbereitet zu einem Massenmord. Und das Haus von dem Arzt steht gegenüber, und das ganze Dorf rätselt: Was macht der Arzt da mit dem deutschen Oberst? Und ja, was macht er? Das wissen wir auch am Ende des Buchs nicht ganz. Aber auf jeden Fall wissen wir, der Arzt hat den Oberst gebeten, diese Geiseln freizulassen, und das hat er auch. Die fallen dann irgendwie in einen Tiefschlaf, und ab diesem Moment, in 43, rätselt das Dorf und die jeweiligen Behörden, was ist eigentlich geschehen. Es ist ein Rätsel.

Timm: Das ist eine ganz skurrile Geschichte, eine ganz groteske Geschichte, ein Festmahl für einen Feind, der dann Geiseln freilässt, worüber sich so ein Dorf natürlich freut. Ist das eine Parabel, ist das eine Groteske, was ist das für ein Buch?

Boyes: Na ja, das Festmahl an sich ist ganz glaubwürdig, und das Buch an sich ist ganz glaubwürdig. Der Oberst war ein Studienkollege von dem Arzt, und die Unterhaltung, die Manieren, das kommt überzeugend rüber. Das ganze Buch ist auch so. Also er beschreibt fantastisch die Gerüchteküche von der kleinen Stadt. Nur der Kadare hat diese Salman-Rushdie-Art, um irgendwie Magisches reinzubringen, und dann weiß man nicht, wo man denn ist. Man ist völlig verwirrt.

Timm: Wir sollten ein paar Töne hören. Ismail Kadare, der wohl einzig albanische Autor mit internationalem Ruf. Er gilt als großer Geschichtenerzähler – Roger Boyes hat uns das schon ein bisschen beschrieben. Hören wir mal den Anfang des folgenschweren Abends:

Niemals hatte es in der Beziehung zwischen dem großen und dem kleinen Doktor Gurameto auch nur das kleinste Anzeichen von Missgunst gegeben. Obschon sie den gleichen Familiennamen trugen, waren sie nicht miteinander verwandt, und ohne die Heilkunst hätten sich ihre Schicksale vermutlich niemals berührt, jedenfalls wäre ihnen das von beiden nicht gewollte Rangverhältnis, wie es sich in den Beinamen 'der große' und 'der kleine' ausdrückte, erspart geblieben. Doch es sah nun einmal danach aus, als habe eine im Verborgenen waltende Hand die zwei bekanntesten Chirurgen der Stadt untrennbar miteinander verbunden und ihr Verhältnis zudem mit einer solchen inneren Harmonie ausgestattet, dass alles genauso sein zu müssen schien, wie es schon seit langer Zeit war.

Timm: Ein Ausschnitt aus "Ein folgenschwerer Abend" von Ismail Kadare, vorgestellt bei uns von Roger Boyes. Und Herr Boyes, das ist so ein gutmütiger, fast gemütlicher Ton, der da anklingt, die Geschichte wird aber bitterböse. Sie führt bis in die kommunistische Zeit Albaniens, es gibt Folter, es geht um Tod, um Mord, eine ganz brutale Geschichte. Wie passt dazu dieser fast gemütliche Klang der Sprache von Kadare?

Boyes: Das fand ich auch sehr verlockend. Es ist ein sehr charmantes Buch, ja, es ist voll von kleinen Beobachtungen, die wirklich erstens stimmen und zweitens wirklich sympathisch sind. Und das Volk, die Leute von dieser Kleinstadt, die sind auch anfangs ganz nett und auch poetisch dargestellt, ja, und poetisch geneigt. Und dann kommt die große Geschichte, also Kriegsgeschichte. Krieg kommt rein, und mit Krieg kommt auch Verrat, kommt auch Zweifel, Selbstzweifel, und dann dieses Gefühl, das man als kleiner Staat hat wie Albanien, dass man irgendwie immer das Opfer ist.

Timm: Und man erfährt wie im Brennglas auch unglaublich viel über dieses ja über Jahrzehnte völlig abgeschottete Land Albanien.

Boyes: Ja, ja, tatsächlich, ja. Und man spürt auch, wie die große Geschichte, also was weiß ich, Streit zwischen Hitler und Mussolini, eine direkte Wirkung auf diese kleine Gemeinschaft hat. Und dann kommt es zum Sieg und Verluste und so weiter und so weiter, aber alles auf Klein-Klein.

Timm: Die ganze Welt in einer kleinen Stadt.

Boyes: Ja eben, ja.

Timm: Sie haben viel in Osteuropa gelebt und gearbeitet, sind da wahrscheinlich schon auf Kadare gestoßen als Autor – was hat Sie an ihm so fasziniert?

Boyes: Na ja, ich war einmal nur in Albanien, das war nicht so einfach – ich war Osteuropakorrespondent lange Jahre für die "Times" –, und das war dann ein gespenstischer Staat, also Autos waren verboten zum Beispiel. Also man hatte einen großen zentralen Boulevard, den Tirana, aber da sah man dann nur Esel und so weiter, also Autos waren grundsätzlich verboten. Er war der Strengste: Hoxha, Enver Hoxha.

Timm: Präsident Hoxha von Albanien?

Boyes: Präsident Hoxha damals, also in den 80er-Jahren, 70er-, 80er-Jahren. Er war ein Partisane, er hat dann die typische Blut-auf-dem-Finger-Biografie von einem nachkriegskommunitischen Diktator. Und Kadare hat unter diesem Regime nicht besonders gelitten. Er schrieb so elegant und so klug, dass er die Zensur irgendwie umging. Und auch jetzt, 20 Jahre nach dem Kommunismus, schreibt er immer noch ein bisschen so, also ein bisschen von der Seite. Und das trägt auch zu seinem poetischen Element hin. Er sagt nicht alles direkt, sondern um um. Und das ist ein klassischer Trick, dass man in Polen (…), die haben genau dieselben Methoden benutzt. Also das hat mich sehr interessiert. Es gibt eine osteuropäische Literatur, eine osteuropäische Methode, brutale Erfahrungen zu verdauen, ohne dass man dann unbedingt im Streit mit der Sicherheitspolizei landet. Und diese große Kunst, Überlebenskunst, hat Kadare.

Timm: Kadare hat rund zwei Dutzend Bücher veröffentlicht inzwischen, lebt seit 1990 in Paris – warum empfehlen Sie denn gerade dieses für unseren "Europäischen Kanon", es ist ja gerade erst erschienen? Sie sind sich sicher, da gehört es rein.

Boyes: Ja, ich finde es gut, dass in Ihren Kanon irgendwas von dem muslimischen Europa reinkommt. Albanien ist ein kompliziertes Land, aber es war ein Teil des osmanischen Reichs, und dadurch ist es hauptsächlich muslimisch, und es ist auch hoch aktuell. Man sieht auch im Buch ständige Bezuge auf Kosovo und die natürliche, wie die das sehen, natürliche Einheit zwischen Albanien und Kosovo, das ist alles sehr hoch aktuell. Das Buch ist etwas direkter als die Vorgänger. Es ist dann also verständlicher und etwas zugänglicher als die ersten Bücher, die allgemein über Tyrannei und Diktatoren geschrieben haben, ohne Namen zu nennen. Hier sind sehr viele Namen genannt. Es mischt die Wirklichkeit und die wirkliche Geschichte mit sehr genauer Beobachtung, Poesie und auch das Gefühl, dass alles passieren könnte.

Timm: Und wir wissen eigentlich heute immer noch sehr wenig über dieses südosteuropäische Land Albanien. Haben Sie alles über Albanien, was Sie wissen, von Kadare gelernt, und was ist das genau?

Boyes: Na ja, wie gesagt, ich war da, aber seit dem Fall des Kommunismus war ich nicht da.

Timm: Und man kann ja auch ein Land über einen Autor kennenlernen.

Boyes: Ja, ja eben, ja. Also die Albaner kenne ich eigentlich durch das Kosovo, wo ich dann öfters war, aber Albanien, für mich ist es immer noch ein literarisches Land.

Timm: Das heißt, Kadare erschließt uns dieses Land? Was ist das Wichtigste, was wir über Albanien erfahren?

Boyes: Na ja, es ist leider so, in diesem Buch jedenfalls, dass es einen sehr brutalen Hintergrund hat, dass Leute Überlebensstrategien immer entwickeln müssen. Es gibt immer diesen Spruch in Deutschland, man hat es von Helmut Kohl: Gnade der späten Geburt. Aber in Albanien gab es keine solche Gnade. Und das ist, was wir dann verstehen müssen.

Timm: Der "Europäische Kanon" im Deutschlandradio Kultur, Schriftsteller empfehlen uns Bücher und Autoren aus ganz Europa. Heute war der Brite in Deutschland, Roger Boyer, zu Gast, Autor von "How to be a Kraut", und er legte uns den neuesten Roman von Ismail Kadare ans Herz. "Ein folgenschwerer Abend" heißt das Buch und ist erschienen im Meridiane-Ammann-Verlag zum Preis von 19,95 Euro. Herr Boyes, herzlichen Dank für Ihren Besuch!

Boyes: Vielen Dank für die Einladung!
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