"Ein Literaturkritiker, der zum Fernsehstar avancierte"
Marcel Reich-Ranicki habe zwar nie ein öffentliches Amt innegehabt – dieses aber trotzdem mit Autorität und überzeugenden Worten gefüllt, sagt Hellmuth Karasek, Weggefährte im "Literarischen Quartett".
Joachim Scholl: Am Telefon begrüße ich nun einen langjährigen Kollegen und Weggefährten des Jubilars. Guten Tag, Hellmuth Karasek!
Hellmuth Karasek: Guten Tag!
Scholl: Marcel Reich-Ranicki ist nicht nur ein Literaturkritiker, er ist eine Marke. Warum hat das eigentlich kein anderer Kritiker in den letzten 50 Jahren geschafft?
Karasek: Also, es gibt ein paar, die waren nahe dran, Friedrich Luft in Berlin zum Beispiel, der auf dem RIAS in der umklammerten und zugebauten Stadt seine Theaterkritiken sprach. Aber Marcel Reich-Ranicki war der richtige Mann zur richtigen Stunde. Das heißt, er hat in seinem Leben auch viel zu schrecklich falschen Stunden erlebt: Er ist nämlich nach Berlin gekommen, als die Nazis da schon waren, hat sich in die deutsche Literatur und das deutsche Theater verliebt, durfte noch Abitur machen und ist dann nicht mehr zum Studium zugelassen worden, sondern nach Warschau ins Getto deportiert worden. Das war sozusagen die Vorhölle auf Erden, etwas Schlimmeres konnte man sich nicht vorstellen. Er hat es dank der Sprache, dank der Liebe zur Literatur und dank der Liebe zu seiner Frau überlebt, und er war gleichzeitig im beginnenden Fernsehzeitalter jemand, über den die Kollegen die Nase rümpften, die Zuschauer aber herrlich begeistert oder ebenso herrlich entsetzt waren. Und damit hat er einen Platz besetzt, den es so noch nie gab. Er war ein Literaturkritiker, der zum Fernsehstar avancierte. Die Leute haben ihn bald Literaturpapst genannt, übrigens: Er hatte – im Unterschied zum Präsidenten Köhler, der ein hohes Amt hatte, aber keine Autorität, es zu füllen und keine Worte – nie ein Amt, und hat es trotzdem mit Autorität und mit sehr überzeugenden Worten gefüllt.
Scholl: Erinnern Sie sich noch an Ihre erste Begegnung mit Marcel Reich-Ranicki, wie war die?
Karasek: Ja, ich habe ihn in der Gruppe 47 getroffen, das muss '66, '67 gewesen sein, und ich saß da immer hinter ihm oder weit hinter ihm als ein neuer Zugang junger Kritiker, der auch geladen war, und erlebte die großen Wortgefechte zwischen Joachim Kaiser, Reich-Ranicki, Hans Mayer und Walter Jens und war sehr beeindruckt, wie man so viel Worte über so wenig Literatur machen konnte.
Scholl: Die Gruppe 47, das waren die legendären Tagungen, wo auch wirklich die Profile, die literaturkritischen Profile der Bundesrepublik sich schärften, Sie haben schon die Namen genannt, Walter Jens, Joachim Kaiser. Ab wann wurde denn eigentlich Marcel Reich-Ranicki dann so jener, ja, auch wie man ihn nannte, harte Hund, den Autoren mehr fürchteten als schätzten?
Karasek: Ich habe eine Szene erlebt, da war ich schon bei der "Zeit", und da saß ich mit Rudolf Walter Leonhardt und Rudolf Augstein zum Mittagessen in dem Hotel Vier Jahreszeiten – es klingt sehr luxuriös, war es auch –, und da sollte Marcel Reich-Ranicki vorreiten und eine Kritik über Heinrich Böll abliefern. Er war ja in der "Zeit" damals Kritiker, durfte allerdings nie in die Redaktion und nie an den Konferenzen teilnehmen, und er brachte Rudolf Walter Leonhardt ein Manuskript über ein Buch von Heinrich Böll. Und Rudolf Walter Leonhardt erbleichte, das war nämlich ein Totalverriss dieser Ikone der deutschen Nachkriegsliteratur, und er sagte zu Reich: Aber so können wir das nicht drucken. Und Reich sagte: So werden Sie es drucken oder Sie werden es überhaupt nicht drucken. Und so hat er es dann auch gedruckt, er war erschrocken von der Entschlossenheit. Marcel Reich-Ranicki war nämlich von Anfang an ein unerbittlicher Rechthaber, weil er, wie ich später lernte, unerbittlich auch recht hatte.
Scholl: Marcel Reich-Ranicki wird 90 und wir würdigen den Literaturkritiker hier im Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit Hellmuth Karasek. Es gibt ja zahlreiche Anekdoten über seine – ja wirklich im Wortsinn – Literaturbesessenheit. Etwa man sitzt mit ihm im Zug und draußen ziehen die Alpen oder ein malerischer See vorbei, Reich-Ranicki verschwendet keinen Blick daran und redet weiter über Kafka. Haben Sie auch solche ähnlichen Szenen erlebt, Herr Karasek?
Karasek: Also, ich war mal ein Jahr später als er in Middlebury, im herrlichen Vermont, Gastdozent oder Gastprofessor an der Summer School. Und die Middlebury-Professoren waren wahnsinnig stolz über die hinreißende Landschaft, die sich im Indian Summer auch noch blutrot verfärbte, sanfte, grüne Hügel, ein Wasserfall, der links in einen See schoss, rechts öffnete sich weit ein Tal. Und das zeigten mir die Professoren dort stolz und sagten: Letztes Jahr war Reich-Ranicki da, und er hat sich das auch angeguckt und er war auch beeindruckt; wir schwiegen alle, und dann sagte Reich-Ranicki: Ich hätte den Wasserfall nach links verlegt. Also, er rezensierte selbst die Natur und Gott. Ich habe ihn Jahre später auf diese Geschichte angesprochen und er hat also mehrere Antworten gehabt, einmal sagte er, so war es gar nicht und das ist auch nicht wahr, aber schön erfunden – jedenfalls hat er dann gesagt, er wollte nicht in die allgemeine Begeisterung verfallen. Und über sein Gottes-Gnadentum als Kritiker – das ein Kritiker hat, der in Wahrheit nicht an Gott glaubt, was eine sehr schöne und seltsame Konstellation ist –, ... Wir hatten in Salzburg ein "Literarisches Quartett", da herrschte ein furchtbares Sommergewitter, das Quartett war immer im August, und die Kuppel der ORF, also des Österreichischen Fernsehens, war offen, um die schwüle Luft besser aushalten zu können. Und auf einmal – Reich besprach gerade Walsers Buch "Die Verteidigung der Kindheit", und er besprach es, um es vorsichtig auszudrücken, ziemlich ungnädig – blitzte es oben und ein grollender Donner folgte. Und da hob er seine Hände gegen Himmel, drehte die Augen nach oben und sagte: Man wird doch noch was gegen Walser sagen dürfen! Also, er hat auch gegenüber dem Himmel seine Kritiken verteidigt.
Scholl: Stichwort "Literarisches Quartett", Herr Karasek – 13 Jahre moderierte, leitete Marcel Reich-Ranicki dieses Fernsehformat und Sie gehörten zu den Mitstreitern die ganze Zeit. Das war ja auch der Sprung so zum Megastar, könnte man sagen, der ihn dann bis aufs Sofa von "Wetten, dass ... ?" zu Thomas Gottschalk brachte. Hat ihn dieser neue, ja weitaus größere Ruhm eigentlich verändert?
Karasek: Ich glaube, es gibt jetzt in den Geburtstagsartikeln eine wunderbare Beobachtung – "wunderbar" sage ich jetzt auch schon wie er "fabelhaft": Er wohnt immer noch in einer Neubauwohnung mit niedriger Decke im Frankfurter Dichterviertel. Dichterviertel heißt das, weil dort die Straßen alle nach Schriftstellern benannt sind. Und er wohnt dort sehr bescheiden, er genießt gern sehr einfache Ferien, die nach altem Muster immer noch Sommerfrischen heißen, also, er hat von seinen Lebensumständen eine natürliche Bescheidenheit und ist insofern auch nicht zu verderben durch Ruhm.
Scholl: Herr Karasek, wenn Sie Marcel Reich-Ranicki nun auf einer Geburtstagskarte mit einem Satz gratulieren sollten, was würden Sie schreiben?
Karasek: Möge uns die Erde leicht werden! In alter Verbundenheit, dein Weggefährte Hellmuth Karasek!
Scholl: Ich danke Ihnen für das Gespräch, Hellmuth Karasek, und wir werden hier in diesem "Radiofeuilleton" Marcel Reich-Ranickis 90. Geburtstag noch weiter begleiten.
Hellmuth Karasek: Guten Tag!
Scholl: Marcel Reich-Ranicki ist nicht nur ein Literaturkritiker, er ist eine Marke. Warum hat das eigentlich kein anderer Kritiker in den letzten 50 Jahren geschafft?
Karasek: Also, es gibt ein paar, die waren nahe dran, Friedrich Luft in Berlin zum Beispiel, der auf dem RIAS in der umklammerten und zugebauten Stadt seine Theaterkritiken sprach. Aber Marcel Reich-Ranicki war der richtige Mann zur richtigen Stunde. Das heißt, er hat in seinem Leben auch viel zu schrecklich falschen Stunden erlebt: Er ist nämlich nach Berlin gekommen, als die Nazis da schon waren, hat sich in die deutsche Literatur und das deutsche Theater verliebt, durfte noch Abitur machen und ist dann nicht mehr zum Studium zugelassen worden, sondern nach Warschau ins Getto deportiert worden. Das war sozusagen die Vorhölle auf Erden, etwas Schlimmeres konnte man sich nicht vorstellen. Er hat es dank der Sprache, dank der Liebe zur Literatur und dank der Liebe zu seiner Frau überlebt, und er war gleichzeitig im beginnenden Fernsehzeitalter jemand, über den die Kollegen die Nase rümpften, die Zuschauer aber herrlich begeistert oder ebenso herrlich entsetzt waren. Und damit hat er einen Platz besetzt, den es so noch nie gab. Er war ein Literaturkritiker, der zum Fernsehstar avancierte. Die Leute haben ihn bald Literaturpapst genannt, übrigens: Er hatte – im Unterschied zum Präsidenten Köhler, der ein hohes Amt hatte, aber keine Autorität, es zu füllen und keine Worte – nie ein Amt, und hat es trotzdem mit Autorität und mit sehr überzeugenden Worten gefüllt.
Scholl: Erinnern Sie sich noch an Ihre erste Begegnung mit Marcel Reich-Ranicki, wie war die?
Karasek: Ja, ich habe ihn in der Gruppe 47 getroffen, das muss '66, '67 gewesen sein, und ich saß da immer hinter ihm oder weit hinter ihm als ein neuer Zugang junger Kritiker, der auch geladen war, und erlebte die großen Wortgefechte zwischen Joachim Kaiser, Reich-Ranicki, Hans Mayer und Walter Jens und war sehr beeindruckt, wie man so viel Worte über so wenig Literatur machen konnte.
Scholl: Die Gruppe 47, das waren die legendären Tagungen, wo auch wirklich die Profile, die literaturkritischen Profile der Bundesrepublik sich schärften, Sie haben schon die Namen genannt, Walter Jens, Joachim Kaiser. Ab wann wurde denn eigentlich Marcel Reich-Ranicki dann so jener, ja, auch wie man ihn nannte, harte Hund, den Autoren mehr fürchteten als schätzten?
Karasek: Ich habe eine Szene erlebt, da war ich schon bei der "Zeit", und da saß ich mit Rudolf Walter Leonhardt und Rudolf Augstein zum Mittagessen in dem Hotel Vier Jahreszeiten – es klingt sehr luxuriös, war es auch –, und da sollte Marcel Reich-Ranicki vorreiten und eine Kritik über Heinrich Böll abliefern. Er war ja in der "Zeit" damals Kritiker, durfte allerdings nie in die Redaktion und nie an den Konferenzen teilnehmen, und er brachte Rudolf Walter Leonhardt ein Manuskript über ein Buch von Heinrich Böll. Und Rudolf Walter Leonhardt erbleichte, das war nämlich ein Totalverriss dieser Ikone der deutschen Nachkriegsliteratur, und er sagte zu Reich: Aber so können wir das nicht drucken. Und Reich sagte: So werden Sie es drucken oder Sie werden es überhaupt nicht drucken. Und so hat er es dann auch gedruckt, er war erschrocken von der Entschlossenheit. Marcel Reich-Ranicki war nämlich von Anfang an ein unerbittlicher Rechthaber, weil er, wie ich später lernte, unerbittlich auch recht hatte.
Scholl: Marcel Reich-Ranicki wird 90 und wir würdigen den Literaturkritiker hier im Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit Hellmuth Karasek. Es gibt ja zahlreiche Anekdoten über seine – ja wirklich im Wortsinn – Literaturbesessenheit. Etwa man sitzt mit ihm im Zug und draußen ziehen die Alpen oder ein malerischer See vorbei, Reich-Ranicki verschwendet keinen Blick daran und redet weiter über Kafka. Haben Sie auch solche ähnlichen Szenen erlebt, Herr Karasek?
Karasek: Also, ich war mal ein Jahr später als er in Middlebury, im herrlichen Vermont, Gastdozent oder Gastprofessor an der Summer School. Und die Middlebury-Professoren waren wahnsinnig stolz über die hinreißende Landschaft, die sich im Indian Summer auch noch blutrot verfärbte, sanfte, grüne Hügel, ein Wasserfall, der links in einen See schoss, rechts öffnete sich weit ein Tal. Und das zeigten mir die Professoren dort stolz und sagten: Letztes Jahr war Reich-Ranicki da, und er hat sich das auch angeguckt und er war auch beeindruckt; wir schwiegen alle, und dann sagte Reich-Ranicki: Ich hätte den Wasserfall nach links verlegt. Also, er rezensierte selbst die Natur und Gott. Ich habe ihn Jahre später auf diese Geschichte angesprochen und er hat also mehrere Antworten gehabt, einmal sagte er, so war es gar nicht und das ist auch nicht wahr, aber schön erfunden – jedenfalls hat er dann gesagt, er wollte nicht in die allgemeine Begeisterung verfallen. Und über sein Gottes-Gnadentum als Kritiker – das ein Kritiker hat, der in Wahrheit nicht an Gott glaubt, was eine sehr schöne und seltsame Konstellation ist –, ... Wir hatten in Salzburg ein "Literarisches Quartett", da herrschte ein furchtbares Sommergewitter, das Quartett war immer im August, und die Kuppel der ORF, also des Österreichischen Fernsehens, war offen, um die schwüle Luft besser aushalten zu können. Und auf einmal – Reich besprach gerade Walsers Buch "Die Verteidigung der Kindheit", und er besprach es, um es vorsichtig auszudrücken, ziemlich ungnädig – blitzte es oben und ein grollender Donner folgte. Und da hob er seine Hände gegen Himmel, drehte die Augen nach oben und sagte: Man wird doch noch was gegen Walser sagen dürfen! Also, er hat auch gegenüber dem Himmel seine Kritiken verteidigt.
Scholl: Stichwort "Literarisches Quartett", Herr Karasek – 13 Jahre moderierte, leitete Marcel Reich-Ranicki dieses Fernsehformat und Sie gehörten zu den Mitstreitern die ganze Zeit. Das war ja auch der Sprung so zum Megastar, könnte man sagen, der ihn dann bis aufs Sofa von "Wetten, dass ... ?" zu Thomas Gottschalk brachte. Hat ihn dieser neue, ja weitaus größere Ruhm eigentlich verändert?
Karasek: Ich glaube, es gibt jetzt in den Geburtstagsartikeln eine wunderbare Beobachtung – "wunderbar" sage ich jetzt auch schon wie er "fabelhaft": Er wohnt immer noch in einer Neubauwohnung mit niedriger Decke im Frankfurter Dichterviertel. Dichterviertel heißt das, weil dort die Straßen alle nach Schriftstellern benannt sind. Und er wohnt dort sehr bescheiden, er genießt gern sehr einfache Ferien, die nach altem Muster immer noch Sommerfrischen heißen, also, er hat von seinen Lebensumständen eine natürliche Bescheidenheit und ist insofern auch nicht zu verderben durch Ruhm.
Scholl: Herr Karasek, wenn Sie Marcel Reich-Ranicki nun auf einer Geburtstagskarte mit einem Satz gratulieren sollten, was würden Sie schreiben?
Karasek: Möge uns die Erde leicht werden! In alter Verbundenheit, dein Weggefährte Hellmuth Karasek!
Scholl: Ich danke Ihnen für das Gespräch, Hellmuth Karasek, und wir werden hier in diesem "Radiofeuilleton" Marcel Reich-Ranickis 90. Geburtstag noch weiter begleiten.