Ein Literaturpreis für die innere Ruhe

Von Guylaine Tappaz |
Der Autor und Filmregisseur Atiq Rahimi stammt aus Afghanistan und lebt seit fast 25 Jahren in Frankreich. In allen seinen Büchern geht es um sein Heimatland. Im vergangenen Jahr erhielt den Prix Goncourt, eine der bedeutendsten literarischen Auszeichnungen in Frankreich.
Atiq Rahimi ist im gut besuchten Café Select in Paris leicht zu erkennen. Seine Merkmale? Neben der rechteckigen, schwarzen Brille: eine Weste, heute braun, ein farblich passendes Tuch dazu – und vor allem einen geschwungenen Hut.

Als Rahimi ihn ablegt, stellt sich heraus, dass er erste Ansätze einer Glatze im sonst schulterlangen, schwarzen Haar verbirgt.... Aber Atiq Rahimi, 47 Jahre alt, trägt den Hut aus einem anderen Grund.

"In der jüdischen Kultur ist der Hut da, um dich daran zu erinnern, dass es jemanden über Dir gibt. Wie soll ich meinen Hut deuten? Ich dagegen trage ihn, um mich vor demjenigen zu schützen!"

Im neuen Roman von Atiq Rahimi "Stein der Geduld" heißt dieser Gott Allah. In Afghanistan oder anderswo - schreibt der Autor im Vorwort - liegt ein Mann mit einer Kugel im Nacken bewusstlos in einem schmucklosen Zimmer. Seine Frau wacht und betet für ihn. Doch: allmählich fängt sie an, zu erzählen. Von ihrer Einsamkeit, ihren Demütigungen und Lügen in der Zwangsehe. Und auch von ihrer sexuellen Begierde.

Zitat aus dem Buch "Stein der Geduld":
"Wenn ich sah, wie du kamst, als Einziger kamst, hat mir das nichts ausgemacht. Im Gegenteil, ich freute mich. Ich sagte mir, das ist unsere Natur. Ihr Männer habt Euer Vergnügen, und wir Frauen freuen uns darüber. Das reichte mir. Aber für mein eigenes Vergnügen musste ich selbst sorgen, indem ich mich berührte."

"Manche sagen, keine afghanische Frau würde sich trauen, so etwas zu sagen. Das ist mir aber egal."

"In Frankreich habe ich mich nie fremd gefühlt, in meinem eigenen Land Afghanistan schon", sagt Rahimi. Er ist 1962 in Kabul geboren, in einer wohlhabenden, liberalen Familie, in der man neben den persischen Autoren Hugo, Tolstoi oder Dickens las. Sein Vater war Gouverneur einer Provinz, seine Mutter Grundschullehrerin.

Als der König gestürzt wurde, zerbrach die Familie. Der Vater wurde verhaftet. Der ältere Bruder wandte sich dem Kommunismus zu und versuchte, Atiq dafür einzuspannen. Er dagegen bezeichnete sich damals als Anarchist und weigerte sich, seinen vierjährigen Militärdienst unter den neuen, sowjetischen Besatzern zu machen. Im Dezember 1984 floh er. Über Pakistan nach Frankreich.

"Ich bin neun Tage und neun Nächte gelaufen, um an die pakistanische Grenze zu gelangen. Hier machte der Schlepper eine Pause und bat uns, ein letztes Mal auf unser Land zurückzuschauen. Hinter uns sahen wir unsere Spuren im Schnee. Vor uns war er intakt. Ich sah schon mein Leben jenseits der Grenze: es war ein weißes Blatt, das zu füllen war."

In Frankreich erhält Rahimi Asyl, lebt in einem Flüchtlingsheim in der Normandie, stürzt sich in das Literatur- und Filmstudium. Seine Doktorarbeit schreibt er in Paris über die Schlussszenen von Filmen - und will selbst Filme drehen.

Afghanistan spielt kaum noch eine Rolle in seinem Leben. Bis 1996. Die Taliban ergreifen die Macht. Im gleichen Jahr bekommt Atiq Rahimi eine Tochter. Nachts, zwischen zwei Milchflaschen, schreibt er seinen ersten Roman - für sie. "Erde und Asche" - ein Buch über Trauer und Rache in Afghanistan. Nach dem Sturz der Taliban kehrt Rahimi 2002 zum ersten Mal zurück, um sein Buch zu verfilmen – nach 18 Jahren Exil.

"Ich habe mein Land nicht wieder erkannt. Kabul war völlig zerstört, der Blick der Menschen war so traurig und bestürzt. Es war wie in einem Film, einem Alptraum. Ein Gedichtsvers auf der Windschutzscheibe eines Autos hat mir geholfen, die Realität zu akzeptieren. Darauf stand: Irgendwann geht alles vorüber."
Seitdem setzt sich Rahimi für die Afghanen ein, vor allem für Jugendliche. Mit ihnen hat er unter anderem die erste, afghanische Soap Opera fürs Fernsehen entwickelt. Er hat ihnen beigebracht, wie man ein Drehbuch schreibt und es verfilmt.

Bis er letztes Jahr den renommierten Prix Goncourt für seinen Roman erhielt, reiste er alle zwei Monate nach Kabul. Nun reist Rahimi um die Welt, um sein Buch im Ausland vorzustellen. Doch der Literaturpreis hat ihm vor allem eins gebracht: innere Ruhe.

"Es klingt vielleicht widersprüchlich, aber heute vertraue ich meinen Zweifeln, vor allem über mein Schreiben. So oft wollte ich meine Texte in den Müll werfen, ich traute mich nicht, anderen meine Bücher zu zeigen. Jetzt verstecke ich mich nicht mehr."