"Ein Mann von äußerster Konsequenz"

Cees Nooteboom im Gespräch mit Dieter Kassel |
Der Freund des niederländischen Schriftstellers Harry Mulisch, Cees Nooteboom, bezeichnet dessen Werk als "sehr, sehr vielseitig". Dass sich die Lücke, die Mulisch durch seinen Tod hinterlässt, schließen lässt, glaubt er nicht: "Bestimmte Sachen sollen auch als Lücke da bleiben."
Dieter Kassel: Am Samstagabend um 20 Uhr ist in Amsterdam der niederländische Schriftsteller Harry Mulisch gestorben. 83 Jahre alt ist er geworden, berühmt wurde er in Deutschland vor allen Dingen für seine beiden Romane "Das Attentat" aus dem Jahr 1982 und "Die Entdeckung des Himmels" aus dem Jahr 1992. Seit Anfang der 50er-Jahre hat Harry Mulisch aber viel mehr als nur diese beiden Bücher geschrieben – weitere Romane, Lyrik, er hat Drehbücher verfasst und sogar Opernlibretti. Es gibt einen anderen berühmten niederländischen Schriftsteller, der mehr als 55 Jahre lang mit Harry Mulisch befreundet war. Es ist der Schriftsteller Cees Nooteboom, der im Moment gerade in Deutschland unterwegs ist und den ich jetzt am Telefon begrüßen darf. Schönen guten Tag, Herr Nooteboom!

Cees Nooteboom: Guten Tag!

Kassel: Sie waren befreundet – wann haben Sie sich denn das letzte Mal gesehen vor Harry Mulischs Tod?

Nooteboom: Ja, das ist eigentlich mehrmals in die letzten Zeiten. Erst mal, er wusste, dass und woran er sterben sollte, das war dann nicht ein publikumsbekanntes Etwas, aber wir wussten es schon, und auch der Wahl, der er hatte. Und dann habe ich ihn aufgesucht, wusste dann nicht, wie lange es noch dauern sollte, bin nach China, Korea ja dann gewesen und zurückgekommen. Und dann, wir hatten einen Essklub mit so acht verschiedenen Leuten, Künstler, aber auch der Ex-Minister vom Auswärtigen Amt, so ein Club, der jeden Montag zusammenkam. Und als das dann nicht mehr möglich war, sind wir jeden Montag noch zu ihm gegangen, die hohen Treppen zu seinem Haus.

Und in diesem Sinne ist es relevant, was heute Morgen einer meiner Freunde und seiner Freunde mir schickte, also ein Interview, was er gegeben hatte aus 2002: Angst vor dem Tod habe ich nicht. Ich werde nie nach Wahrheit der Sinn sagen können, ich bin tot, denn dann bist du tot. Tot bist du nur für die Umstände, die sagen, jetzt ist er tot, aber so für sich selbst ist er das nicht, denn er ist tot, er ist nichts mehr. Also das Einzige, was man fürchten kann, ist die Weise vom Sterben. Und das nun gerade – das sage ich dann wieder, nicht mehr er – ist, was er so souverän und ja, man könnte fast sagen heroisch getan hat. Mulisch hatte in seinem Leben – ich habe ihn, wie Sie sagen, über 50 Jahre gekannt – mehrmals Krebs, einmal auch im Magen, und dann hat man ihm vorgeschlagen: Wir nehmen ein Stück Ihres Magens weg. Und dann hat er gesagt: Nein, Sie nehmen den ganzen weg. Und als wir ihn dann nachher im Krankenhaus besucht haben, die Freunde, dann hat er gesagt: Ich hab gesehen, ihr habt mehr Angst als ich. Und das nun war er: ein Mann von äußerster Konsequenz. Und als er wusste, dass es diesmal das letzte Mal war, da hat er uns empfangen, saß in seinem Sessel, wollte oder es kam einfach nicht, dass man über die Krankheit redete – man redete über die Welt. Und er saß da sehr souverän, und so ist es bis zum Ende geblieben. Ich war die letzte Woche in Spanien, also ich war nicht sozusagen dabei, aber von den Freunden habe ich gehört, es ist eigentlich so gegangen bis zum letzten Augenblick. Und das war es.

Kassel: Lassen Sie uns doch zurückgehen, Herr Nooteboom, zu den ersten Augenblicken Ihrer Freundschaft. Wenn Sie sagen, 50, 55 Jahre, ein bisschen mehr, das muss also zu einer Zeit gewesen sein, in den 1950er-Jahren, als Harry Mulisch gerade anfing als Schriftsteller, als er noch ein relativ junger Mann war. Wie sind Sie sich denn damals begegnet?

Nooteboom: Ja, wie das dann so geht, das ist fast in einem Urmist verschwunden, muss ich sagen. Ich weiß das, er wohne damals noch in Harlem, eine Stadt, die er auch in früheren Schriften metabolisiert hat. Er war dann schon bekannt von ein paar Büchern. So geht das mit Generationen. Ja, er ist 83 geworden, ich bin jetzt 77. Diese sechs Jahre Unterschied machen später nichts mehr, aber früher ist es dann doch etwas anderes. Er hatte schon publiziert, und da kam ich mit meinem allerersten Roman, "Das Paradies ist nebenan" oder "Philip und die anderen", wie das bei uns hieß. Ja, und dann begegnet man sich. Und er war nun, muss man sagen, ein ganz anderer. Er war in bestimmten Aufsichten auch schon viel weiter, würde ich sagen. Und sein erster wichtiger Roman, den man in Deutschland, soweit ich weiß, sicher übersetzt ist, aber den man nicht wirklich kennt, das ist "Archibald Strohalm", so hieß das. Und ich weiß noch, dass als er 80 wurde, und das darf sehr fremd klingen, das Buch hatte ich nicht gelesen. Und dann dachte ich plötzlich, jetzt lese ich mal sein erstes Buch – als er 80 wurde. Und das ist ein wahnsinniges Buch. Dann habe ich auch ihm gesagt: Harry, das hast du damals geschrieben, um nicht wahnsinnig zu werden. Auf so etwas sollte er nie reagieren, dann lachte er nur etwas, aber das behalte ich so, diesen Eindruck. Dann hat er Bücher geschrieben wie "Das schwarze Licht", wie "Alte Luft", alles, was man, glaube ich, doch in Deutschland nicht kennt.

Kassel: Ja, "Archibald Strohalm" kennt man ein bisschen. Man muss ganz ehrlich bleiben, die beiden großen Romane, die wirklich auch in Deutschland jeder kennt und viele auch wirklich gelesen haben, man sagt das ja auch gerne, sind natürlich "Das Attentat" und "Die Entdeckung des Himmels", aber den erwähnten Roman kennt man auch, und das ist ein Roman über einen Puppenspieler und das ist natürlich eines der vielen Bücher von Harry Mulisch, in denen er letzten Endes ja auch seine eigene familiäre Herkunft verarbeitet, sein eigenes Leben. Er hatte ja mehrmals gesagt: Ich bin der Zweite Weltkrieg. War das eigentlich für Sie beide auch ein Gesprächsthema?

Nooteboom: Das war sicher, denn das habe ich natürlich sehr, sehr – Verzeihung, dieser Stuhl – das war natürlich ein Thema. Weil ich habe meinen Vater im Krieg verloren. Sein Vater war eigentlich ein Kollaborateur, arbeitete für eine deutsche Bank. Seine Mutter war jüdisch, also insofern hat er immer behauptet, ich bin der Zweite Weltkrieg, weil er praktisch an beiden Seiten, ja, gespalten war, so könnte man das so ein bisschen sagen. Der Weltkrieg aber war für ihn das absolute Thema, und Nazismus auch und Deutschland auch. Da hatten wir einen Freundeskreis damals, um einen alten Dichter herum, der selbst in Dachau gewesen war oder in Buchenwald, weiß ich jetzt nicht, einer der zwei, und da gab es noch einen Freund, viel jünger, der als Widerstandskämpfer in Natzweiler war und dann später mit den Alten in anderen KZ. Und das war der Nukleus dieses Kreises. Und was da wie ein Exorzitium immer gemacht wurde, ist Kriegsfilme – ich meine nicht fiktionale, aber Kriegsdokumentationen. So die deutsche Besatzung in den Niederlanden – da war und blieb eine immerwährende Faszination, und das ist dann auch dazu gekommen, dass er dem Prozess Eichmann beigewohnt hat und darüber ein geniales, finde ich, Buch geschrieben hat, "Strafsache 40/61", was auch zu wenig in Deutschland bekannt ist.

Kassel: Wir reden im Deutschlandradio Kultur gerade mit dem Schriftsteller Cees Nooteboom über seinen Kollegen und vor allen Dingen jahrzehntelangen Freund Harry Mulisch, der am Samstagabend gestorben ist. Nun waren wir über dieses Buch über den Eichmann-Prozess ja jetzt ziemlich natürlich auch gerade zu dem politischen Denker und Mitdebattierer Harry Mulisch gekommen, Herr Nooteboom, der hat sich sehr für linke Politik geäußert in den 1960er-, 70er-Jahren, war ein großer Anhänger von Fidel Castro lange Zeit. Wie war das eigentlich in den letzten Jahren, hat er in den Niederlanden noch an politischen Debatten, Stichwort Rechtspopulismus und andere Fragen, aktiv teilgenommen?

Nooteboom: Er hat darüber gesprochen, aber nicht mehr sich öffentlich sagen wir engagiert. Ich muss auch sagen, wir waren Freunde, und auch in unserem Klub, das waren die Leute, die einander dann immer sahen, waren auch Freunde, die mit Harry politisch nicht einverstanden waren. Und es gab die Periode zum Beispiel, ich weiß nicht, ob Sie das noch wissen, die Cruise Missiles, die Kreuzraketen. Einer von uns war der niederländische Verteidigungsminister, ja, und die anderen taten mit an Demonstrationen gegen die, und er musste natürlich die Existenz davon verteidigen. Ich hatte selbst in 1956 Budapest miterlebt, also politisch waren Mulisch und ich öfters nicht einverstanden. Ich war auch nicht dabei bei der Gruppe, die – wieder eine andere Gruppe – die Oper "Reconstruction" gemacht hat, eine Pro-Kuba-Oper. Aber als man dann später – Mulisch war natürlich ein Mensch von großer Konsequenz - als dann später Journalisten kamen und sagten, ja, jetzt ist es doch 50 Jahre später und sieh mal jetzt, diesen Castro und politische Gefangene und all das, dann hat er nur einen apodiktischen Satz, wo ??? auch immer schwiegen, und dann hat er gesagt: Ich spucke nicht in den Brunnen, woraus ich getrunken habe. Und das war es dann. Darüber war dann auch weiter nicht zu reden.

Kassel: Er ist 83 Jahre alt geworden, er hinterlässt den Niederlanden, Europa und der ganzen Welt viele großartige Bücher, und natürlich gibt es auch – ob nun in Deutschland wahrgenommen oder nicht – jüngere Autoren in den Niederlanden, die eine Bedeutung haben, aber diese Lücke, die Harry Mulisch nun lässt durch seinen Tod, kann man die irgendwie schließen?

Nooteboom: Nein, ich glaube nicht, denn es ist so: Bestimmte Sachen sollen auch als Lücke da bleiben. Er hat sie gefüllt, mit einer natürlich, doch in einem Land, sicher als er, sagen wir antrat, der realistischen Literatur, war er eine ganz wunderbare Erscheinung: Mythos, Transzendenz, Kabbalistik, Esoterik – alles hat er hineingeholt. Das sieht man dann nicht in bestimmten Büchern, aber dann wieder in anderen. Das Oeuvre ist sehr, sehr vielseitig. Er hat die Leute auch immer wieder neu überrascht, so muss man das sehen.

Kassel: Zum Schluss ein Tipp für die vielen Deutschen, die eben nur diese beiden Bücher kennen, "Die Entdeckung des Himmels" und "Das Attentat": Sie haben das Buch aus dem Jahr 59 schon erwähnt – wenn man noch ein Drittes lesen möchte, welches würden Sie uns dringendst ans Herz legen?

Nooteboom: Na, es gibt mehrere. Es gibt "Höchste Zeit", das ist ein Theaterbuch, ich meine, ein Roman, der über einen Schauspieler, der im Krieg wieder das Kriegsthema, im Krieg an der falschen Seite gestanden hatte. Es ist aber ein wunderbarer Roman. Dann gibt es einen kleineren Roman, "Zwei Frauen", und aber autobiografisch gibt es Bücher wie "Selbstporträt mit Turban" oder " Paralipomena Orphica", es gibt ja wirklich sehr, sehr viel, und es lohnt sich. Da ist ein, ich würde sagen, da hat Hanser und mein lieber Freund Michael Krüger etwas zu tun, um zu sorgen, dass das Oeuvre in seiner ganzen Verschiedenheit mal deutlich wird hier.

Kassel: Wir werden das …

Nooteboom: Dabei hat er auch noch ein Riesenopus philosophicum geschrieben, das nie übersetzt worden ist und das von den offiziellen Philosophen auch nicht sehr geachtet ist, aber ein Buch, worauf er selbst sehr stolz war. Das müssen Sie mal nachrecherchieren.

Kassel: Wir werden das an Michael Krüger, mit dem wir gestern ja auch schon gesprochen haben, über Harry Mulisch weitergeben, und ich glaube, da bleibt eine Menge, was wir jetzt noch tun können. Cees Nooteboom, ich danke Ihnen herzlich für dieses Gespräch!

Nooteboom: Gerne, danke sehr! Wiederhören!

Kassel: Wiederhören, Herr Nooteboom! Cees Nooteboom war das, über seinen Freund und Kollegen Harry Mulisch. Der niederländische Schriftsteller Harry Mulisch ist am Samstagabend im Alter von 83 Jahren gestorben.
Der niederländische Schriftsteller Cees Nooteboom
Der niederländische Schriftsteller Cees Nooteboom und Harry Mulisch waren seit Jahrzehnten gut befreundet.© AFP
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