Ein Mann will nach oben

Von Günter Franzen |
Es ist degoutant, dass Gerhard Schröder ohne mit der Wimper zu zucken den Aufsichtsratsvorsitz des deutsch-russischen Gaspipeline-Konsortiums übernimmt. Dabei stellt sich auch die Frage: Gibt es nicht auch für ausscheidende Spitzenpolitiker eine nachwirkende Pflicht, die aus der Würde des Amtes erwächst?
Der ehemalige SPD-Bundesgeschäftsführer und Berliner Wissenschaftssenator Peter Glotz hat kurz vor seinem Tod im Sommer des Jahres 2005 seine Lebensgeschichte zu Papier gebracht; eine Geschichte, die in dem in jeder Hinsicht verwüsteten Nachkriegsdeutschland spielt und mit einer Kränkung beginnt.

Der sechsjährige Junge aus Böhmen, den es mit seiner Mutter im September 1945 in die bayerische Provinz verschlägt, stößt bei den Einheimischen auf eine undurchdringliche Wand der Ablehnung: Niemand will mit dem ungeliebten, zwangseinquartierten Flüchtlingskind spielen. Der erste Schnitt, so heißt es, ist der tiefste und Peter Glotz macht in seinen späten Aufzeichnungen keinen Hehl daraus, dass er diese frühe Verletzung Zeit seines Lebens auf seine Weise zu heilen suchte: "Ich kam von unten, ich wollte hoch."

Dass der tote Peter Glotz neben den frühen, aus materieller Not und sozialer Ausgrenzung erwachsenen Verlusterfahrungen mit seinem lebenden Parteigenossen Gerhard Schröder den handlungsleitenden Imperativ des Aufstiegs teilt, zieht die Frage nach sich, warum die von Brüchen und Rückschlägen durchzogene Lebensgeschichte des europäischen Intellektuellen Glotz durchweg Anteilnahme und Bewunderung weckt, während man dem haltlosen Agieren des umtriebigen, derzeit mit seiner finanziellen Altersicherung befassten Bundeskanzlers außer Diensten nur noch mit Ratlosigkeit oder Empörung begegnen kann.

Die Erklärung für das bestehende Sympathiegefälle liegt auf der Hand: Zwei politische Akteure wollen nach oben, aber was sie sinnfällig voneinander unterscheidet, ist die Wahl der Mittel.

Im öffentlichen Diskurs werden Gerhard Schröder im Rückblick nicht selten Qualitäten zugebilligt, deren Verführungskraft auch ich als aggressiv eher gehemmter männlicher Wähler über zwei Legislaturperioden hinweg erlegen bin: seine Risikofreude, seine Kaltblütigkeit, sein brachialer Charme und seine Fähigkeit, mit dem Rücken zur Wand alle Kräfte zu mobilisieren, waren beeindruckend.

Im Hinblick auf die Ereignisse seit seiner Abwahl wurden die Zweifel allerdings unüberhörbar: Sollte die machohafte Attitüde, mit der er Angela Merkel als armes Hascherl aus dem Osten lächerlich zu machen suchte, weniger der souveränen Virilität eines rüstigen Endfünfzigers als vielmehr dem Rückgriff auf ein halbstarkes Rüpelrepertoire entspringen, das seit dem Ausscheiden aus dem Fußballverein Hannover-Talle keine wesentliche Erweiterung erfahren hat: die Blutgrätsche als ultima ratio der politische Auseinandersetzung?

Gerhard Schröders Entscheidung, den Aufsichtsratsvorsitz in der von der russischen Regierung beherrschten Gesellschaft zu übernehmen, die den Bau der Gaspipeline durch die Ostsee betreibt, ist von Presse und Rundfunk hinlänglich kommentiert worden: Hätte der Ex-Kanzler nicht eine gewisse Zeit warten müssen, eine Schamfrist beachten sollen zwischen Politik und Geschäft? Gibt es nicht auch für ausscheidende Spitzenpolitiker eine nachwirkende Pflicht, die aus der Würde des Amtes erwächst? Was ist ein solches Amt wert, wenn es von seinem Träger so nachlässig abstreift wird wie ein Leihsmoking aus dem Kostümverleih?

Diese Fragen sind sicher nicht überflüssig, aber sie verfehlen möglicherweise den Kern des Problems, das darin besteht, dass die Fragen den Befragten überhaupt nicht berühren.

Wenn man die verschiedenen Reizthemen, die mit der Kanzlerschaft Gerhard Schröders verbunden sind, assoziativ Revue passieren lässt, den Aufstand der Anständigen, das militärische Engagement auf dem Balkan, die Zurückweisung der amerikanischen Intervention im Irak, die strategische Partnerschaft mit dem russischen Neo-Despotismus, die Bekämpfung der Oderflut, die Agenda 2010 und deren prompte Konterkarierung im Wahlkampf, die Freundschaft mit Künstlern und der gleichzeitig geschürte Antiintellektualismus in der Schlacht gegen Paul Kirchhof, bleibt keine der Kampagnen haften - vorübergehend bediente kollektive Erregungszustände, die mit sinkenden Umfragewerten dem Vergessen anheim fallen.

Dass Gerhard Schröder ohne mit der Wimper zu zucken als Putins Repräsentant ins Schweizer Steuerparadies zieht, ist degoutant. Dass er als Mann ohne Eigenschaften die Zukunft einer flexiblen und überzeugungsfreien Politik verkörpern könnte, ist erschreckend.

"Schröder", notiert Peter Glotz am Ende nicht ohne Anerkennung, "bot als Artist in der Zirkuskuppel atemberaubende Kunststücke. Am Schluss aber hat er sich versprungen."


Günter Franzen, Jahrgang 1947, lebt als freier Schriftsteller und Gruppenanalytiker in Frankfurt/Main. Buchveröffentlichungen u.a.: "Der Mann, der auf Frauen flog", Hamburg 1988. "Komm zurück, Schimmi!", Hamburg 1992. "Ein Fenster zur Welt. Über Folter, Trauma und Gewalt", Frankfurt/Main 2000.