Ein Meister des hohen C
In den 60er Jahren begann der Aufstieg des italienischen Tenors Luciano Pavarotti mit Auftritten in der Mailänder Scala und der Metropolitan Opera. Aber erst als er eine berühmte Arie mit vielen hohen Cs gesungen habe, sei dies der Beginn einer großen internationalen Karriere gewesen, meint Jürgen Kesting, Autor des Buches "Die großen Sänger des 20. Jahrhunderts".
Holger Hettinger: Es war ein Abschied mit Ansage. Schon seit gut einem Jahr häufen sich die Meldungen über den kritischen Gesundheitszustand von Luciano Pavarotti, heute Morgen dann die Meldung, Luciano Pavarotti ist tot. Gestorben im Alter von 71 Jahren. Was Luciano Pavarotti so einzigartig gemacht hat in der Sängerlandschaft, das ist nun unser Thema. Wir sprechen mit Jürgen Kesting. Er ist Musikkritiker, Publizist und er hat ein Buch geschrieben: "Die großen Sänger" heißt es. Er ist einer der profiliertesten Kenner der Gesangskunst und nun im Studio von Deutschlandradio Kultur. Schönen guten Tag, Herr Kesting!
Jürgen Kesting: Guten Tag!
Hettinger: Herr Kesting, eine Frage an den Autor des Buchs "Die großen Sänger". Was hat Pavarotti so groß gemacht?
Kesting: Ich will es nicht auf einen Ton reduzieren, aber … (Anmerk. d. Red.: Name im Hörprotokoll unverständlich), der große Librettist, hat einmal gesagt: Jedes genau getroffene oder gut getroffene hohe C ist ein Beweis dafür, dass wir nicht die ohnmächtigen Opfer des Schicksals sind. Und der junge Pavarotti ist – und das ist für Tenöre ja halt wichtig – als "the king of the high C" berühmt geworden. Man kann ihn um Gottes Willen nicht darauf reduzieren, auf den einen Ton. Aber der Mythos des Tenors hängt nun mal an diesem Ton. Und der junge Pavarotti, als er an die Metropolitan Opera kam, Ende der 60er Jahre, hat er Rudolfo gesungen, er wurde als sehr guter Sänger anerkannt, bekam gute Kritiken. Die zweite Aufführung musste er absagen, weil er krank war. Dann hat er ein Jahr später noch mal ein paar Aufführungen gesungen. Aber erst, als er die "Regimentstochter" mit dieser berühmten Arie mit einem halben Dutzend hohen Cs gesungen hat – er hat die Partie in New York gesungen und dann in sieben anderen amerikanischen Städten bei einer Tournee der Met –, und das waren wirklich die Salutschüsse einer ganz, ganz großen Karriere. Von '65, '66, als er so langsam bekannt wurde, bis Anfang der 70er war er ein hoch geschätzter brillanter lyrischer Tenor, die Erneuerung des romantischen Tenors, also ein Typus, der auf der Bühne ganz, ganz rar geworden war, also ein hellstimmiger, rein tenoral klingender Sänger. Nicht wie Domingo, der eine Bariton-Tinte hat, mit brillanter Höhe. Und dann hat er eine Ausstrahlung gehabt – selbst, als er ganz dick geworden war. Er konnte mit den Augen mit 15 Millionen Menschen am Fernsehschirm flirten. Das war eine Fähigkeit von ihm.
Hettinger: War das so dieser klassische Heldentenor, wie man ihn …
Kesting: Nein, nein, nein, er war kein Heldentenor. Er war ein lyrischer Tenor, gerade zu Anfang, für das romantische Repertoire. Der Heldentenor wird ja erst mit Wagner eigentlich richtig erfunden. Und Wagner wäre für ihn gar nicht denkbar gewesen.
Hettinger: Pavarotti hat einmal gesagt: Meine Stimme liebt Donizetti, ich will aber Verdi singen. Was hat er damit gemeint, und wie hat sich dieser Spagat geäußert?
Kesting: Er hat als junger Mann die romantischen Liebhaberrollen, die romantischen Tenorpartien gesungen, also Bellini, Arturo und El Vino, alles lyrische Partien, die sehr hoch lagen. Als er 40 wurde und auch 30 Kilo schwerer war, konnte man einem Mann von Mitte 40 – die Römer würden sagen – nicht mehr der Jüngling, sondern der Vir, der Mann, dem konnte man diese jugendlichen Liebhaberrollen nicht mehr in dem Maße abnehmen. Also musste er an die etwas schweren Partien – man sagt Spinto-Partien, gepuschte Partien, wo ich mit mehr Kraft singen muss, mit mehr Volumen singen muss. Volumen geht meistens auf Kosten der hohen Töne – musste er sich umstellen. Und auch '77, '78, '79 gibt es Aufnahmen, die bezeugen, dass die Stimme etwas strapazierter war, dass sie angespannter war, dass er hohe Töne mit einem Nachatmer, einem Nachstoßen beendet hat. Das ist ihm nicht ganz leicht gefallen. Dass er technisch ungeheuer versiert war und gut geschult war, zeigt sich daran, dass er ‛61 debütiert hat als Rudolfo und noch Ende der 90er Jahre immer noch technisch, stimmlich in erstaunlich guter Verfassung war. Und als Tenor mit einer hellen Stimme, 40 Jahre, das ist eine ganz riesige Leistung.
Hettinger: Wenn jetzt die Rede von Pavarotti ist – die Agenturen suchen nach Synonymen, und dann findet man oft den Begriff "der Bäckerssohn aus Modena". Welchen Hintergrund hatte Luciano Pavarotti, und wie sind seine Ausbildungsstationen verlaufen?
Kesting: Der Vater war Bäcker, hatte eine sehr schöne Tenorstimme, hatte aber Bühnenangst und hat den Schritt auf die Bühne nie gewagt. Dann hat er bei Ettore Campogalliani studiert, das ist einer der ganz, ganz großen Namen unter den italienischen Lehrern, hat einen cleveren, guten Manager gehabt, das war – Alessandro heißt der, glaube ich, mit Vornamen – Ziliani. Der war ein erfolgreicher Tenor an der Mailänder Scala in den 40er Jahren, hat sich sehr früh ausgesungen. Der hat dann Pavarotti geraten, fang mal erst mit vier oder fünf Partien an. Pavarotti hat die ersten zwei, drei Jahre seiner Karriere nur als Herzog von Mantua, Rudolfo, Alfredo in "La Traviata" und vielleicht Nemorino bestritten, hat sehr, sehr langsam gelernt – also anders als Domingo, der eine Partie vom Blatt singen kann –, und Pavarotti hat viel, viel Zeit und Korrepetitoren gebraucht, um eine Partie zu studieren. Und mit den Partien ist er durch Europa gefahren zwei Jahre lang, auch Gastspiele in Warschau. Dann ist er nach England gekommen und hat beim Festival von Glyndebourn den Idamante in "Idomeneo" gesungen. Widerwillig, weil das mühsam war, die Partie zu studieren. Dort ist er aber durch eine Korrepetitorin an Joan Sutherland empfohlen worden. Und die brauchte für eine Australien-Tournee einen lyrischen Tenor und einen Mann, der so ähnlich wie sie groß und kräftig war. Und dann ist er da mit rübergegangen. Und Richard Bonynge, der Mann der Sutherland, Dirigent, hatte genau gemerkt, das ist genau der Mann, den ich brauche, um mit der Sutherland "Traviata", "Rigoletto", "Lucia di Lammermoor", "Il puritani", "La Sonnambula" und diese Opern zu machen. Das sind all die Opern, die er dann zu Beginn der 70er Jahre aufgenommen hat mit Sutherland als Partner. Und da war er natürlich ein unglaublich frisch klingender brillanter lyrischer Tenor mit einer sehr, sehr schönen Stimme. Ich habe ihn erlebt 1973 oder ‛74 in Hamburg – ich habe es nicht mehr genau im Kopf –, da hat er "Lucia" gesungen und da hat das Publikum noch mit Handschuhen geklatscht. Gar keine großen Reaktionen drauf, weil man in Hamburg an den dunkleren Klang von Domingo gewohnt hat, der in Hamburg damals das Idol war. Und dann kam auf einmal dieser riesige Durchbruch und die kultartigen oder meinetwegen auch die hysterischen Zustände, die haben wir ja alle noch in bester Erinnerung.
Hettinger: Luciano Pavarotti mit der fast schon legendären Arie aus Donizettis "Regimentstochter". Eine Aufnahme von 1968 war das. Jürgen Kesting, ist das seine Glanzzeit gewesen damals?
Kesting: Na gut, die Glanzzeit hat schon länger gedauert, aber es ist einfach so: Er ist 1935 geboren, und da war er 32, 33 Jahre alt, das ist natürlich der Hochsommer einer Tenorkarriere. Und das hat eine Leichtigkeit, eine Frische, eine Energie – also, die hohen Cs, die wippen ja wie von einem Trampolin in die Höhe. Das wird hochgefedert, völlig mühelos, der Ton sitzt. Ich habe übrigens einen ein Jahr früher entstandenen Mitschnitt, und der Mitschnitt ist, mit winzigen Einschränkungen, genauso brillant und genauso gut, also, er hat in dieser Zeit mit der Brillanz singen können.
Hettinger: Aber diese Leichtfertigkeit hat er auch gehabt, um diese Leistungen, ja, scheinbar mühelos abrufen zu können.
Kesting: Ja, so ganz mühelos ist es nicht, es ist ein erstaunliches Phänomen, dass Pavarotti beim Singen – vor allen Dingen, wenn Sie ihn auf der Bühne erlebt haben – dem Publikum immer gesagt hat, wie schwer er arbeiten muss. Er hat das Publikum immer mit einem treuen Dackelblick angesehen und gesagt, die Stretta, es ist eben diese verdammte Stretta, die so schwer ist; oder Idomeneo, die Rolle zu lernen ist so unheimlich schwer. Er hat das Publikum also immer auch die Härte dieser Arbeit spüren lassen. Alfredo Kraus, der immer den Eindruck vollendeter Mühelosigkeit hinterlassen hat, hat deshalb auch das Publikum nicht in dem Maße erreicht. Bei Pavarotti hat das Publikum mitgejubelt und auch ein bisschen mitgelitten.
Riesel: Sie haben das eben auch angesprochen – Pavarotti musste sich die Rollen mehr erarbeiten vielleicht als andere. Heißt das auch, kann man das umkehren, dass er im Grunde genommen fehlendes Talent durch Fleiß ersetzt hat?
Kesting: Nein, nein, also, was ich mit dem Lernen der Rollen meine, das ist ein rein musikalischer Vorgang, wie er eine Rolle studiert hat, nein, es war sein Geschick, sein kommunikatives Geschick, sein – meinetwegen – rattenfängerisches Geschick, das Publikum mit in das Boot seiner Anstrengungen, mitrudern zu lassen. Ein hohes C ist auch immer eine Angstnote. Ein Tenor, der das hohe C nicht geschafft hat, das der Erfinder des hohen C, Dupré, 1837 erstmals gesungen hat, hat sich das Leben genommen, hat sich in den Tod gestürzt, einer der größten Sänger der Romantik, weil er diesen Ton nicht erreicht hat. Also, "Spiel mir das Lied vom Tod" oder das hohe C ist ein ganz angemessener Titel dafür. Und jetzt kommt dieser Koloss von Mann, sehr charmant, und singt diese hohen Cs mit einer unglaublichen Mühelosigkeit, zeigt aber gleichzeitig, Leute, seht mal an, wie schwer das ist, diesen Ton zu singen. Und das kommt eben an. Also, Sie müssen erst mal in die Reihe runterkommen, was viele Sänger nie geschafft haben. Die haben immer eine Barriere, eine, sozusagen, die vierte Wand zwischen Publikum und dem Theater. Pavarotti hat das immer eingerissen, selbst vom Bildschirm herunter.
Hettinger: Welche Rolle hat seine Persönlichkeit gespielt? Er kam ja aus der Emilia-Romana, die Menschen dort gelten so ein bisschen als, ja, so wie die Ruhrpötter hierzulande, also eher kumpelige, schalkhafte, eher bodenständige Menschen. Hat ihm sein Naturell hier ein bisschen auch in die Hände gespielt bei der Darstellung dessen, was er so vermitteln wollte?
Kesting: Also, ich habe, als er zum ersten Mal in Hamburg gesungen hat, mit ihm zu Mittag gegessen, und dann sagt er plötzlich, also, jetzt unter uns Connaisseurs, wollen wir mal darüber reden, also, er hat einen sofort an sich herangezogen. Ich habe, also, vier Stunden lang in New York mit ihm gesprochen und auch ein Spiel gemacht, alle Witzchen über Tenöre. Er war bauernschlau, ungeheuer gewitzt, ungeheuer charmant und konnte genauso ungeheuer grantig werden, wenn ihm etwas nicht passte, zumal später, als er die Weltberühmtheit geworden war. Da haben natürlich auch tausend Leute an ihm gezerrt, und da muss man sich auch abschirmen und irgendwann sagen, das will ich jetzt nicht. Er war schon ganz umgänglich, wie er dann später im Kollegenkreis war, ist schwer abzusehen, er war ja ein Unternehmen geworden.
Hettinger: Ein Markenartikel.
Kesting: … ein Markenartikel geworden, ja …
Riesel: Luciano Pavarotti in einer Arie aus I Puritani von Vincenzo Bellini, 1969 ist diese Aufnahme entstanden.
Kesting: Und es war erkennbar eine Live-Aufnahme.
Hettinger: Das war es, ja, ganz genau.
Kesting: Man merkt es auch daran, dass der Ton, dieses hohe D, wahrscheinlich im Studio noch mal wiederholt worden wäre, weil es ganz knapp davor war, ein wenig zu spleißen. Das ist überhaupt keine Kritik daran.
Hettinger: Also, hohes D ist schon der Mount Everest der Gesangskunst, nicht wahr.
Kesting: Ja, vor allen Dingen, vor allen Dingen wenn man es vollständig singt. Er hat es ja nicht kopfstimmig gesungen, sondern mit voller Spannung gesungen, und da ist es ein immenses Risiko, einen Ton so anzugehen, das muss man einfach sehen. Was mich vor allen Dingen erstaunt, dass Riccardo Muti, der ein sonst sehr, sehr streng metrischer Dirigent ist, dass er ihm soviel Rubato-Zeit gegeben hat, um so auszuphrasieren und die Töne so zu halten.
Hettinger: Der wusste auch, was er da geboten bekommt.
Riesel: Jürgen Kesting, 1991 haben Sie auch ein Essay über Pavarotti geschrieben, ein Essay über den Mythos der Tenorstimme, ein Jahr zuvor: Fußball-WM in Italien und der erste Auftritt dieser großen drei Tenöre. Danach auch die Frage: Es hat ja eine große Folgegeschichte gehabt, die CD hat sich unglaublich gut verkauft. Pavarotti als Geschäftsmann – war das ein großer Aspekt für ihn?
Kesting: Ja, natürlich war das ein großer Aspekt. Die Herren litten also nach den 90er Jahren unter einer wirklich starken Überreizung der Erwerbsdrüsen, also, das war ganz auffällig. Als ich das Konzert damals gesehen habe, wie dann also am italienischen Nachthimmel "O sole mio" aufging, habe ich das als einen wunderbaren, höheren Jux der Kunst angesehen, das war schön, das machte Spaß. Dann wurde es ein Unternehmen, die CD wurde zehn oder elf Millionen Mal verkauft. Die Sänger bekamen jeder – wie in dem Buch von Herbert Breslin gesagt wird – ein Honorar angeboten, was sie damals für exorbitant hielten, nämlich 300.000 Dollar pro Sänger. Als die merkten, dass der italienische Agent, Dradi hieß der, und Decca Millionen gescheffelt haben, gab es Riesen-Zunder, und Decca musste an Pavarotti 1,5 Millionen Dollar nachzahlen, um ihn überhaupt zu behalten. Domingo, der immer für mehrere Firmen gesungen hat, konnte nicht soviel Geld rausholen, war stinksauer darüber. Das zweite Konzert, in Los Angeles war das, glaube ich, hat jeder drei Millionen Dollar für kassiert, und der Dirigent eine Million Dollar. Da wurde es das nackte Geschäft. Und dann hat Tibor Rudas in Amerika daraus eben ein Mammut-Unternehmen gemacht. Es wurde nur noch über Geld gesprochen. Und dann wurde in Zeitungen geschrieben, also, für die hohen Cs kriegen die so viel Geld – in keinem einzigen der Konzerte hat irgendeiner dieser Sänger ein hohes C gesungen. Das war gar nicht mehr in Reichweite. Das höchste war eben Vincero, am Ende von Puccinis "Nessun dorma" aus Turandot, und das ist ein H. Und dieses H war ein sicherer Ton auch nur bei Pavarotti, der rein gesangstechnisch seinen Kollegen ziemliche Lektionen erteilt hat.
Hettinger: Hat er sich damit geschadet? Es gibt ja etliche kritische Stimmen, gerade die eher puritanischen Musikkritiker haben gesagt, um Himmels Willen, da wird was zusammengerührt, was sowieso nicht zusammenpasst – wieso gibt er sich für so was her?
Kesting: Ich habe in meinem Büchlein über Pavarotti auch sehr heftig Kritik daran geübt. Dann bin ich eines Tages auf einen Brief gestoßen, der sagt, vielleicht werde ich eines Tages Millionär. Millionär, welch wunderbares Wort, was ist daneben schon Ruhm, Anerkennung, Ehre? Also, das ist eine wunderbare Definition.
Hettinger: Noten und Banknoten sind sich anscheinend wesensmäßig dann doch ähnlich.
Kesting: Ja, die Verwandlung von solchen schönen Noten in Banknoten hat für jeden Sänger eine Rolle gespielt, das ist einfach so, und es ist natürlich eine Entkunstung der Kunst, darüber müssen wir nicht diskutieren, aber man sollte dann vielleicht doch mit einigem Abstand sagen, der hat es schon in dieser Beziehung richtig gemacht. In Amerika in irgendeinem Magazin, hieß es: Pavarotti incorporated, also, eine GmbH & Co. KG waren die drei Tenöre.
Hettinger: Nun ist Pavarotti gestorben, im Alter von 71 Jahren. Was bleibt von ihm?
Kesting: Ich denke, die Erinnerung an einen ganz, ganz exzellenten Sänger, und ich hoffe, dass die Leute darauf zurückkommen, oder die Hörer darauf zurückkommen, den jüngeren Sänger der 60er, 70er, 80er Jahre als einen großen, einen der großen Tenöre des 20. Jahrhunderts in Erinnerung zu behalten. Er gehört sicher zu den fünf, sechs, sieben der ganz, ganz Großen.
Hettinger: Ein Jahrhunderttenor.
Kesting: Ja, auf jeden Fall.
Hettinger: Vielen Dank, Jürgen Kesting, Musikkritiker, Publizist und Buchautor. "Die großen Sänger" heißt der Titel seines Standardwerks, er ist einer der besten Kenner der Gesangskunst in Europa.
Jürgen Kesting: Guten Tag!
Hettinger: Herr Kesting, eine Frage an den Autor des Buchs "Die großen Sänger". Was hat Pavarotti so groß gemacht?
Kesting: Ich will es nicht auf einen Ton reduzieren, aber … (Anmerk. d. Red.: Name im Hörprotokoll unverständlich), der große Librettist, hat einmal gesagt: Jedes genau getroffene oder gut getroffene hohe C ist ein Beweis dafür, dass wir nicht die ohnmächtigen Opfer des Schicksals sind. Und der junge Pavarotti ist – und das ist für Tenöre ja halt wichtig – als "the king of the high C" berühmt geworden. Man kann ihn um Gottes Willen nicht darauf reduzieren, auf den einen Ton. Aber der Mythos des Tenors hängt nun mal an diesem Ton. Und der junge Pavarotti, als er an die Metropolitan Opera kam, Ende der 60er Jahre, hat er Rudolfo gesungen, er wurde als sehr guter Sänger anerkannt, bekam gute Kritiken. Die zweite Aufführung musste er absagen, weil er krank war. Dann hat er ein Jahr später noch mal ein paar Aufführungen gesungen. Aber erst, als er die "Regimentstochter" mit dieser berühmten Arie mit einem halben Dutzend hohen Cs gesungen hat – er hat die Partie in New York gesungen und dann in sieben anderen amerikanischen Städten bei einer Tournee der Met –, und das waren wirklich die Salutschüsse einer ganz, ganz großen Karriere. Von '65, '66, als er so langsam bekannt wurde, bis Anfang der 70er war er ein hoch geschätzter brillanter lyrischer Tenor, die Erneuerung des romantischen Tenors, also ein Typus, der auf der Bühne ganz, ganz rar geworden war, also ein hellstimmiger, rein tenoral klingender Sänger. Nicht wie Domingo, der eine Bariton-Tinte hat, mit brillanter Höhe. Und dann hat er eine Ausstrahlung gehabt – selbst, als er ganz dick geworden war. Er konnte mit den Augen mit 15 Millionen Menschen am Fernsehschirm flirten. Das war eine Fähigkeit von ihm.
Hettinger: War das so dieser klassische Heldentenor, wie man ihn …
Kesting: Nein, nein, nein, er war kein Heldentenor. Er war ein lyrischer Tenor, gerade zu Anfang, für das romantische Repertoire. Der Heldentenor wird ja erst mit Wagner eigentlich richtig erfunden. Und Wagner wäre für ihn gar nicht denkbar gewesen.
Hettinger: Pavarotti hat einmal gesagt: Meine Stimme liebt Donizetti, ich will aber Verdi singen. Was hat er damit gemeint, und wie hat sich dieser Spagat geäußert?
Kesting: Er hat als junger Mann die romantischen Liebhaberrollen, die romantischen Tenorpartien gesungen, also Bellini, Arturo und El Vino, alles lyrische Partien, die sehr hoch lagen. Als er 40 wurde und auch 30 Kilo schwerer war, konnte man einem Mann von Mitte 40 – die Römer würden sagen – nicht mehr der Jüngling, sondern der Vir, der Mann, dem konnte man diese jugendlichen Liebhaberrollen nicht mehr in dem Maße abnehmen. Also musste er an die etwas schweren Partien – man sagt Spinto-Partien, gepuschte Partien, wo ich mit mehr Kraft singen muss, mit mehr Volumen singen muss. Volumen geht meistens auf Kosten der hohen Töne – musste er sich umstellen. Und auch '77, '78, '79 gibt es Aufnahmen, die bezeugen, dass die Stimme etwas strapazierter war, dass sie angespannter war, dass er hohe Töne mit einem Nachatmer, einem Nachstoßen beendet hat. Das ist ihm nicht ganz leicht gefallen. Dass er technisch ungeheuer versiert war und gut geschult war, zeigt sich daran, dass er ‛61 debütiert hat als Rudolfo und noch Ende der 90er Jahre immer noch technisch, stimmlich in erstaunlich guter Verfassung war. Und als Tenor mit einer hellen Stimme, 40 Jahre, das ist eine ganz riesige Leistung.
Hettinger: Wenn jetzt die Rede von Pavarotti ist – die Agenturen suchen nach Synonymen, und dann findet man oft den Begriff "der Bäckerssohn aus Modena". Welchen Hintergrund hatte Luciano Pavarotti, und wie sind seine Ausbildungsstationen verlaufen?
Kesting: Der Vater war Bäcker, hatte eine sehr schöne Tenorstimme, hatte aber Bühnenangst und hat den Schritt auf die Bühne nie gewagt. Dann hat er bei Ettore Campogalliani studiert, das ist einer der ganz, ganz großen Namen unter den italienischen Lehrern, hat einen cleveren, guten Manager gehabt, das war – Alessandro heißt der, glaube ich, mit Vornamen – Ziliani. Der war ein erfolgreicher Tenor an der Mailänder Scala in den 40er Jahren, hat sich sehr früh ausgesungen. Der hat dann Pavarotti geraten, fang mal erst mit vier oder fünf Partien an. Pavarotti hat die ersten zwei, drei Jahre seiner Karriere nur als Herzog von Mantua, Rudolfo, Alfredo in "La Traviata" und vielleicht Nemorino bestritten, hat sehr, sehr langsam gelernt – also anders als Domingo, der eine Partie vom Blatt singen kann –, und Pavarotti hat viel, viel Zeit und Korrepetitoren gebraucht, um eine Partie zu studieren. Und mit den Partien ist er durch Europa gefahren zwei Jahre lang, auch Gastspiele in Warschau. Dann ist er nach England gekommen und hat beim Festival von Glyndebourn den Idamante in "Idomeneo" gesungen. Widerwillig, weil das mühsam war, die Partie zu studieren. Dort ist er aber durch eine Korrepetitorin an Joan Sutherland empfohlen worden. Und die brauchte für eine Australien-Tournee einen lyrischen Tenor und einen Mann, der so ähnlich wie sie groß und kräftig war. Und dann ist er da mit rübergegangen. Und Richard Bonynge, der Mann der Sutherland, Dirigent, hatte genau gemerkt, das ist genau der Mann, den ich brauche, um mit der Sutherland "Traviata", "Rigoletto", "Lucia di Lammermoor", "Il puritani", "La Sonnambula" und diese Opern zu machen. Das sind all die Opern, die er dann zu Beginn der 70er Jahre aufgenommen hat mit Sutherland als Partner. Und da war er natürlich ein unglaublich frisch klingender brillanter lyrischer Tenor mit einer sehr, sehr schönen Stimme. Ich habe ihn erlebt 1973 oder ‛74 in Hamburg – ich habe es nicht mehr genau im Kopf –, da hat er "Lucia" gesungen und da hat das Publikum noch mit Handschuhen geklatscht. Gar keine großen Reaktionen drauf, weil man in Hamburg an den dunkleren Klang von Domingo gewohnt hat, der in Hamburg damals das Idol war. Und dann kam auf einmal dieser riesige Durchbruch und die kultartigen oder meinetwegen auch die hysterischen Zustände, die haben wir ja alle noch in bester Erinnerung.
Hettinger: Luciano Pavarotti mit der fast schon legendären Arie aus Donizettis "Regimentstochter". Eine Aufnahme von 1968 war das. Jürgen Kesting, ist das seine Glanzzeit gewesen damals?
Kesting: Na gut, die Glanzzeit hat schon länger gedauert, aber es ist einfach so: Er ist 1935 geboren, und da war er 32, 33 Jahre alt, das ist natürlich der Hochsommer einer Tenorkarriere. Und das hat eine Leichtigkeit, eine Frische, eine Energie – also, die hohen Cs, die wippen ja wie von einem Trampolin in die Höhe. Das wird hochgefedert, völlig mühelos, der Ton sitzt. Ich habe übrigens einen ein Jahr früher entstandenen Mitschnitt, und der Mitschnitt ist, mit winzigen Einschränkungen, genauso brillant und genauso gut, also, er hat in dieser Zeit mit der Brillanz singen können.
Hettinger: Aber diese Leichtfertigkeit hat er auch gehabt, um diese Leistungen, ja, scheinbar mühelos abrufen zu können.
Kesting: Ja, so ganz mühelos ist es nicht, es ist ein erstaunliches Phänomen, dass Pavarotti beim Singen – vor allen Dingen, wenn Sie ihn auf der Bühne erlebt haben – dem Publikum immer gesagt hat, wie schwer er arbeiten muss. Er hat das Publikum immer mit einem treuen Dackelblick angesehen und gesagt, die Stretta, es ist eben diese verdammte Stretta, die so schwer ist; oder Idomeneo, die Rolle zu lernen ist so unheimlich schwer. Er hat das Publikum also immer auch die Härte dieser Arbeit spüren lassen. Alfredo Kraus, der immer den Eindruck vollendeter Mühelosigkeit hinterlassen hat, hat deshalb auch das Publikum nicht in dem Maße erreicht. Bei Pavarotti hat das Publikum mitgejubelt und auch ein bisschen mitgelitten.
Riesel: Sie haben das eben auch angesprochen – Pavarotti musste sich die Rollen mehr erarbeiten vielleicht als andere. Heißt das auch, kann man das umkehren, dass er im Grunde genommen fehlendes Talent durch Fleiß ersetzt hat?
Kesting: Nein, nein, also, was ich mit dem Lernen der Rollen meine, das ist ein rein musikalischer Vorgang, wie er eine Rolle studiert hat, nein, es war sein Geschick, sein kommunikatives Geschick, sein – meinetwegen – rattenfängerisches Geschick, das Publikum mit in das Boot seiner Anstrengungen, mitrudern zu lassen. Ein hohes C ist auch immer eine Angstnote. Ein Tenor, der das hohe C nicht geschafft hat, das der Erfinder des hohen C, Dupré, 1837 erstmals gesungen hat, hat sich das Leben genommen, hat sich in den Tod gestürzt, einer der größten Sänger der Romantik, weil er diesen Ton nicht erreicht hat. Also, "Spiel mir das Lied vom Tod" oder das hohe C ist ein ganz angemessener Titel dafür. Und jetzt kommt dieser Koloss von Mann, sehr charmant, und singt diese hohen Cs mit einer unglaublichen Mühelosigkeit, zeigt aber gleichzeitig, Leute, seht mal an, wie schwer das ist, diesen Ton zu singen. Und das kommt eben an. Also, Sie müssen erst mal in die Reihe runterkommen, was viele Sänger nie geschafft haben. Die haben immer eine Barriere, eine, sozusagen, die vierte Wand zwischen Publikum und dem Theater. Pavarotti hat das immer eingerissen, selbst vom Bildschirm herunter.
Hettinger: Welche Rolle hat seine Persönlichkeit gespielt? Er kam ja aus der Emilia-Romana, die Menschen dort gelten so ein bisschen als, ja, so wie die Ruhrpötter hierzulande, also eher kumpelige, schalkhafte, eher bodenständige Menschen. Hat ihm sein Naturell hier ein bisschen auch in die Hände gespielt bei der Darstellung dessen, was er so vermitteln wollte?
Kesting: Also, ich habe, als er zum ersten Mal in Hamburg gesungen hat, mit ihm zu Mittag gegessen, und dann sagt er plötzlich, also, jetzt unter uns Connaisseurs, wollen wir mal darüber reden, also, er hat einen sofort an sich herangezogen. Ich habe, also, vier Stunden lang in New York mit ihm gesprochen und auch ein Spiel gemacht, alle Witzchen über Tenöre. Er war bauernschlau, ungeheuer gewitzt, ungeheuer charmant und konnte genauso ungeheuer grantig werden, wenn ihm etwas nicht passte, zumal später, als er die Weltberühmtheit geworden war. Da haben natürlich auch tausend Leute an ihm gezerrt, und da muss man sich auch abschirmen und irgendwann sagen, das will ich jetzt nicht. Er war schon ganz umgänglich, wie er dann später im Kollegenkreis war, ist schwer abzusehen, er war ja ein Unternehmen geworden.
Hettinger: Ein Markenartikel.
Kesting: … ein Markenartikel geworden, ja …
Riesel: Luciano Pavarotti in einer Arie aus I Puritani von Vincenzo Bellini, 1969 ist diese Aufnahme entstanden.
Kesting: Und es war erkennbar eine Live-Aufnahme.
Hettinger: Das war es, ja, ganz genau.
Kesting: Man merkt es auch daran, dass der Ton, dieses hohe D, wahrscheinlich im Studio noch mal wiederholt worden wäre, weil es ganz knapp davor war, ein wenig zu spleißen. Das ist überhaupt keine Kritik daran.
Hettinger: Also, hohes D ist schon der Mount Everest der Gesangskunst, nicht wahr.
Kesting: Ja, vor allen Dingen, vor allen Dingen wenn man es vollständig singt. Er hat es ja nicht kopfstimmig gesungen, sondern mit voller Spannung gesungen, und da ist es ein immenses Risiko, einen Ton so anzugehen, das muss man einfach sehen. Was mich vor allen Dingen erstaunt, dass Riccardo Muti, der ein sonst sehr, sehr streng metrischer Dirigent ist, dass er ihm soviel Rubato-Zeit gegeben hat, um so auszuphrasieren und die Töne so zu halten.
Hettinger: Der wusste auch, was er da geboten bekommt.
Riesel: Jürgen Kesting, 1991 haben Sie auch ein Essay über Pavarotti geschrieben, ein Essay über den Mythos der Tenorstimme, ein Jahr zuvor: Fußball-WM in Italien und der erste Auftritt dieser großen drei Tenöre. Danach auch die Frage: Es hat ja eine große Folgegeschichte gehabt, die CD hat sich unglaublich gut verkauft. Pavarotti als Geschäftsmann – war das ein großer Aspekt für ihn?
Kesting: Ja, natürlich war das ein großer Aspekt. Die Herren litten also nach den 90er Jahren unter einer wirklich starken Überreizung der Erwerbsdrüsen, also, das war ganz auffällig. Als ich das Konzert damals gesehen habe, wie dann also am italienischen Nachthimmel "O sole mio" aufging, habe ich das als einen wunderbaren, höheren Jux der Kunst angesehen, das war schön, das machte Spaß. Dann wurde es ein Unternehmen, die CD wurde zehn oder elf Millionen Mal verkauft. Die Sänger bekamen jeder – wie in dem Buch von Herbert Breslin gesagt wird – ein Honorar angeboten, was sie damals für exorbitant hielten, nämlich 300.000 Dollar pro Sänger. Als die merkten, dass der italienische Agent, Dradi hieß der, und Decca Millionen gescheffelt haben, gab es Riesen-Zunder, und Decca musste an Pavarotti 1,5 Millionen Dollar nachzahlen, um ihn überhaupt zu behalten. Domingo, der immer für mehrere Firmen gesungen hat, konnte nicht soviel Geld rausholen, war stinksauer darüber. Das zweite Konzert, in Los Angeles war das, glaube ich, hat jeder drei Millionen Dollar für kassiert, und der Dirigent eine Million Dollar. Da wurde es das nackte Geschäft. Und dann hat Tibor Rudas in Amerika daraus eben ein Mammut-Unternehmen gemacht. Es wurde nur noch über Geld gesprochen. Und dann wurde in Zeitungen geschrieben, also, für die hohen Cs kriegen die so viel Geld – in keinem einzigen der Konzerte hat irgendeiner dieser Sänger ein hohes C gesungen. Das war gar nicht mehr in Reichweite. Das höchste war eben Vincero, am Ende von Puccinis "Nessun dorma" aus Turandot, und das ist ein H. Und dieses H war ein sicherer Ton auch nur bei Pavarotti, der rein gesangstechnisch seinen Kollegen ziemliche Lektionen erteilt hat.
Hettinger: Hat er sich damit geschadet? Es gibt ja etliche kritische Stimmen, gerade die eher puritanischen Musikkritiker haben gesagt, um Himmels Willen, da wird was zusammengerührt, was sowieso nicht zusammenpasst – wieso gibt er sich für so was her?
Kesting: Ich habe in meinem Büchlein über Pavarotti auch sehr heftig Kritik daran geübt. Dann bin ich eines Tages auf einen Brief gestoßen, der sagt, vielleicht werde ich eines Tages Millionär. Millionär, welch wunderbares Wort, was ist daneben schon Ruhm, Anerkennung, Ehre? Also, das ist eine wunderbare Definition.
Hettinger: Noten und Banknoten sind sich anscheinend wesensmäßig dann doch ähnlich.
Kesting: Ja, die Verwandlung von solchen schönen Noten in Banknoten hat für jeden Sänger eine Rolle gespielt, das ist einfach so, und es ist natürlich eine Entkunstung der Kunst, darüber müssen wir nicht diskutieren, aber man sollte dann vielleicht doch mit einigem Abstand sagen, der hat es schon in dieser Beziehung richtig gemacht. In Amerika in irgendeinem Magazin, hieß es: Pavarotti incorporated, also, eine GmbH & Co. KG waren die drei Tenöre.
Hettinger: Nun ist Pavarotti gestorben, im Alter von 71 Jahren. Was bleibt von ihm?
Kesting: Ich denke, die Erinnerung an einen ganz, ganz exzellenten Sänger, und ich hoffe, dass die Leute darauf zurückkommen, oder die Hörer darauf zurückkommen, den jüngeren Sänger der 60er, 70er, 80er Jahre als einen großen, einen der großen Tenöre des 20. Jahrhunderts in Erinnerung zu behalten. Er gehört sicher zu den fünf, sechs, sieben der ganz, ganz Großen.
Hettinger: Ein Jahrhunderttenor.
Kesting: Ja, auf jeden Fall.
Hettinger: Vielen Dank, Jürgen Kesting, Musikkritiker, Publizist und Buchautor. "Die großen Sänger" heißt der Titel seines Standardwerks, er ist einer der besten Kenner der Gesangskunst in Europa.