Ein modernes Märchen über die medialisierte Welt

Rezensiert von Jörg Magenau |
Gibt es in der medial geformten Welt überhaupt noch irgendwo Echtheit? Das ist die Grundfrage, die Bodo Kirchhoff mit seinem Roman stellt. Darin trifft ein frustrierter Alt-Linker auf den berühmten und verwöhnten Kinderstar Marie-Luise. Obwohl die Geschichte furchtbar konstruiert wirkt, schafft es der Autor, Interesse für seine Hauptdarsteller wecken.
Die Kulisse erinnert an Vampirfilme mit waberndem Nebel oder an das arme, im Wald verirrte Rotkäppchen. Irgendwo im Osten Deutschlands liegt ein Waldgebiet, in das hungrige Wölfe eingedrungen sind. Die schaurigen Reste eines Wildschweins und der malerisch aufgerissene Kadaver eines Rehs im blutrot verfärbten Schnee markieren den weiteren Handlungsverlauf, in dem sich die Wege eines flüchtigen Bankräubers und eines Kinderstars aus Film und Fernsehen kreuzen.

Das Mädchen, etwa zwölf Jahre alt, ist auf dem Weg zum Drehort an einem winterlichen See, wo der Film "Engelskuss" entsteht. Es ist schon im Kostüm und trägt Engelsflügel, als der Bankräuber es auf dem Rücksitz des Wagens entdeckt, mit dem er seine Flucht fortsetzt. Zwei Menschen hat er aus Versehen erschossen, und auch der Bankraub geschah bloß aus einem spontanen Impuls. Eigentlich wollte er sich selbst erschießen, nachdem er seinen Job verloren und seine Frau ihn verlassen hat. Jetzt ist er Mörder, Räuber und Entführer und das Mädchen seine Geisel.

Das klingt ziemlich ausgedacht und konstruiert, und tatsächlich scheut Bodo Kirchhoff weder vor drastischen Showeffekten noch vor der skrupellosen Inanspruchnahme des Zufalls zurück. Ihm die Künstlichkeit des Romans vorzuwerfen, wäre dennoch verkehrt, denn sie ist beabsichtigt, ja mehr noch: Sie ist explizites Thema.

Die Filmleute, eine ätzende Producerin und ein eifriger Regisseur, betrachten jegliches Geschehen mit Blick auf die mediale Verwertbarkeit. Auch die Entführung erscheint ihnen als Glücksfall, sollte es ihnen gelingen, die Geldübergabe gut ausgeleuchtet ins Bild zu setzen. Die Frage, die Kirchhoff in "Die kleine Garbo" zu beantworten sucht, zielt darauf, ob es in der medial überformten Welt überhaupt so etwas wie Echtheit geben kann. Seine Antwort lautet: Ja, in der Liebe. Das ist so wahr wie kitschig, jedenfalls nicht besonders originell.

Zu allem Überfluss ist der Bankräuber mit dem Namen Giacomo Hoederer auch noch ein frustrierter Alt-Linker, der in seiner Jugend Marx‘ Kapital studiert hat und als Kommunist zu Zeiten des Radikalenerlasses nicht Lehrer werden durfte. Weil er zu Hause kein Fernsehen hat, weiß er zunächst nicht, wie prominent seine Geisel ist. Sie, die kleine Marie-Luise, die sich den Künstlernamen Malu zugelegt hat, ist so berühmt wie verwöhnt, so unschuldig wie gerissen, so unwissend wie erfahren.

Von Politik und Geschichte weiß sie nichts. Aber sie wirkt erwachsen, weil sie begriffen hat, dass jedes Gespräch Teil einer Inszenierung ist und man nichts so nehmen darf, wie es scheint. Zum Filmstar wurde sie, weil sie beim Casting die Beste im Sich-Totstellen war. Jetzt fragt sie sich plötzlich: "Aber wie stellt man sich lebendig?" Das hat sie noch nicht gelernt.

"Die kleine Garbo" lässt sich als Persiflage auf die Mediengesellschaft lesen und zugleich als Metapher der jüngeren deutschen Geschichte der Linken. Einer, der es immer gut gemeint hat, wird darin zum Gewalttäter und Mörder und rast in eine Sackgasse, aus der es kein Entkommen mehr gibt. Die heulenden Wölfe im Wald sind dann so etwas wie die Unbill der Zeit, ihre blutige Beute die Opfer der Geschichte. Was soll man davon halten, fragt der Filmregisseur, "dass dieser Wald kein normaler Wald ist."

Das alles ist, vorsichtig formuliert, ziemlicher Käse. Drehbücher dürfen dumm, aber nicht saudumm sein, sagt Malus Agent. Kirchhoffs Roman, der eine Krimihandlung wie eine Drehbuchvorlage inszeniert, gehört eher zu den saudummen, oder, freundlicher gesagt, zu den modernen Märchen. Zwei Menschen, die nichts miteinander gemein haben, begegnen sich und befreien sich gegenseitig aus dem Gefängnis ihrer Biografie. Sie entdecken sich jenseits der Rollen, die sie aufgrund der Umstände zu spielen haben. Das Erstaunlichste an diesem seltsamen Liebesroman ist, dass Bodo Kirchhoff es am Ende tatsächlich schafft, Anteilnahme und Interesse für seine Figuren zu erwecken, obwohl sie doch die Hauptdarsteller eines saudummen, schrecklich ausgedachten Romans sein müssen.

Bodo Kirchhoff: Die kleine Garbo
FVA, Frankfurt/Main 2006
288 Seiten, 19,90 Euro