Ein neunmonatiger Kampf

Wenn magersüchtige Frauen schwanger werden

Zwei Hände berühren den Bauch einer Schwangeren.
"Pregorexie" ist die Fachbezeichnung für Essstörungen während der Schwangerschaft. © Imago/Westend61
Von Tabea Grzeszyk |
Kalorien zählen, zwanghafter Sport, dazu Angst um das Kind – Essstörungen in der Schwangerschaft werden durch medialen Druck befördert. Model-Maße nach der Entbindung gelten als Ideal. Kritiker sehen darin einen Angriff auf die weibliche Identität.
Miriam Boser mit ihren Jungs im Supermarkt, Was wollen wir denn jetzt kaufen? – Schokokekse!
Dass Miriam Boser einmal mit zwei kleinen Söhnen im Supermarkt unbeschwert einkaufen gehen würde – diese vermeintlich alltägliche Szene war für die junge Frau jahrelang unvorstellbar. Es gab eine Zeit, in der sie auf die meisten Lebensmittel mit Panikattacken reagierte, erzählt die heute 40-jährige. An Schokokekse war nicht zu denken.
"Ich freue mich jedes Mal, wie leicht das jetzt für mich ist. Die Vorstellung, ich wäre noch so krampfig, das würde nicht funktionieren im Familienleben.
Miriam Boser heißt eigentlich anders. Sie lebt mit ihrem Mann und den beiden Kindern in Süddeutschland und kann heute offener über die Zeit sprechen, in der sie sich fast zu Tode gehungert hat. Miriam Boser war magersüchtig. Nicht als Teenager wie die meisten - nach Angaben des Robert-Koch-Instituts gibt es mittlerweile bei jedem dritten Mädchen in Deutschland Hinweise auf eine Essstörung. Da diese Essstörungen oft dann auftreten, wenn sich emotional oder biologisch etwas ändert, galten sie als typische Pubertätskrankheit. Dass Erwachsene oder gar Schwangere darunter leider können, wurde deshalb lange kaum wahrgenommen. Miriam Boser wurde erst nach dem Psychologie-Studium krank, als sie ihre Doktorarbeit schrieb.
"Erstmal war es großartig, weil ich so gemerkt habe, zum ersten Mal habe ich das Essen im Griff. Ich kann selber entscheiden, wie viel ich esse, beziehungsweise wie wenig oder wie fast gar nichts. Und mein Gewicht purzelt runter und ich hab endlich das Gefühl, ich habe die Sachen im Griff und ich kann alles tun, was die schlanken, die guten, die disziplinierten Menschen tun können. Und dann kam aber bald der Punkt, wo ich gemerkt habe, ich habe gar nichts im Griff. Ich bin jetzt sehr schlank. Jetzt müsste ich wieder mehr essen – und das habe ich nicht über mich gebracht. Ich habe dagestanden und gemerkt, ich esse zu wenig, mir geht es auch nicht gut, aber ich kann nicht damit aufhören."
Während der Doktorarbeit geriet sie in den Teufelskreis der Magersucht
Wie bei vielen Magersüchtigen war auch für Miriam Boser eine Diät die "Einstiegsdroge". Während sie ihre Doktorarbeit schrieb, tröstete sich die damals 28-Jährige in den langen, einsamen Stunden im Büro mit Essen, eine Chipstüte hier, ein paar Süßigkeiten dort. Miriam Boser wollte durchhalten bis zur Abgabe ihrer Dissertation - und dann mit einer Fastenkur all die Pfunde runterbekommen, die sie angesetzt hatte. Danach steckte Miriam Boser drei Jahre im Teufelskreis der Magersucht, die jede Minute ihres Lebens bestimmte, wie sie heute sagt.
"Vor 12 Uhr und nach 20 Uhr esse ich nichts! Und dann abends, oh Gott, es ist gleich acht, ich muss irgendwas essen, aber es ist gleich acht. Ich muss also jetzt losrasen und mir das, was ich essen kann, besorgen – das waren manchmal eben sehr kalorienarme Sachen, Obst oder eine bestimmte Sorte Salat. Damals hatte ich relativ viel Geld, weil ich alleine in einem WG-Zimmer gewohnt, aber schon verdient habe, dann bin ich ins Restaurant gegangen und habe immer dieselbe Suppe bestellt, von der ich wusste, die macht mich satt, aber hat, dachte ich, nicht viel Kalorien. Davon kann ich so wenig essen, wie ich möchte, ohne dass irgendwie Hunger ausgelöst wird, der dann unstillbar wird."
Es ist ein langer, harter Weg aus der Krankheit und jeder braucht ein Ziel, für das es sich lohnt, den Ekel vor dem Essen zu überwinden, so erlebte es Miriam Boser. Für sie war es die Erkenntnis, dass sie sich eine funktionierende Beziehung wünschte, vielleicht sogar eine eigene Familie. Als ausgebildete Psychologin wusste sie, dass sie dafür einen echten Schlussstrich ziehen musste. Sie begann eine Psychotherapie, nach vier Monaten stationärer Behandlung galt sie als geheilt. Doch als Miriam Boser mit Anfang 30 ihr erstes Kind erwartete, da kehrten die alten Dämonen zurück.
"Mir war auch die ersten drei Monate die ganze Zeit so schlecht. Ich musste mich nicht übergeben, aber ich hatte auch plötzlich wieder dieses, dass mir ganz viele Lebensmittel Widerwillen einflößten. Und da hab ich dann wieder so einen Schreck gekriegt, weil mich das so an die Magersucht erinnerte, wo ganz viele Lebensmittel mir Angst machten. Ich habe dann immer gesagt, warte, das ist was anderes, das ist was anderes. Es war wirklich so, dass ganz viele Sachen mir einfach eklig waren und ich relativ wenig runtergekriegt habe und das hat mich auch wieder total durcheinander gebracht. Ich habe gedacht, oh mein Gott, bin ich froh, dass ich alles halbwegs sortiert habe, sonst wäre das hier wieder der Anfang vom Ende."
Zwanghaftes Kalorienzählen während der zweiten Schwangerschaft
Für Frauen mit einer entsprechenden Vorgeschichte kann die Schwangerschaft zu einer neunmonatigen Krise werden. Wie in der Pubertät ist der Körper Veränderungen unterworfen: Gewichtszunahme, Übelkeit, Heißhungerattacken, Geruchsempfindlichkeit. Frauen wie Miriam Boser können diese Abläufe als massive Störungen erleben. Rückfälle drohen. Das Phänomen "Magersucht in der Schwangerschaft" rückte erstmals 2009 durch die Amerikanerin Maggie Baumann ins öffentliche Bewusstsein. Die Familientherapeutin verausgabte sich während ihrer zweiten Schwangerschaft im zwanghaften Kalorienzählen und in sportlicher Hyperaktivität. Bereits in der elften Woche verordnete ihr der Arzt Bettruhe, Blutungen in ihrem Unterleib ließen eine Fehlgeburt befürchten. Maggie Baumann hielt sich exakt drei Tage an den ärztlichen Rat, ehe sie ihr straffes Fitnessprogramm wieder aufnahm.
Maggie Baumann war die erste, die ihre Geschichte in einem Blog öffentlich machte:
"Für mich war die Schwangerschaft ein neunmonatiger Kampf, in dem ich mich komplett abgeschnitten fühlte von meinem Körper – entsetzt über mein expandierendes 'Selbst', das gegen jedes Gramm protestierte, das ich zunahm. Ich habe nicht die Freiheit gespürt, für zwei zu essen, sondern eher die Beschränkung, für zwei zu hungern."
Maggie Baumanns Geständnis löste eine hochemotionale Debatte aus. Leser reagierten mit Kommentaren wie: "Sie sollten deinen dürren Arsch ins Gefängnis werfen" oder "Man sollte dich sterilisieren, damit du nicht noch mehr Kindern schaden kannst!". Im Zuge der Diskussion etablierte sich der Begriff "Pregorexie" – zusammengesetzt aus dem englischen Wort "pregnancy" für Schwangerschaft und anorexia –, um das Phänomen der exzessiv schlankheitsbewussten Schwangeren zu fassen. Sporadische Befragungen zu Essstörungen in der Schwangerschaft gibt es bereits seit den späten 1980er Jahren, doch das Phänomen wurde nicht systematisch erforscht. In jüngster Zeit haben sich Wissenschaftlerinnen in Großbritannien mit dem Thema befasst: In ihrer Studie von 2013 baten sie 739 Frauen bei ihrer ersten Ultraschalluntersuchung in einem Londoner Krankenhaus, einen Fragebogen zu Essstörungen auszufüllen. Das Ergebnis: Jede vierte Befragte machte sich Sorgen um ihr Gewicht und jede 13. erfüllte alle Kriterien einer Essstörung. Aktuelle Zahlen werden in Deutschland gerade erst erhoben.
Michael Abou-Dakn ist Chefarzt der Klinik für Geburtshilfe am Berliner St. Joseph-Krankenhaus: Im Jahr 2013 kamen hier 3800 Babys zur Welt, mehr als in allen anderen deutschen Geburtshilfen. Die Klinik bietet eine spezielle Beratung bei psychischen Problemen für Familien nach der Geburt an. Daher ist ihm das neue "Krankheitsbild" Pregorexie längst vertraut. Dennoch ist er sehr vorsichtig mit einer medizinischen Einschätzung: Michael Abou-Dakn möchte den gesellschaftlichen Schlankheitswahn, der zweifelsohne die schwangeren Frauen erreicht hat, nicht vorschnell mit der Diagnose Magersucht gleichsetzen.
"Ob wir jetzt durch die Journalisten, die wegen des Themas und wegen der Publikationen im wissenschaftlichen Bereich sensibilisiert wurden für dieses Thema, ob wir deshalb auch einen anderen Blick haben als früher. Mir ist aufgefallen in meiner eigenen beruflichen Beobachtung, ich bin jetzt 28 Jahre als Frauenarzt dabei, ich habe also einen Überblick über diesen Zeitraum, dass wir früher kaum Frauen gesehen haben, mit einer zumindest für uns erkennbaren Essstörung."
Gab es früher keine Schwangeren mit Essstörungen oder wurden sie einfach übersehen?
Fest steht, dass der medizinische Fokus heute bislang nicht auf schlanken Frauen liegt: Eine der häufigsten Erkrankungen in der Schwangerschaft ist Schwangerschaftsdiabetes, den vier bis fünf Prozent aller Frauen entwickeln. Die Hauptrisikofaktoren sind Übergewicht und genetische Veranlagung. Ein Screening-Test im sechsten oder siebten Monat gehört heute zu den Routineuntersuchungen bei der Vorsorge. Ob eine schwangere Frau eine Vorgeschichte mit Essstörungen hat, wird dagegen in der Regel nicht erfasst.
"Klar! Dadurch dass wir das Problem der Übergewichtigkeit eher haben, gesellschaftlich und auf die Kinder bezogen, auf die Schwangerschaften sind wir alle aktiver, was die Vermeidung des Diabetes angeht, als in dem umgekehrten Fall dieser relativ kleinen Gruppe von Frauen, die eine Fehlernährung im Sinne der Magersucht haben. "
Die Regelblutung kommt zurück - aber nur mithilfe einer Hormonpille
Es ist schwer zu sagen, wie viele Frauen mit Essstörung tatsächlich heute Kinder bekommen. Es ist bekannt, dass es bei jedem dritten Mädchen in Deutschland Hinweise auf ein gestörtes Essverhalten gibt, doch wie viele im Erwachsenenalter eine Familie gründen, darüber gibt es keine Zahlen. Vielleicht wurde bisher davon ausgegangen, dass magersüchtige Frauen gar nicht schwanger werden können, da die Regelblutung durch die Krankheit aussetzt. Doch mithilfe einer Hormonbehandlung lässt sich der Zyklus wieder anschieben – auch Miriam Boser nahm vor ihrer ersten Schwangerschaft über drei Monate hinweg eine Hormonpille, bis ihre Regelblutung zurückkam. Ob Ärzte eine solche Vorgeschichte erkennen, ist Glückssache. Im St. Joseph-Krankenhaus hat sich Michael Abou-Dakn auf neue Fragestellungen eingestellt.
"Wenn Frauen um die 50 Kilo vor der Schwangerschaft gewogen haben, habe ich mir als Routinefrage angewöhnt, nachzufragen, ob es auch Lebensphasen gab, wo unter 50 Kilo erreicht wurden, also bei der erwachsenen Frau. Gab es denn eventuell Phasen, wo sie keine Regelblutung hatten? Dann ist man wieder ein Stückchen weiter und dann gehe ich in die direkte Fragestellung: Gab es Essstörungen, haben Sie Probleme? Wir fragen ja immer diffus nach psychischen Belastungen, aber das wird oftmals nicht konkretisiert, dann verheimlicht. Über diesen Schritt 'Ich war immer sehr dünn' und weiterfragen kriegt man meistens ehrliche Antworten. Also da muss eine Sensibilität hin."
Die Anamnese erfordert großes Feingefühl, das Thema ist extrem schambesetzt. Viele Magersüchtige sprechen heute offener über ihre Krankheit, bestärkt von Prominenten, die sich geoutet haben, wie die Sängerinnen Alanis Morissette oder Lady Gaga. Zudem haben zahlreiche Buchveröffentlichungen der letzten Jahre wie Marya Hornbachers "Alice im Hungerland" die Krankheit ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Doch sobald eine Schwangerschaft ins Spiel kommt, verstummen die meisten Frauen. Magersucht ist eine Form der Selbstzerstörung und Schwangere treibt oft die Angst, dass sich diese destruktive Kraft gegen ihr ungeborenes Kind richtet. Eine gewissenhafte Aufklärung könnte aber ein wenig Last von den betroffenen Frauen nehmen. Denn der Embryo nimmt sich, was er braucht, so Michael Abou-Dakn.
"Wir wissen das aus den traurigen Situationen von Frauen, die zum Beispiel unter Lagerbedingungen ihre Kinder bekommen haben oder zu Kriegszeiten, die sich eben nicht gut um sich kümmern konnten, dass die Kinder zwar dünner sind in der Regel, aber der Körper der Mutter macht da sehr viel wieder gut. Es werden im Knochen- und Mineralbereich Sachen abgebaut, es gibt viele Möglichkeiten, dass die Mutter quasi sich selbst zur Verfügung stellt, damit das Kind doch noch genug Ernährung bekommt."
Magersüchtige Frauen schädigen also auch in einer Schwangerschaft am meisten ihren eigenen Körper. Verständnis haben sie trotzdem kaum zu erwarten: Das Kind im Bauch gilt es zu schützen. Alles andere ist gesellschaftlich inakzeptabel. So erhöht die Schwangerschaft das Leiden der Frauen, weil ihnen Angehörige und Freunde plötzlich nicht mehr zugestehen, was sie am nötigsten brauchen: Zeit, um den Umgang mit ihrer Krankheit zu lernen. Sogar in Internetforen für Betroffene stößt die Toleranz beim Thema Schwangerschaft an eine Grenze, berichtet Miriam Boser. Sie engagiert sich als Ehemalige im Verein "hungrig-online.de", dem größten Informationsportal über Essstörungen in Deutschland.
"Dann kommt oft die Botschaft: Aber jetzt musst du doch! Jetzt musst du’s doch schaffen! Jetzt muss doch die Motivation wirklich da sein, dass du dich in Behandlung begibst und es effektiv unterlässt! Das ist schon auch ein Wahnsinnsdruck. Ich habe noch von niemandem gehört, dass der Arzt es gesagt hätte, oder die Frauenärztin, aber ich weiß auch nicht, wie viele Schwangere das überhaupt sagen oder sich outen, vielleicht gerade aus der Angst, auch da unter Beobachtung zu stehen. Die Leute brauchen Zeit."
"Normalität" wird zum unerreichbaren Ideal – für alle Frauen
Selbst Frauen, deren Schwangerschaft wie geplant verläuft, die keine Vorgeschichte haben, spüren diesen Druck. Schwangerschaftsratgeber haben Hochkonjunktur, aus der detailgenauen Vermessung der schwangeren Frau entsteht der Frust, diesen Vorgaben nicht zu entsprechen. "Normalität" wird zum unerreichbaren Ideal – für alle Frauen.
"Als mir meine Frauenärztin bestätig hat, dass ich schwanger bin, hat sie mir eine Riesentüte mitgegeben mit Prospekten und Infoheften und Sachen, und wirklich überall steht so diese Spanne, wie viel man minimal, wie viel maximal zunehmen soll. Und die Französinnen, dass die zum Beispiel, ich glaube so 11 Kilo zunehmen, dass die deswegen auch hinterher gleich wieder fit sind. So im Laufe der Schwangerschaft, wenn man dann doch häufig auf der Waage steht, denkt man sich: Oh, das Franzosenmodell kriegen wir irgendwie nicht so hin (lacht). Ich hab jetzt nicht den Druck gespürt, dass die Gesellschaft "verlangt", dass man wieder so schlank wird, ganz schnell nach der Geburt, und dass man so ist wie vorher. Das glaube ich nicht, aber ich glaube, weil einem so viele Fälle präsentiert werden von Frauen, die so toll aussehen nach der Geburt, denkt man es muss ja so sein. Oder es muss doch gehen, das kann doch nicht so schwer sein!"
"Von hinten siehst du aber gar nicht schwanger aus", scheint heute das schönste Kompliment für eine schwangere Frau zu sein. Attraktivität und Fitness ist auch in anderen Umständen Pflicht. Auf den Titelseiten der Familienmagazine präsentieren werdende Mütter stolz ihren Babybauch, der aber auch das einzig körperliche Anzeichen für die Schwangerschaft sein soll – alles andere hat formvollendet schlank zu bleiben. Schwangerschaft muss heute wie ein weiterer Schritt auf der beruflichen Karriereleiter möglichst effizient abgehakt werden, beobachtet Beate Wimmer-Puchinger, Frauengesundheitsbeauftragte der Stadt Wien. Der Maßstab ist das Gewicht, an dem sich die Bereitschaft der individuellen Mutter ablesen lässt, bald zur 'Normalität' zurückzukehren.
"Power-Woman kann alles, also Karriere und Kinder kriegen. Dass da drei Nannys dahinter stehen, man sieht es zwar, aber das wird dann nicht so wahrgenommen. Sondern es wirkt natürlich schon als Druck, Schwangerschaft und die Zeit danach, die man dem Körper gibt, um sich wieder Einzupendeln und umzustellen, die wird nicht gegeben. Das heißt eigentlich eine Verleugnung der Periode der Schwangerschaft und eigentlich eine Verleugnung, ich bin jetzt Mutter geworden, sondern ich geh' zur Tagesordnung über, als wäre das alles nix."
In der Berliner "Hebammerie" führt Katharina Perreira eine kleine Gruppe Frauen mit ihren Babys durch einen Rückbildungskurs, sanfte Übungen für den Beckenboden. Seit zehn Jahren arbeitet sie als Hebamme, vor drei Jahren gründete sie ihren eigenen Laden in Berlin-Kreuzberg. Mit einem Team von sechs Kolleginnen begleitet die Leiterin der "Hebammerie" rund 500 Mütter im Jahr. Auch Katharina Perreira hat in den letzten Jahren eine Veränderung bei den Frauen beobachtet, die ihren Rat suchen.
"In erster Linie glaube ich, dass die Frauen gar nicht so viel zunehmen wollen in der Schwangerschaft, weil sie natürlich Angst haben, dass sie es danach nicht verlieren und es ist einfach wichtig, es ganz genau zu erklären, wie sich das zusammen setzt und wie sie das nach der Schwangerschaft eigentlich auch ohne, dass sie was dazutun, verlieren können."
Sechs Liter zusätzliche Lymphflüssigkeit, Wassereinlagerungen und Blut, eine bis zu 1500-facher Größe angewachsene Gebärmutter, das vergrößerte Brustvolumen, die Plazenta und das Baby selbst – bei der Gewichtszunahme von Schwangeren spielen Fettreserven nur eine Nebenrolle, erklärt Katharina Perreira. Doch sie werden dringend gebraucht, um die Strapazen einer Geburt überhaupt durchzustehen. Die körperlichen Veränderungen bilden sich danach Schritt für Schritt wieder zurück, doch das braucht Zeit.
"Natürlich erwarten ganz viele Frauen, dass das innerhalb von drei Monaten erledigt ist, das Thema. Jetzt muss ich natürlich den Frauen erklären, wenn man 15 bis20 Kilo zunimmt in der Schwangerschaft, was völlig physiologisch ist und eigentlich ganz normal ist bei einer normalgewichtigen Frau, dass man das natürlich nicht in drei Monaten verliert, sondern dass man das im Laufe von 9 bis 18 Monaten wieder verliert."

Kate hält das Baby in ihrem Arm, neben ihr William, der winkt.
Mai 2015: Prinz William und seine Frau Kate präsentieren ihre neugeborene Tochter: Ein Riesenthema ist in den Medien dabei die Figur der Herzogin. © picture alliance / dpa / Facundo Arrizabalaga
Das Schicksal des Empires und die nachgeburtliche Silhouette der Herzogin
Dass der weibliche Körper mindestens ebenso lange für die Rückbildung braucht wie für die Schwangerschaft selbst ist eine Binsenweisheit, die in Vergessenheit geraten ist. Als die britische Thronfolgerin Kate Middleton im Juli 2013 ihren Sohn George auf die Welt brachte und beim ersten offiziellen Fototermin mit Baby noch immer ein Bäuchlein unter ihrem Kleid zu sehen war, ging diese Selbstverständlichkeit durch die internationale Presse. Kurz darauf zeigte sich Kate wieder "präsentabel" und Celebrity-Shows überschlugen sich, als hinge das Schicksal des Empires an der nachgeburtlichen Silhouette der Herzogin.
"Als sich Kate Middleton der Öffentlichkeit zeigte, rätselte das ganze Land: Wie hat sie das Schwangerschaftsgewicht so schnell verloren? Das Life-in-Style-Magazin hat Informationen über Kate’s Programm, was sie getan hat, um ihre Gesundheit nach der Geburt von George Alexander Louie wieder herzustellen. Es enthüllt, Zitat: 'Kate liebt Sport, viel Schwimmen und Pilates. Das hat ihr wirklich geholfen, das Gewicht zu verlieren.' Stillen hilft auch, Experten schätzen, dass es rund 500 Kalorien am Tag verbraucht! Und Kates Mutter Carol Middleton hat ihrer Tochter gesundes, eiweißreiches Essen gekocht, damit es Kate so angenehm wie möglich in diesen frühen Monaten des Mutterseins hat. Offensichtlich funktioniert’s! Das Neueste von der königlichen Abnehmkur. "
Dass sich Kate Middleton überhaupt ein postnatales Bäuchlein erlaubte, ist eine Ausnahme: Die Norm sind Promi-Mütter, die schon kurz nach der Geburt wieder rank und schlank in die Kamera lächeln. Hier setzte neben Victoria Beckham, Gisèle Bündchen oder Claudia Schiffer auch das Model Heidi Klum neue Maßstäbe, als sie 2005 nur sieben Wochen nach der Geburt ihres Sohnes Henry Dessous auf dem Laufsteg präsentierte. Vom Babybauch keine Spur. Ärzte gehen davon aus, dass sich Prominente durch einen vorzeitigen Kaiserschnitt die letzten Schwangerschaftspfunde ersparen. Der Berliner Frauenarzt Michael Abou-Dakn warnt:
"Es ist dringend an der Zeit, tatsächlich auf die Normalität wieder hinzuweisen und eben nicht durch Shows, die Jugendliche motivieren, immer mehr darauf zu verweisen, dass alles, was so ein bisschen körperlicher ist, normaler ist, was Körperfiguren angeht, abstoßender ist und dass man noch dünner werden muss oder solchen Quatsch. Sondern es muss wieder ein Schönheitsideal kommen, dass ein Mann oder Frau auch mit gewissen Rundungen sehr liebenswert ist und dass vielleicht sogar ein deutlich weiblicher Aspekt in der Schwangerschaft ist."
Die Medien werden so zum trügerischen Spiegel. Zur Zielscheibe von Kritik machten sich vor allem auch Casting-Shows wie "Germany’s Next Top Model", die das Bild einer Weiblichkeit zeigen, dessen Wert sich allein über Körpermaße bemisst. "Unser Körper ist unser Kapital", brachte die damals 24-jährige Kandidatin Janina Delia Schmidt 2008 die Botschaft der Sendung auf den Punkt. Über die normierte Schlankheit wird das Potential der Mädchen berechnet, sich in der anorektophilen Welt der Top-Models durchzusetzen. So wird der Körper in die Logik des Warenmarktes überführt, resümiert Beate Wimmer-Puchinger.
"Ich meine schon, dass generell das ganze Thema des Körperbildes und der glatten Oberfläche und des Glamours ein Ausdruck einer an sich leeren, neoliberalen Zeit ist, leer mit Doppel-e, dahinter stecken auch meistens bei Essstörungen Depressionen, insofern ist das kein gutes Signal, wenn die Außenhülle, die Perfektion des Aussehens vielleicht innere Werte oder Persönlichkeit oder Stärke ersetzt."
Zweifel und Ängste werden zu nicht tolerierbaren Abweichungen von der glatten Oberfläche professioneller Perfektion. Die Debatte um Pregorexie zeigt symptomatisch, wie stark dieser Zeitgeist auch das Denken und Verhalten schwangerer Frauen beeinflusst. Die Omnipräsenz der Abbildungen erzeugt eine fast schon intime Nähe zu den vermeintlichen Vorbildern gesellschaftlichen Erfolgs. Besonders perfide empfindet Miriam Boser von hungrig-online.de, dass viele Stars und Sternchen dabei behaupten, dass es mit ein bisschen Arbeit "Jede" schaffen kann.
"Ich bin kein Medienwissenschaftler, aber ich glaube, die Botschaft ist heutzutage eher: Und so kannst du auch sein, wenn du nur deinen faulen Arsch hochbringst und hart an dir arbeitest! Und ich glaube, das ist die Falle, in die viele fallen. Es kann nicht jeder aussehen wie Heidi Klum. Als ich so viel wog, wie Heidi Klum, sah ich ätzend aus. Und habe meine Tage nicht und bin todunglücklich."
Die Botschaften in den einschlägigen Medien sind schizophren: in einer Woche preisen sie den Weg zur perfekten Bikinifigur an, in der nächsten Ausgabe stellen sie entsetzt vermeintliche Essstörungen prominenter Vorbilder zur Schau. Dass sich die Körperformen neben den grellen Überschriften "Strand-Fit in einer Woche" oder "Hilfe, sie hungern sich hässlich" nur graduell unterscheiden, spielt dabei keine Rolle.
Doch wo ist die Trennlinie zwischen gesunder Ernährung und zwanghafter Kontrolle zu setzen? Zwischen Strand-Figur und einem Ausstellen des eigenen Skeletts? Dürfen allein die Boulevardmedien über diese Linie entscheiden? Die Hamburger Journalistin Nora Burgard baut derzeit eine Multimedia-Plattform auf, mit der sie das medial verzerrte Bild von Essstörungen mit wissenschaftlichen Fakten konfrontieren – und so für Aufklärung sorgen will. Hinter jedem Krankheitsfall steht eine individuelle Biografie mit Verletzungen und Traumata, betont Nora Burgard. Daher ließen sich die Schicksale von Magersüchtigen nicht pauschal über den Einfluss von Fernsehshows erklären.
"Mir fehlt diese Komplexität dahinter und mir fehlt auch so ein bisschen die professionelle Betrachtung darauf. Für mich ist ganz klar, Heidi Klum kann nicht Schuld daran sein, dass junge Frauen oder junge Männer eine Essstörung entwickeln. Ich habe das Gefühl, die Krankheit wird nicht richtig verstanden und dann wird nach einem Grund gesucht. Und dieser Grund ist dann gesellschaftlicher Einfluss, ein herrschendes Schönheitsideal. Und das ist mir zu simpel."
Nora Burgard hat nicht den gesamtgesellschaftlichen Schlankheitswahn im Blick, sondern den verschwindend geringen Anteil der Bevölkerung, auf den die Diagnose "Magersucht" tatsächlich zutrifft. International geht man von einer Häufigkeit zwischen 0,5 bis 2 Prozent der Bevölkerung aus. Wie viele Menschen in Deutschland betroffen sind, darüber gibt es laut Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung keine repräsentativen Daten. Fest steht, dass im Jahr 2012 in deutschen Krankenhäusern rund 11.500 Menschen wegen einer Essstörung stationär behandelt wurden und 70 infolge einer Essstörung gestorben sind. Am eigenen Bild der Schönheit zugrunde gehen – diese Formel ist Nora Burgard zu kurz gegriffen.
"Ich glaube nicht, dass ein Schlankeitswahn oder ein Schönheitsideal, dem man nacheifert so stark sein kann, dass man sein eigenes Leben dafür aufs Spiel setzt und dann auch noch das Leben eines ungeborenen Kindes."
Berühmt durch eine Kampagne gegen Magersucht - drei Jahre später tot
Für Nora Burgard mögen die Bilder einer extrem dünnen Angelina Jolie auf dem Roten Teppich beunruhigend wirken – aber es ist noch ein langer Weg zum anorektischen Unkörper einer Isabelle Caro, die 2007 durch eine Kampagne gegen Magersucht berühmt wurde und drei Jahre später an den Folgen ihrer Krankheit verstarb. In vielen Publikationen würden jedoch Jolie und Caro undifferenziert unter dem Label "magersüchtig" über einen Kamm geschoren. Deshalb hat Nora Burgard ihre Plattform "Heute sind doch alle magersüchtig" getauft. Die Journalistin wehrt sich gegen einen sensationslüsternen Blick, der Essstörungen banalisiert – indem er zwischen gesellschaftlichem Schlankheitsideal und tödlicher Erkrankung kaum unterscheidet. So schürt er die Unsicherheit aller Frauen, weil er das Bild der schwangeren Frau weiter normiert. Die Hebamme Katharina Perreira sieht daher ihre Aufgabe vor allem darin, das Selbstvertrauen werdender Mütter zu stärken.
"Ich glaube, dass den Frauen sehr viel aufgedrückt wird, wie sie zu sein haben, wie sie zu erscheinen haben, wie sie schwanger zu sein haben und wie sie sich als Mütter zu fühlen haben, und auch als Schwangere. Ich könnte jetzt ganz tiefgreifend sagen, das ist ein sehr gesellschaftliches Problem, weil man natürlich den Frauen viel Kraft abspricht und viel Intuition, die sie ja haben, einfach infrage stellt."
Miriam Boser musste ein solches Vertrauen in sich selbst wieder neu entdecken. Vor allem während der ersten Schwangerschaft kämpfte sie immer wieder gegen die Dämonen ihrer früheren Magersucht an. Trotzdem beschreibt sie wie viele Frauen im Rückblick diese Zeit auch als eine Entlastung.
"Im Grunde ist es die einzige Phase im Leben, wo man dicker werden darf und sogar zunehmen soll. Und das konnte ich dann auch annehmen, weil man ja immer sagen kann, es ist ja nicht wegen meiner Undiszipliniertheit, sondern es ist wegen des Kindes, es muss so sein."
Miriam Boser hat zwar immer den Blick auf die Gewichtstabellen gebraucht, als Absicherung, dass ihr Gewicht nicht unkontrolliert in die Höhe schießt. Auch eine psychologische Begleitung beschreibt sie als große Hilfe während der Schwangerschaft. Doch heute habe sie ein gutes Gefühl, dass ihr der Schritt in ein normales Familienleben geglückt sei, sagt sie behutsam und lächelt. Das innere Erbsenzählen hört nie vollständig auf und Miriam Boser achtet auch bei ihren Söhnen auf eine gesunde Ernährung. Aber das schließt Kekse nicht aus.
"Also die hier sind ein bisschen fettärmer, da hier ist ein bisschen Vollkorn bei, also ich gucke schon so ein bisschen, dass es nicht der ganz große Mist ist, den kriegen sie schon woanders. Aber sonst gehört das auch zum Leben dazu, für mich ja inzwischen auch wieder."
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