Folkert Uhde gründete nach Stationen als Techniker, Barockgeiger, Musikwissenschaftsstudent und Konzertagenturbetreiber gemeinsam mit Jochen Sandig 2006 das Radialsystem in Berlin. Er war Künstlerischer Leiter des Radialsystems, des Musikfestes ION in Nürnberg und er ist Intendant der Köthener Bachfesttage.
Weg von der Bettleroper
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Durch die Pandemie wurde 2020 für Kulturschaffende zum bittersten Jahr der Nachkriegsgeschichte. Kulturmanager Folkert Uhde meint, es sei höchste Zeit, selbstkritisch über völlig neue Wege der Existenzsicherung für Kulturschaffende zu diskutieren.
Außer Spesen nix gewesen. Ich kenne Musiker:innen, die trotz internationaler Karriere in Spitzenensembles jetzt Grundsicherung beziehen. Agenturen, die Pleite sind. Die berufliche Zukunft, die Frage, ob man/frau weiter künstlerisch tätig sein kann, entscheidet sich im Geschick, Anträge zu formulieren und das Förderdickicht zu durchschauen – oder gleich durch das Los, zu begutachten in der Hauptstadt.
Der Berliner Senat hat vor kurzem eine im Grunde lobenswerte Einzelkünstler:innenförderung auf den Weg gebracht und knapp 2.000 Stipendien vergeben. Einziges Kriterium war der Nachweis der "professionellen künstlerischen Tätigkeit". Es bewarben sich mehr als 8.000. Und raten Sie, wie die Glücklichen ermittelt wurden? Per Los! Wie in der Bettleroper.
Selbstkritik ist angesagt
So geht es nicht weiter mit der Existenzsicherung freier Künstler:innen und dem Erhalt der vielfältigsten freien Musikszene der Welt: Entweder entscheidet das Los, oder es gibt komplizierte und sich zum Teil ausschließende Fördermöglichkeiten per Antrag. Stets müssen neue Projekte kreiert, geplant und durchgeführt werden. Als Ersatz für die, die nicht stattfinden durften. Und jetzt aber leider wieder nicht stattfinden dürfen.
Aber wir sollten als Kulturszene auch viel selbstkritischer sein: Vielleicht müssen wir akzeptieren, dass uns offensichtlich sehr viele Menschen nicht verstehen. Sie wissen nicht was wir tun, wie wir es tun, und warum wir es tun.
Trotzdem sind wir beleidigt: "Unsere Freiheit! Bevormundung! Wir haben doch Alles richtig gemacht! Wir tun doch nichts, wir wollen nur spielen..." Und vielleicht liegt ja genau da unser Problem. Wir wollen nur spielen! Wir interessieren uns nur wenig für die Welt, übrigens auch wenig für die Umwelt.
Oder warum finden wir es immer noch schick, für drei Konzerte mit einem ganzen Sinfonieorchester samt Chefetage um den halben Globus zu jetten?
Ein Zurück in die Utopie?
Immer sichtbarer wird auch ein Generationenkonflikt: Viele jüngere Musiker:innen wollen eben häufiger nicht "nur spielen". Schon gar nicht immer dasselbe. Viele suchen nach neuen Inhalten, Formen und Modellen mit mehr Vielfalt und Nachhaltigkeit.
Vielleicht haben wir vor Corona in einer utopischen Blase gelebt. Im April haben wir uns plötzlich unter Schock gefühlt wie in einer dystopischen Netflixserie: blauer Himmel, keine Menschenseele zu sehen. Heute sind wir in einer neuen Realität angekommen, in der alles anders ist, als vorher. Ein Zurück in die Utopie wird es nicht mehr geben.
Das heißt, wir brauchen Übergangslösungen in die Zukunft, nicht in die Vergangenheit. Dabei werden wir vieles und viele verlieren. Auch dieser Wahrheit müssen wir ins Auge sehen. Es gibt keine Strukturveränderungen ohne Verlierer:innen.
Der Kohleausstieg ist ein seit 30 Jahren andauernder Prozess, der Strukturwandel der Autoindustrie ist in vollem Gange. Aber wie in der Wirtschaftspolitik, sollten wir in der Kultur nicht mehr in aussterbende Verbrennungsmotoren investieren, sondern in etwas Neues.
Eine neue Definition von Erfolg
Wir müssen uns der Realität stellen und uns ehrlich machen. Selbstbewusst und selbstkritisch, offen für Neues. Dafür müssen wir die Fassaden abnehmen und uns trauen, dahinter zu schauen. Vom hohen Ross absteigen und andere Perspektiven einnehmen.
Ein neues Verständnis von "Leitung" entwickeln, bei dem es nicht mehr um das hierarchische Entscheiden geht, sondern um das Moderieren von Prozessen, Partizipation, Diversität, Vernetzung mit lokalen Communities. Und damit einhergehend auch eine neue Definition von "Erfolg".
Wir brauchen neue Fördersystematiken und Schwerpunkte. Wir müssen uns über soziale Absicherungen für die "Freien" aller Richtungen verständigen und die gegenwärtig stattfindende de-facto-Verarmung solidarisch auffangen. Wie können wir das Instrument der Kurzarbeit auf Selbstständige übertragen?
Vor allem müssen wir uns einigen, wie viele Kulturen wir meinen, wenn wir über "Kultur" sprechen. Was fehlt uns und anderen? Und was ist uns das wert? Wenn das gelingt, ist Kultur vielleicht auch irgendwann nicht mehr "Freizeitbeschäftigung" und eine "freiwillige Leistung" der Kommunen, die jederzeit weggekürzt werden kann. Sondern Teil der Daseinsvorsorge, ein zentrales Anliegen der Gemeinschaft.
Wir müssen reden: über einen New Deal for Culture. Jetzt.