Ein Papst der Überraschungen

Von Thomas Migge |
Er isst in der Kantine, schläft in einer einfachen Suiten und entsagt auch sonst allem Prunk. Mit Papst Franziskus ist ein neuer Stil im Vatikan eingezogen. Dass der 266. Nachfolger auf dem Stuhl Petri auch die großen Reformen bringt, glauben Theologen und Vatikan-Experten eher nicht.
"Brüder und Schwestern. Guten Abend!"

Mit diesen Worten begrüßte Jorge Mario Bergoglio die auf dem Petersplatz versammelte Menge. Kurz zuvor war der Argentinier vom Kardinalskollegium in der Sixtinischen Kapelle zum Nachfolger von Papst Benedikt XVI. ernannt worden. Einige wenige Worte von so großer Einfachheit, dass Papst Franziskus sofort Heerscharen von Journalisten und Hunderttausende von Gläubigen für sich einnahm.

"Ihr wisst ja jetzt, dass der Sinn des Konklaves gewesen ist, Rom einen Bischof zu geben. Es scheint, dass meine Mitbrüder diesen Bischof am Ende der Welt gesucht haben."

Das war am 13. März. Nur wenige der in Rom akkreditierten Journalisten und die meisten Gläubigen, die mit Spannung auf den neuen Papst gewartet hatte, konnten mit dem Namen Bergoglio etwas anfangen. Der 266. Nachfolger auf dem Stuhl Petri war ein weitgehend Unbekannter. Jemand, der viele Rätsel aufgab. Sein Verhalten, oder genauer: sein, weil recht unkonventionelles, Auftreten überraschte die Weltöffentlichkeit, und jene hohen Chargen innerhalb des Vatikans, die an den eher konventionell auftretenden Joseph Ratzinger gewöhnt waren.

Das unkonventionelle Verhalten des neuen Papstes – der Umstand, dass er sich primär nur als Bischof von Rom kleidet, nicht in der offiziellen päpstlichen Wohnung residieren will und gern Tacheles mit Bischöfen und Kardinälen redet – ist nur die eine Seite eines Mannes, der den Kern der Kirche umbauen will, meint Giacomo Galeazzi, Vatikanexperte der Tageszeitung "La Stampa":

"Ich habe den Eindruck, dass er sich langsam aber sicher auf etwas recht Wesentliches hinzubewegt. Ganz im Sinn der Regel des Heiligen Ignatius von Loyola, des Gründers des Jesuitenordens, dem er ja angehört, sammelt er in dieser ersten Phase seines Pontifikats alle nötigen Informationen, um dann in der zweiten Phase grundlegende Entscheidungen zu treffen. Jetzt, in dieser ersten Periode seines Amts trifft er alle wichtigen Personen, fragt, hört zu. Er trifft die Repräsentanten aller Dikasterien."

Also aller Ministerien des Kirchenstaates. Vatikanjournalist Galeazzi will aus sicherer Quelle erfahren haben – und das gilt auch für die Vatikanexperten anderer italienischer Medien –, dass Franziskus im Herbst wichtige Entscheidungen treffen wird. Im Oktober wird eine vom Papst ernannte Gruppe aus acht angesehenen Kardinälen – auch Reinhard Marx, Erzbischof von München-Freising, ist mit dabei – als päpstliches Beratergremium ihre Arbeit aufnehmen. Dann wird die erste Phase seines Pontifikats beendet sein. Eine Phase übrigens, so Galeazzi, die auch von der gründlichen Lektüre des berühmt-berüchtigten Vatileaks-Berichts bestimmt ist:

"Nach all diesem Informationen-Sammeln wird er im Oktober jene wichtigen Entscheidungen treffen, die die Kurie und der von ihm nominierte Rat aus acht Kardinälen in die Realität umsetzen muss."

Ein Rat übrigens, der ein absolutes Novum für die Zentrale der katholischen Kirche ist. Ein Papst hatte bisher eine Kurie. Ihr steht der sogenannte Kardinalstaatssekretär als die Nummer zwei im Kirchenstaat vor. Das ist zurzeit Tarcisio Bertone, ein enger Vertrauter von Benedikt XVI., der allerdings durch die Enthüllungen des Vatileaks-Berichts in Sachen Korruption und andere undurchsichtige Machenschaften in Misskredit geraten ist. Papst Franziskus verlor in seinen ersten 100 Tagen nie ein direktes Wort der Kritik zu bestimmten Zu- und Umständen in seinem Zwergstaat. Doch durch die Blume kritisierte er Kurienklüngel, Karrieredenken von Geistlichen und Korruption in der Kirchenverwaltung. Wer verstehen wollte, so der römische Vatikanspezialist Massimo Ricci, der konnte verstehen:

"Die bekannt gewordenen klaren Worte des Papstes zum Beispiel zur 'lobby gay', also zu sogenannten schwulen Seilschaften innerhalb des Kirchenstaates, zu ultrakonservativen Gruppen und gewissen New-Age-Tendenzen, zur Arbeit der Glaubenskongregation und der Kurie wurden vom vatikanischen Presseamt nie, wie es in solchen Fällen heißt, richtiggestellt."

Und das bedeutet nichts Anderes, als dass es Nichts richtig zu stellen gibt - dass Bergoglio es genauso meint, wie er es sagt. Die ersten 100 Tage dieses Papstes sind auch von einem neuen Papstsstil gekennzeichnet, etwa die privaten Räume des Papstes. Massimo Ricci:

"Ein kleiner Salon mit ein paar Sesseln und einem Sofa, ein Schreibtisch, eine Bücherwand, ein Teppich und Neonlampen. Dann das Schlafzimmer, ein Kühlschrank und das Bad. Aber der Bewohner dieser Hotelsuite beklagt sich nicht. Er ist bescheiden. Morgens steht er übrigens um 4:45 Uhr auf, 15 Minuten später betet er in einer Kapelle, rund eine Stunde lang."

Immer noch wohnt Franziskus in der Casa Santa Marta, dort, wo die wahlberechtigten Kardinäle während des Konklave wohnten, und danach Besucher des Vatikans. In der Papstwohnung will Franziskus nicht leben. Obwohl anfangs viele Vatikanbewohner davon ausgingen, dass Bergoglio schon bald in die Papstwohnung umziehen wird, weil es dort weitaus bequemer ist als in der Casa Santa Marta, bleibt der Papst dort.

Der Bruch mit fest gefügten Regeln ist unter Papst Franziskus zur Routine geworden. Franziskus isst in der Kantine, abends steht er mit den anderen Bewohnern der Casa Santa Marta mit einem Tablett in der Hand in der Schlange vor dem Buffet und setzt sich dann zu anderen an einen Tisch. Von absoluter Reserviertheit wie bei seinem scheuen Vorgänger ist bei ihm nichts zu spüren. Den emeritierten Papst besucht Franziskus häufig. Dabei legt er – zum Entsetzen seiner Sicherheitsleute – die 200 Meter Luftlinie zwischen seiner Unterkunft und dem ehemaligen Kloster in den vatikanischen Gärten, in denen Joseph Ratzinger lebt, zu Fuß zurück. Zum diesem für einen Papst erstaunlichen Verhalten der emeritierte deutsche und vatikankritische Tübinger Theologe Herrmann Häring:

"Diese Äußerlichkeiten besagen zunächst Abkehr von allem Prunk und oberflächlichen Gehabe, dass sein Vorgänger ja nicht aus triumphalistischen Gefühlen getragen hat, sondern er meinte, damit wirklich die Schönheit und die Größe des Glaubens und der Gnade darstellen zu können. Er weiß also gut, dass das eine barocke, überholte Haltung ist. Und deshalb geht er eben zurück; er sucht elementare Gesten."

Jose Mario Bergoglio ist ein Papst der Überraschungen. So sagte er ganz freimütig, dass er seine erste Enzyklika zum Thema des Glaubens zusammen mit Joseph Ratzinger verfasse. Ein absolutes Novum: eine vierhändig formulierte Enzyklika.

Mit dogmatisch-reformerischen Überraschungen, darin sind sich alle Theologen und Vatikanexperten einig, wird während dieses Pontifikats allerdings nicht zu rechnen sein. Ratzinger und Bergoglio verstehen sich dogmatisch ausgezeichnet. Doch in Sachen Kirchenöffnung in Richtung anderer Religionen wird es unter Franziskus sicherlich eine Öffnung geben. Auch in Sachen Ökumene. Äußerte er sich doch schon einige Mal positiv über, Zitat: "meine Brüder und Schwester anderer Glaubensrichtungen."

In den nächsten Wochen wird Franziskus einen neuen vatikanischen Staatssekretär ernennen. Der Nachfolger des umstrittenen Tarcisio Bertone ist noch geheim, doch wird damit gerechnet, dass es sich um jemanden handeln wird, der in der Kurie von Grund auf aufräumt. Die Rede ist von einigen Geistlichen, die das Vertrauen Bergoglios genießen, darunter der amtierende apostolische Nuntius in Paris, Luigi Ventura , und Fernando Filoni, Sekretär der Missionskongregation Propaganda Fide.

Und nicht nur dort: Die Weiterexistenz des erneut ins Gerede gekommenen vatikanischen Geldinstituts IOR, gegen das immer noch und wieder wegen Geldwäsche ermittelt wird, steht unter Papst Franziskus auf dem Spiel. Nicht ausgeschlossen ist, so heißt es aus dem nächsten Umfeld des Papstes, dass er das IOR auflösen und die Gelder seiner Kirche bei einer anderen Bank hinterlegen könnte.