Eine Pflegefamilie scheitert

Die Kurzzeitschwester

45:02 Minuten
Ein altes Kinderfoto von Vanessa und Philipp, sie laufen Arm in Arm einen Waldweg entlang.
Drei Jahre waren Philipp und Vanessa wie Bruder und Schwester, danach verschwand Vanessa aus dem Leben des Sechsjährigen. © Philipp Lippert / DRIVE beta GmbH
Philipp Lippert im Gespräch mit Sonja Koppitz |
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Philipp Lippert ist sechs, als seine Pflegeschwester Vanessa von einem Tag auf den anderen aus seiner Familie verschwindet. Seitdem wurde nie über sie gesprochen. Knapp 20 Jahre später macht er sich auf die Suche nach Erklärungen – und nach Vanessa.
Vanessa ist zwei, als sie als Pflegekind in Philipps Familie kommt – direkt aus dem Gerichtssaal, wo sie von ihren leiblichen Eltern getrennt wurde. Die ersten Nächte in der neuen Familie schläft das kleine Mädchen kaum. Doch der gleichaltrige Philipp und sie fühlen sich bald wie echte Geschwister.

Das Familienglück scheint perfekt

„Am Anfang, da war das noch so richtiges Abenteuer und so schön, zusammen zu sein“, sagt Philipps Mutter Heike. Sie hat sich schon immer eine große Familie gewünscht und nach drei Fehlgeburten zusammen mit ihrem Mann entschieden, ein Pflegekind aufzunehmen. Mit Vanessa scheint das Familienglück perfekt.
Doch bald tauchen erste Probleme auf, erinnert sich Philipps Oma: „Das war ein liebes Mädchen und sie war auch sehr zutraulich. Das hat sich allerdings geändert, als das Kind größer wurde und einen eigenen Willen hatte. Damit ist die Heike dann nicht mehr so ganz fertig geworden. Sie hat dann sehr oft unnötigerweise an der Vanessa genörgelt.“

Die Mutter ist überfordert

Heike jedoch fühlt sich allein gelassen. Vor allem von ihrem Mann: „Das bleibt auch letztendlich alles an mir hängen. Kindererziehung und Entscheidungen, wie man Kinder erzieht, das war halt mein Job“, erzählt Heike.
Als Heike wieder schwanger wird und einen zweiten Sohn bekommt, spitzt sich die Situation zu. „Ich war überfordert. Ich konnte irgendwann auch nicht mehr gelassen oder locker reagieren. Das war alles immer noch ein Tropfen, der irgendwann das Fass zum Überlaufen bringt, und dann läuft es nur noch über“, sagt Heike heute.

Vanessa kommt ins Heim

Philipps Eltern treffen eine schwerwiegende Entscheidung: Sie bringen Vanessa ins Kinderheim.
"Ich habe sie weggebracht. Ich habe sie hingefahren, und wir haben dann dort ihre Sachen eingeräumt, ihr Bett bezogen. Sie hat ihre Kuscheltiere ins Bett gelegt. Am nächsten Tag nach dem Frühstück bin ich abgereist", erinnert sich Philipps Vater.
Die nachgestellte Szene des Kinderfotos von Vanessa und Philipp nach 17 Jahren, sie laufen Arm in Arm einen Waldweg entlang.
Nachgestellte Szene nach 17 Jahren: Philipp Lippert und seine Schwester Vanessa.© Philipp Lippert / DRIVE beta GmbH
Seit diesem Tag hat Vanessa die Familie nicht mehr gesehen. Unter den Erwachsenen herrschte Schweigen.
In Plus Eins erzählt Filmemacher Philipp Lippert, wie er das Schweigen gebrochen hat.

Die dreiteilige Dokumentation „Kurzzeitschwester“ von Philipp Lippert zeigt seltene und intime Einblicke in das soziale Konstrukt Familie: Es geht um generationsübergreifende Traumata, unterbewusste Wünsche, Schuldgefühle und Versagensängste. Zu sehen gibt es alle drei Teile beim NDR.

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