Dr. Klaus Englert, Architekturkritiker, schreibt für die Frankfurter Allgemeine Zeitung und den Hörfunk. Er war Kurator der Ausstellung "Architektenstreit. Brüche und Kontinuitäten beim Wiederaufbau in Düsseldorf" (Stadtmuseum Düsseldorf) und der Wanderausstellung von "Neue Museen in Spanien" und schrieb die Bücher "Jacques Derrida" und "New Museums in Spain".
Nehmt Abschied von der Spektakel-Architektur!
Einerseits fehlt in den Städten bezahlbarer Wohnraum, andererseits werden auf Filetgrundstücken ständig neue Spektakelbauten eingeweiht - ein Skandal, findet Architekturkritiker Klaus Englert. Er fordert eine neue, ethische Architektur.
Vor einigen Jahren lautete das Motto der Architekturbiennale Venedig: "Less aesthetics, more ethics". Der Titel war gemünzt auf die internationalen Architektenstars, die mit dem schönen Glanz der Architektur fast jedes lukrative Großprojekt ergattern. Doch es wächst die Zahl derer, die das gockelhafte Gespreize der Großarchitekten für unsozial halten. Vor dieser Kritik sind auch gefeierte Prestigebauten wie die Hamburger Elbphilharmonie nicht sicher.
Denn seit einiger Zeit melden namhafte und weniger namhafte Architekten Widerspruch an. Sie verteidigen die Ethik ihrer Profession, ohne dabei die Bauästhetik zu vernachlässigen. Vorgemacht hat das erstmals der Japaner Shigeru Ban, der 2000 auf der Hannoveraner EXPO bewies, dass sich aus versteiften Papierröhren ein funktionsfähiger und anmutiger Pavillon zaubern lässt.
Das war ressourcenschonend, da das Gebäude mit geringem Energieaufwand recyclebar ist. Shigeru Ban, Pritzker-Preis-Gewinner von 2014, hat zwar Kulturtempel wie das Centre Pompidou in Metz errichtet, war aber auch zur Stelle, um schnell montierbare Unterkünfte für Katastrophenopfer auf Haiti, in Indonesien und in Japan zu bauen sowie Kathedralen und Kirchen in Katastrophenzentren.
Bauen mit modernem Wissen und traditionellen Materialien
Bislang bleibt das Gros der Architekten von diesem Trend unberührt. Doch die internationale Anerkennung der scheinbaren Außenseiter nimmt zu.
Viel Aufmerksamkeit erhielt Francis Kéré, der an der TU Berlin studierte. In seinem Heimatdorf in Burkina Faso, das kaum Zugang zu Trinkwasser, Bildung und medizinischer Versorgung besitzt, baute er mit einfachsten Mitteln eine Grundschule, eine öffentliche Bibliothek und Lehrerwohnhäuser. Mit modernem Wissen und traditionellen Materialien. Als erster afrikanischer Architekt ist Kéré jetzt für den renommierten Serpentine Pavilion verantwortlich, der gerade im Londoner Hyde Park eröffnete.
Auch Alejandro Aravena stammt aus einem Land, das vor nicht allzu langer Zeit zur Dritten Welt gerechnet wurde. Im chilenischen Iquique gestaltete er Wohnmodule, die von einkommensschwachen Familien jederzeit nach Bedarf ausgebaut werden können. Das Modell dafür stammt von der Architekten-Avantgarde um den Berliner Baudezernenten Martin Wagner, der 1932, während der Weltwirtschaftskrise, "das wachsende Haus der Zukunft" ersann. Mittlerweile entwickelt der Chilene Aravena seine preiswerten, anpassungsfähigen Module auch für andere lateinamerikanische Städte. Er ist damit der bekannteste Vertreter einer "architecture engagée". 2016 erhielt er nicht nur den renommierten Pritzker Award – den Nobelpreis unter Architekten –, im selben Jahr wurde er zudem Leiter der Architekturbiennale Venedig.
Die Elbphilharmonie - ein Relikt der Spektakel-Architektur?
Last but not least, die Amsterdamer Architekten "NL Architects" gewannen in diesem Frühjahr den begehrtesten europäischen Architekturpreis: den Mies van der Rohe Award. Dabei renovierten sie – völlig unspektakulär – mit wenig Geld einen riesigen Wohnkomplex in Amsterdams einstigem Problemviertel Bijlmermeer. Und korrigierten ganz nebenbei einige gravierende Fehler, die vor 50 Jahren die modernen Apologeten der "neuen Stadt" begangen hatten. Denn die dachten fast ausschließlich an funktionelle Verkehrswege, nicht an die persönlichen Lebensträume der Bewohner. "NL Architects" berücksichtigten die Wünsche der Wohnungseigentümer.
Das sind die wahren Prestigeprojekte. Bauten wie die Hamburger Elbphilharmonie dagegen könnten einmal als ein Relikt aus der Zeit der Spektakelarchitektur gelten. Die Zukunft folgt dem Alphabet der "sozialen Architektur". Diese soll arm, nachhaltig und partizipativ sein. Denn das alte Biennale-Motto wird immer dringlicher: "Less aesthetics, more ethics".