Ein Plädoyer für soziale Großzügigkeit

Von Astrid Mayerle · 27.11.2010
Wenn von Großzügigkeit die Rede ist, denken wir oft an Menschen, die üppige Geschenke machen, die andere gerne einladen und im Restaurant ein ordentliches Trinkgeld hinterlassen. Großzügigkeit, als grundlegendes menschliches Handeln verstanden, hat aber auch eine nicht-materielle Komponente.
Ein großzügiger Mensch ist jemand, der seinem Gegenüber, dem Anderen, wohlwollend begegnet und nicht kleinlich, der tolerant ist oder der generell mitfühlend auf seine Umgebung reagiert. Roger Willemsen, Autor und Botschafter der Hilfsorganisaiton Amnesty International, hat dieses Verhalten vor allem anderswo erlebt:

"Ich kann sagen, dass die immaterielle Seite der Kultur, also was die Kultur des Liebens, des Tröstens, des Dankens, des Trauerns angeht, ich in Kulturräumen wie Afghanistan oder auch in den Kulturen des Mittleren Ostens insgesamt häufig eine viele größere Raffinesse, eine viel höhere Differenzierung von Ritualen kennengelernt habe, als es hier in Deutschland der Fall ist."

Rituale setzen Gemeinschaft voraus und diese wiederum lebt von einem aufrichtigen Interesse am Anderen, von einem Gefühl der Vertrautheit und Zusammengehörigkeit – und von dem Bewusstsein der Schutzbedürftigkeit eines jeden Mitglieds. Meist bewundern wir diese grundlegende empathisch-mitfühlende Haltung bei anderen Kulturen und stellen gleichzeitig fest, dass manche Prinzipien des modernen Lebens mit genau dieser Haltung konkurrieren. Der Philosoph Wilhelm Vossenkuhl geht an die Wurzeln gemeinschaftsfeindlichen Verhaltens:

"Da gibt's nicht nur eine Wurzel dieses Verhaltens, sondern viele. Eine ist bestimmt die, dass wir eine Mentalität entfaltet haben, die sehr viel Platz gegriffen hat, in der wir die Selbstbehauptung, die Behauptung unserer eigenen Interessen und den Erfolg, den wir damit verbinden, auch hoch schätzen und honorieren. Das fängt in der Schule an, wo der Klassenbeste oder die Klassenbeste gekürt wird. Das ist eine Mentalität, die noch nicht so alt ist und auch eigentlich in unserem Kulturkreis nicht nur neu, sondern auch fremd. Die Soziale Großzügigkeit eigentlich als alte und lange Tradition, scheint abhanden gekommen zu sein, das ist vielleicht auch ein Aspekt der Globalisierung."

Wettkampf, Vorteile, der Kampf ums Eigene. Das sportliche Bestreben, immer besser und schneller zu sein, ist ein Handicap für die soziale Großzügigkeit, für die Fähigkeit, dem Anderen Raum zu geben. Wie sehr sich das Prinzip ständigen Wettkampfs verselbständigt hat, zeigt sich nicht nur in beruflichen Situationen, sondern auch in ganz alltäglichen Momenten, in denen gedrängelt und gehupt wird, als ginge es darum, wer als erster die Ziellinie erreicht, die Goldmedaille oder die Beförderung bekommt, wo man doch nur in der Schlange vor der Supermarktkasse steht oder im Berufsverkehr an der Kreuzung. Jochen Sautermeister, Moraltheologe:

"Wenn man sagen würde, was gehört alles zur Nächstenliebe dazu und man würde versuchen, wichtige Begriffe zu finden, dann ist die Fairness insofern wichtig, weil die darauf achtet, dass der Andere nicht benachteiligt wird, dass der Andere gerecht behandelt wird und damit ist man schon bei einem ethischen Begriff, der bedeutet, dem Anderen das zukommen zu lassen, was ihm auch zusteht."

Das erfordert, sich in den Anderen, in den Nächsten hineinzuversetzen, seine aktuelle Situation zu bedenken, nicht nur die eigene.

"Eigentlich braucht es das in jedem Bereich, dass ein gutes Miteinander möglich wird. Wenn man sagt, mit der Nächstenliebe ist ein Verhalten gemeint, in dem ich dem Anderen gegenüber wohlwollend begegne, ihn in seiner Person respektiere und achte und ihn auch als moralisches Subjekt anerkenne, als jemand, der sein Leben ebenso bestrebt ist, zum Gelingen zu bringen, wie ich auch. Wenn ich schaue, dass ich da ein soziales Verhalten in Kooperation hinbekomme, ist das ja schon ne ganze Menge.""

Das entspräche der jüdisch-christlichen Vorstellung von Nächstenliebe, der Nächste als derjenige, der mir gerade unmittelbar begegnet, der gerade da ist – zu Hause oder im Büro, im Supermarkt oder an der Tankstelle, im Schwimmbad oder im Kino. Wilhelm Vossenkuhl, Philosoph:

"Wir sind heute verunsichert. Viele Menschen wenden sich viel stärker und viel intensiver den abstrakten Personen zu, von denen sie gehört haben oder wissen, dass sie in Not sind, als dass sie sich um die kümmern, die gerade in der Nähe sind. Das ist heute leider Gottes ein verbreitetes Phänomen, dass sich Väter, Mütter nicht so sehr mit ihren Kindern als mit irgendwelchen Menschen, die weit weg sind, beschäftigen, und meinen ihr Einsatz sei da gefordert. Also ich glaube, wir sind da gerade durch die Globalität der Möglichkeiten, mit anderen Menschen in Verbindung zu treten, verunsichert."

Wer der Nächste ist, oder wer der Nächste sein könnte, ist in einer Mediengesellschaft, die den Entferntesten zum Nächsten macht, auch ein Entscheidungsprozess. Die eigene Wahl, der eigene, selbst gesteckte Aktionsradius bestimmen letztlich. Was aber sind die Kriterien der Entscheidung? Ist es besser, sich um die Menschen zu kümmern, die einem besonders nahe stehen oder um solche, deren Not am größten ist? Welches Koordinatensystem gilt? Roger Willemsen:

"Man könnte ja sogar sagen, dass wir ein wenig kontaminiert sind durch Psychologie, dass wir eigentlich aus unserer psychologischen Beurteilung einer Person auch ein moralisches System machen und fragen, bist du es wert? Bist du auf der Seite der Guten oder der weniger Guten oder der nicht zu Berücksichtigenden?"

Soziale Großzügigkeit im Sinne der Nächstenliebe fragt nicht nach dieser Art moralischer Gerechtigkeit. Der Andere, der Nächste wird allein in der Situation seiner Bedürftigkeit gesehen. Oder: Was ist der Situation angemessen?

"Dass es nicht darum geht, auf ne Gerechtigkeit zu pochen und zu sagen, das steht dir zu und nicht mehr, sondern im Einzelnen noch mal abzumessen, was ist das für die Person Gerechte? Insofern gibt es immer zwei Prinzipien, das eine ist Gerechtigkeit und das Andere das gute, gelingende Leben. Und da kann es durchaus sein, dass Menschen für das gelingende Leben auch mehr brauchen als man meint, was gerecht sei."

Dem Nächsten zu begegnen - mit sozialer Großzügigkeit: jemanden, der es eilig hat in Schlange an der Supermarktkasse vorzulassen, mit einem Kollegen, der zu spät kommt, nachsichtig zu sein, auch wenn es eine pünktliche Verabredung gab, über die Fehler des Anderen hinwegzusehen. Großzügig im Umgang mit Anderen sein zu können, zeigt auch eine Art Souveränität: Großzügige Menschen haben keine Angst zu kurz zu kommen oder sich zu verausgaben. Sie vertrauen in die Situation und darauf, dass ihr Signal im Moment das richtige ist – für alle Beteiligten.