"Ein politisches Schockerlebnis"
Der Volksaufstand in der DDR vor 60 Jahren war ein Kampf für ein besseres Leben, aber auch für freie Wahlen und die deutsche Einheit, sagt der Theologe Friedrich Schorlemmer. Nach der Niederschlagung sei es in der DDR ein "Tabutag" gewesen, "darüber durfte nicht geredet werden".
Gabi Wuttke: Überall in der DDR protestierten sie, die Forderung nach mehr Lohn war die erste Kampfansage gegen die Führung. Aber anders als im Herbst 1989 wurde der Aufstand des Volkes am 17. Juni 1953 von Panzern niedergewalzt. Bundespräsident Joachim Gauck wünscht sich 60 Jahre später:
Joachim Gauck: "... dass das Wissen über den 17. Juni in der DDR zum Allgemeingut aller Deutschen wird und dieser Tag damit jene Anerkennung erfährt, die ihm als Volksaufstand gebührt."
Wuttke: Und was wünscht sich Friedrich Schorlemmer, der ehemalige Pfarrer und Bürgerrechtler? Ich habe ihn gefragt, ob es 60 Jahre nach dem 17. Juni 1953 damit getan ist, im Bundestag zu erinnern und in Berlin einen Platz des Volksaufstandes 1953 zu benennen.
Friedrich Schorlemmer: Es ist damit nicht getan. Wir müssten viel mehr ins Bewusstsein bringen, dass es nicht nur ein Aufstand war, der an der Stalinallee stattfand, sondern in ganz vielen Orten, großen und kleinen, selbst in Dörfern, und dass es ein Kampf war, zunächst für ein besseres Leben und jedenfalls gegen eine solche Normerhöhung, dann aber auch gleich für freie Wahlen und die deutsche Einheit. Und dass Deutsche Freiheitskampf und Abschüttelung von Diktatur können, das haben wir dann eben im Herbst 1989 gezeigt.
Wuttke: In der Altmark wird es keine Panzer gegeben haben. Herr Schorlemmer, Sie waren im Juni 1935 neun Jahre alt, haben Sie damals was mitbekommen, haben Sie etwas mitgenommen?
Schorlemmer: Ja, sehr viel, ich habe die Bedrückung der Bauern, auch die ins Zuchthaus kamen, weil sie das Soll nicht erfüllt haben, oder über Nacht verschwanden einfach, weil sie es nicht mehr ausgehalten haben hier. Das waren gute Freunde von uns, wunderbare Bauern, die vertrieben worden sind, und dann habe ich erlebt, als Neunjähriger, wie Zuchthäusler aus Lichterfelde im Lager abgehauen waren und nach Westen wollten und da überall Sowjetsoldaten mit Kalaschnikows ... und es ist auch auf unserem Gelände geschossen worden. Das ist mir sehr, sehr nahe gegangen – was da passiert ist, weiß ich nicht, jedenfalls war der 17. Juni für mich auch ein politisches Schockerlebnis, das erste meines Lebens.
Wuttke: Wurde die Dimension dieser ersten Proteste gegen die Führung der DDR durch den Begriff des Arbeiteraufstands für mehr Lohn historisch dann unterschätzt?
Schorlemmer: Ja, wurde sehr unterschätzt. Aber dieser Aufstand hatte eben auch wirklich wenig Zeit und damit auch wenig Personen, hatte auch eigentlich kein Programm, und er musste gewissermaßen auch scheitern, weil weder die osteuropäischen Nachbarn bereit waren, ein vereinigtes Deutschland zu akzeptieren, schon gar nicht die Polen, und wir waren in Deutschland noch nicht so weit auch, diese östlich der Oder liegenden Ländereien auch aufzugeben, wir waren noch mitten im Kalten Krieg, und die Amerikaner waren auch nicht bereit, einen Krieg zu riskieren. Wir waren noch in der Jalta-Ordnung.
Wuttke: Sie machen also den Historikern in Bezug auf den 17. Juni '53 keinen Vorwurf?
Schorlemmer: Nein, ich mache den Historikern keinen Vorwurf, nur wurde der 17. Juni im Westen natürlich auch propagandistisch ausgenutzt, und die Westdeutschen hatten einen schönen Feiertag, für die Partei hier war es der Angsttag, und für das Volk war es der Tabutag, darüber durfte nicht geredet werden. Und die SED hatte ja bis 1989, zumal in der Person von Mielke, immer noch ein Trauma, der 17. Juni könnte sich wiederholen, nur konnten sie glücklicherweise nicht zuschlagen, weil die Russen gesagt hatten, wir machen das nicht mehr für euch.
Wuttke: Der Herbst 1989, Herr Schorlemmer, bindet bis heute ganz starke Gefühle überall im Land. Werden die Demonstrationen in Leipzig und in Berlin, die Trabbis an den offenen Grenzübergängen, in 35, 40 Jahren von den Menschen vielleicht genau so weit weg sein wie der 17. Juni 1953 heute?
Schorlemmer: Nein, aus einem ganz einfachen Grunde nicht, weil der große Volksaufstand im Herbst gelang und wir die Einheit erlangten, und zwar in Demokratie und Freiheit und in Frieden mit unserem Nachbarn. Das ist ein großes Ereignis, und darüber gibt es ganz, ganz viele Bilder, und das braucht die Welt heute. Wir haben ja von dem 17. Juni nur ein paar Bilder von den russischen Panzern in Berlin und den Steine werfenden Demonstranten, mehr haben wir nicht.
Wuttke: Die Historie müsste in vielen Fällen nach Ihrer Theorie umgeschrieben werden, wenn Ereignisse ohne Bilder anders wahrgenommen werden können.
Schorlemmer: Ja, so ist es, dennoch müssen wir das gewissermaßen doch auch weitererzählen, was da passiert ist, nämlich Deutsche können Aufstand. Ich bedaure nur, dass Deutsche nicht im Frühjahr 1933 den Aufstand gemacht haben - was wäre der Welt erspart geblieben!
Wuttke: Grundschulkinder können jetzt in verteilten Rollen den 17. Juni 1953 nachspielen. Ziel des Projekts ist es, den Wert von Demokratie zu begreifen. Wie wichtig, Herr Schorlemmer, ist es, den Wert des zivilen Aufstandes zu lernen?
Schorlemmer: Ja, den der Zivilcourage und des Muts, auch gegen Mehrheiten aufzutreten, sich immer seines eigenen Verstandes zu bedienen, weder Parolen zu folgen, die Parteien ausgeben, noch sich mit Schlagwörtern zu begnügen, sondern differenziert da ranzugehen. Ich würde nur mit den Kindern lieber den Herbst 1989 spielen, weil man da sehr viel mehr inhaltlich hereinbekommt und auch den Personen, die da gehandelt haben, noch näher sein kann.
Wuttke: Das eine und das andere baut aufeinander auf, 1989 wäre womöglich ohne 1953 so doch nicht möglich gewesen, oder hing es tatsächlich ganz stark von der Rolle der Sowjetunion ab?
Schorlemmer: Das hing ganz stark von der Rolle der Sowjetunion ab, aber auch aus den Einsichten der Demonstranten. Die wussten, wir müssen sozusagen gewaltlos vorgehen, nur Gewaltlosigkeit wird uns helfen. Und dass das so besonnen und mit so viel Mut und so viel Besonnenheit zugleich gelang, ohne Absprache, ob nun in Dresden oder in Leipzig oder in Berlin oder in Güstrow oder in Wittenberg, das gehört auch zu den Wundern der deutschen Geschichte – auch, dass die Kommunisten ihr Machtmonopol dann schließlich abgaben und dann friedlich den Machtlöffel abgaben. Das verdanken wir aber auch, diese friedliche Revolution, verdanken wir auch der Vorarbeit unserer polnischen Nachbarn.
Wuttke: Sagt Friedrich Schorlemmer im Deutschlandradio Kultur an diesem 17. Juni 2013, ich danke Ihnen sehr!
Schorlemmer: Bitte!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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Joachim Gauck: "... dass das Wissen über den 17. Juni in der DDR zum Allgemeingut aller Deutschen wird und dieser Tag damit jene Anerkennung erfährt, die ihm als Volksaufstand gebührt."
Wuttke: Und was wünscht sich Friedrich Schorlemmer, der ehemalige Pfarrer und Bürgerrechtler? Ich habe ihn gefragt, ob es 60 Jahre nach dem 17. Juni 1953 damit getan ist, im Bundestag zu erinnern und in Berlin einen Platz des Volksaufstandes 1953 zu benennen.
Friedrich Schorlemmer: Es ist damit nicht getan. Wir müssten viel mehr ins Bewusstsein bringen, dass es nicht nur ein Aufstand war, der an der Stalinallee stattfand, sondern in ganz vielen Orten, großen und kleinen, selbst in Dörfern, und dass es ein Kampf war, zunächst für ein besseres Leben und jedenfalls gegen eine solche Normerhöhung, dann aber auch gleich für freie Wahlen und die deutsche Einheit. Und dass Deutsche Freiheitskampf und Abschüttelung von Diktatur können, das haben wir dann eben im Herbst 1989 gezeigt.
Wuttke: In der Altmark wird es keine Panzer gegeben haben. Herr Schorlemmer, Sie waren im Juni 1935 neun Jahre alt, haben Sie damals was mitbekommen, haben Sie etwas mitgenommen?
Schorlemmer: Ja, sehr viel, ich habe die Bedrückung der Bauern, auch die ins Zuchthaus kamen, weil sie das Soll nicht erfüllt haben, oder über Nacht verschwanden einfach, weil sie es nicht mehr ausgehalten haben hier. Das waren gute Freunde von uns, wunderbare Bauern, die vertrieben worden sind, und dann habe ich erlebt, als Neunjähriger, wie Zuchthäusler aus Lichterfelde im Lager abgehauen waren und nach Westen wollten und da überall Sowjetsoldaten mit Kalaschnikows ... und es ist auch auf unserem Gelände geschossen worden. Das ist mir sehr, sehr nahe gegangen – was da passiert ist, weiß ich nicht, jedenfalls war der 17. Juni für mich auch ein politisches Schockerlebnis, das erste meines Lebens.
Wuttke: Wurde die Dimension dieser ersten Proteste gegen die Führung der DDR durch den Begriff des Arbeiteraufstands für mehr Lohn historisch dann unterschätzt?
Schorlemmer: Ja, wurde sehr unterschätzt. Aber dieser Aufstand hatte eben auch wirklich wenig Zeit und damit auch wenig Personen, hatte auch eigentlich kein Programm, und er musste gewissermaßen auch scheitern, weil weder die osteuropäischen Nachbarn bereit waren, ein vereinigtes Deutschland zu akzeptieren, schon gar nicht die Polen, und wir waren in Deutschland noch nicht so weit auch, diese östlich der Oder liegenden Ländereien auch aufzugeben, wir waren noch mitten im Kalten Krieg, und die Amerikaner waren auch nicht bereit, einen Krieg zu riskieren. Wir waren noch in der Jalta-Ordnung.
Wuttke: Sie machen also den Historikern in Bezug auf den 17. Juni '53 keinen Vorwurf?
Schorlemmer: Nein, ich mache den Historikern keinen Vorwurf, nur wurde der 17. Juni im Westen natürlich auch propagandistisch ausgenutzt, und die Westdeutschen hatten einen schönen Feiertag, für die Partei hier war es der Angsttag, und für das Volk war es der Tabutag, darüber durfte nicht geredet werden. Und die SED hatte ja bis 1989, zumal in der Person von Mielke, immer noch ein Trauma, der 17. Juni könnte sich wiederholen, nur konnten sie glücklicherweise nicht zuschlagen, weil die Russen gesagt hatten, wir machen das nicht mehr für euch.
Wuttke: Der Herbst 1989, Herr Schorlemmer, bindet bis heute ganz starke Gefühle überall im Land. Werden die Demonstrationen in Leipzig und in Berlin, die Trabbis an den offenen Grenzübergängen, in 35, 40 Jahren von den Menschen vielleicht genau so weit weg sein wie der 17. Juni 1953 heute?
Schorlemmer: Nein, aus einem ganz einfachen Grunde nicht, weil der große Volksaufstand im Herbst gelang und wir die Einheit erlangten, und zwar in Demokratie und Freiheit und in Frieden mit unserem Nachbarn. Das ist ein großes Ereignis, und darüber gibt es ganz, ganz viele Bilder, und das braucht die Welt heute. Wir haben ja von dem 17. Juni nur ein paar Bilder von den russischen Panzern in Berlin und den Steine werfenden Demonstranten, mehr haben wir nicht.
Wuttke: Die Historie müsste in vielen Fällen nach Ihrer Theorie umgeschrieben werden, wenn Ereignisse ohne Bilder anders wahrgenommen werden können.
Schorlemmer: Ja, so ist es, dennoch müssen wir das gewissermaßen doch auch weitererzählen, was da passiert ist, nämlich Deutsche können Aufstand. Ich bedaure nur, dass Deutsche nicht im Frühjahr 1933 den Aufstand gemacht haben - was wäre der Welt erspart geblieben!
Wuttke: Grundschulkinder können jetzt in verteilten Rollen den 17. Juni 1953 nachspielen. Ziel des Projekts ist es, den Wert von Demokratie zu begreifen. Wie wichtig, Herr Schorlemmer, ist es, den Wert des zivilen Aufstandes zu lernen?
Schorlemmer: Ja, den der Zivilcourage und des Muts, auch gegen Mehrheiten aufzutreten, sich immer seines eigenen Verstandes zu bedienen, weder Parolen zu folgen, die Parteien ausgeben, noch sich mit Schlagwörtern zu begnügen, sondern differenziert da ranzugehen. Ich würde nur mit den Kindern lieber den Herbst 1989 spielen, weil man da sehr viel mehr inhaltlich hereinbekommt und auch den Personen, die da gehandelt haben, noch näher sein kann.
Wuttke: Das eine und das andere baut aufeinander auf, 1989 wäre womöglich ohne 1953 so doch nicht möglich gewesen, oder hing es tatsächlich ganz stark von der Rolle der Sowjetunion ab?
Schorlemmer: Das hing ganz stark von der Rolle der Sowjetunion ab, aber auch aus den Einsichten der Demonstranten. Die wussten, wir müssen sozusagen gewaltlos vorgehen, nur Gewaltlosigkeit wird uns helfen. Und dass das so besonnen und mit so viel Mut und so viel Besonnenheit zugleich gelang, ohne Absprache, ob nun in Dresden oder in Leipzig oder in Berlin oder in Güstrow oder in Wittenberg, das gehört auch zu den Wundern der deutschen Geschichte – auch, dass die Kommunisten ihr Machtmonopol dann schließlich abgaben und dann friedlich den Machtlöffel abgaben. Das verdanken wir aber auch, diese friedliche Revolution, verdanken wir auch der Vorarbeit unserer polnischen Nachbarn.
Wuttke: Sagt Friedrich Schorlemmer im Deutschlandradio Kultur an diesem 17. Juni 2013, ich danke Ihnen sehr!
Schorlemmer: Bitte!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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