Ein Proseminar über Krisenrhetorik

Von Jens Bisky |
Zehn Essays, ein wenig Kunst und eine Erzählung - das ist das neue Kursbuch, das 170. seit 1965, das erste, seit die legendäre Intellektuellenzeitschrift im Jahr 2008 eingestellt wurde. Noch bevor man recht bemerken konnte, dass da etwas fehlte, hat der Murmann Verlag das Kursbuch wiederbelebt.
Der Soziologe Armin Nassehi und der Politikwissenschaftler Peter Felixberger kümmern sich ums Redaktionelle. "Krisen lieben" heißt das aktuelle Heft. Es ist weder unterhaltsam noch anregend, vielmehr so langweilig, so vorhersehbar wie ein Sonntagnachmittag in der Fußgängerzone einer Kleinstadt. Woran liegt es?

"Das neue Kursbuch wird sich womöglich mit denselben Themen beschäftigen, die sich auch das alte Kursbuch vorgenommen hatte. Die entscheidende Herausforderung des 21. Jahrhunderts ist aber nicht mehr, gegen die Hegemonie eines herrschenden Paradigmas eine andere Perspektive zu setzen, in der Hoffnung, die Hegemonie zu brechen.

Was wir heute erleben, ist gerade das Scheitern hegemonialer, einheitlicher Perspektiven und Problembeschreibungen. So lautet der Ausgangspunkt des neuen Kursbuchs: Wenn es ein Signum der gegenwärtigen modernen Gesellschaft gibt, dann ist es dies: Die Gesellschaft lässt sich nicht mehr aus einer Zentralperspektive her denken - und damit auch nicht aus einer Gegenperspektive, was das Geschäft der Kritik, der Reflexion, der Analyse schwieriger macht."

So heißt es im Editorial - und damit ist der Tonfall für das Heft vorgegeben. Es wird nichts Falsches behauptet, aber der Gestus des Bescheidwissens verstört. In der immer wiederkehrenden Bezugnahme auf das frühere Kursbuch, dessen Geschichte von Henning Marmulla ausführlich rekapituliert wird, verschwindet die Neugier, bevor überhaupt etwas gesagt ist.

Nicht von der Gegenwart wird hier gehandelt, nicht von Geschichte und Empirie, sondern von einem Stil des Denkens, der den Herausgebern zufolge an der Zeit sei. Ein "Forum der Perspektivendifferenz" soll das neue Kursbuch sein, ein "Ort kompetenter Gelassenheit", "postelitär" und "postheroisch", aber man erfährt auf den gut 200 Seiten viel zu wenig, fühlt sich rasch eingesperrt, als müsse man ein Proseminar über Krisenrhetorik absolvieren.

Ein Höhepunkt der Belanglosigkeit wird erreicht, wenn die Germanistin Katja Mellmann über das Krisenmotiv in der Literatur doziert und dabei nicht einmal die Frage streift, welche Formen, welche verschiedenen Dramaturgien zur Verfügung stehen, Krisen darzustellen. Stattdessen resümiert sie in leerer Allgemeinheit ein paar literaturhistorische Gemeinplätze. Der Leser fühlt sich hier wie auch in dem wirren Beitrag der Soziologin Jasmin Siri über die "Parteien und das Politische" belehrt, nicht mitgenommen auf eine intellektuelle Entdeckungsreise.

Schon der oder die hat gesagt ..., dabei wird gern übersehen ..., alle sind im Irrtum gefangen ... Neben derlei pseudoobjektiven Floskeln stehen dann auftrumpfende Bekenntnisse wie das des Wirtschaftsphilosophen Gunter Dueck:

"Die Krise sind wir. Und wir lieben uns doch zu sehr im Rückblick. Ich nicht! Ich mache nicht mit! Die Krise seid ihr!"

Die Themen sind im Grunde zu groß, um auf wenigen Seiten angemessen behandelt zu werden. Selbst ein Kenner wie der Wirtschaftshistoriker Werner Plumpe wird, Jahrzehnte unterschiedlichster Entwicklung zusammenfassend, allzu summarisch, in seiner kleinen "Geschichte der Gleichgewichtsstörungen in der Wirtschaft". Er hat gewiss recht, wenn er auf den hohen Preis hinweist, den wir für Harmoniehoffnungen zahlen müssen. Gern stimmt man ihm zu, dass der derzeit beschrittene Weg kein Ausweg sein kann:

""... die Staaten zu überschulden, um damit funktionsunfähige Strukturen zu stabilisieren und die Markmechanismen auszuhebeln - das kann es nicht sein". "

Damit endet sein Beitrag, obwohl an dieser Stelle das Weiterfragen beginnen müsste: Wie wäre denn ein anderer Weg politisch durchzusetzen und zu überleben? Theoretisch spricht vieles dafür, den "kapitalistischen Krisenzyklus" seine reinigende Wirkung entfalten zu lassen - aber wie ist es dann um die politische Stabilität bestellt? Ist dafür nicht ebenfalls ein hoher Preis zu zahlen.

Leider ergänzen die verschiedenen Perspektiven, die ökonomische, die politische, die kulturelle in diesem Heft einander nicht. Mehr Zweifel, mehr Empirie, Ausflüge aus der akademischen Welt in die vielgestaltige Wirklichkeit täten gut. Wie das neue Unternehmen zum alten Kursbuch steht, mögen in einigen Jahren Kulturhistoriker klären. Weniger Absichtserklärungen und mehr Aufklärung wären jetzt zu wünschen. Dem "Optimieren" wird sich Heft 171 widmen.
Buchcover "Kursbuch 170 – Krisen lieben"
Buchcover "Kursbuch 170 – Krisen lieben"© Murmann Verlag