Ein Protestant im Kloster

Von Thomas Becker |
Protestanten tun sich seit Martin Luther mit dem Klosterleben schwer. Dennoch entstanden im Laufe der Jahre einzelne evangelische Gemeinschaften von Mönchen und Nonnen. Eine davon ist die Jesus-Bruderschaft, die Christoph Joest - alias Franziskus - mit aufgebaut hat.
Wie ein Weckruf hallt der Klang der Glocken vom Turm der Kirche durch das Dorf. Es ist sieben Uhr morgens und noch dunkel. In vielen Fachwerkhäusern brennt bereits Licht. Die Bewohner treten vor die Tür und gehen bei Nebel und Regen zur Klosterkirche, die im Zentrum des 100-Seelen-Dorfes Gnadenthal liegt.

Rund 30 Gnadenthaler Dorfbewohner gehören der Jesus-Bruderschaft an. Hinzu kommen Mitglieder aus den umliegenden Dörfern und Städten. Sofern es ihr Beruf zulässt, kommen sie regelmäßig zu den Gebetszeiten, die dreimal am Tag stattfinden. Morgens, mittags und abends. Auch Bruder Franziskus ist heute wie so oft unter den Gottesdienstbesuchern. Der 63 Jahre alte Mönch verneigt sich tief vor dem Kreuz am Altar und setzt sich auf eine Bank. Seine Augen sind geschlossen, die Beine angewinkelt, der Atem ruhig. Dann beginnt er mit den anderen einen Psalm im Stil der Gregorianik zu singen.

"Deine Rechte, oh Herr, sind wahrhaftig. Sie sind lauter und erfreuen das Herz. Das Wort des Herrn ist süßer denn Honig."

Ganz unterschiedliche Christen haben sich in der Klosterkirche eingefunden. Auf der einen Seite neben dem Altar sitzen die Mönche - oder Brüder, wie sie sich lieber nennen -, auf der anderen Seite die Schwestern. Sie alle leben zölibatär. Außerdem sind verheiratete Christen hier, die ebenfalls der Jesus-Bruderschaft angehören. Sie sitzen auf den Kirchenbänken vor dem Altar. Unter ihnen sind Protestanten, Katholiken und Gläubige aus Freikirchen. Die Vielfalt ist gewollt, sagt Bruder Franziskus nach dem Gottesdienst:

"Die Jesus-Bruderschaft hat Mitglieder aus verschiedenen Kirchen, die bewusst Glieder ihrer Kirchen jeweils bleiben. Der größte Teil von uns kommt aus den verschiedenen evangelischen Landeskirchen. Und als Gemeinschaft insgesamt sind wir angeschlossen an das Diakonische Werk in Hessen und Nassau. Als Zeichen dafür, dass wir wohl zur Kirche gehören wollen, aber natürlich nicht unsere katholischen Mitlieder auf schleichendem Weg evangelisch machen wollen. Deswegen eine etwas lockere Anbindung, aber eben doch eine Anbindung."

Auch verheiratete Christen gehören zur Bruderschaft
Bruder Franziskus legt seine Kutte ab. Er trägt jetzt eine dunkle Hose und dazu ein Hemd. Seine Bewegungen sind ruhig, sein Blick ist konzentriert - wie man es von einem Mönch erwartet. Etwas allerdings unterscheidet ihn von vielen Mitbrüdern in aller Welt: Er ist evangelisch. Aber darf man dann eigentlich auch Mönch sein?

Luther lässt das offen in seiner Schrift über das Klöstergelübde. Er sagt, wenn das freiwillig gelebt wird, ohne Zwang, dann ist es gut. Bernhard von Clairvaux und Antonius waren für ihn die Beispiele. Wo er gesagt hat: Die haben das von sich aus gewählt. Die haben das so gewollt. Da hat sie keiner dazu genötigt. Und dann können die das erleben. Das war die evangelische Freiheit.

Und genau aus dieser Freiheit heraus entschied sich Bruder Franziskus vor beinahe 40 Jahren für das Mönchsleben. Damals trug er noch seinen bürgerlichen Namen Christoph Joest. Er studierte Theologie in Hamburg und lernte dort zwei Mitglieder der Jesus-Bruderschaft kennen, die sich gerade darum bemühten, in Gnadenthal ein geistliches Zentrum aufzubauen. Zu diesem Zeitpunkt war Bruder Franziskus mit einer Frau liiert, wollte sogar heiraten. Im Innern regte sich allerdings auch der Wunsch, Mönch zu werden.

Gregorianischer Gesang: "Jesus Christus, du unser Herr und Licht. Du Sonne, die uns heile macht."

Bruder Franziskus: "Für mich selber wurde das einfach dann konkret, als ich in der Begegnung hier auch mit den Gnadenthalern die Liebe zu Jesus gespürt habe, die hier lebt und die jetzt zum Ausdruck kam. Und die ich auch in mir spürte. Die Liebe Jesu und die Liebe zu Jesus, das war für mich, ja, Lebensinhalt. Schlüsseltext war für mich die Frage Jesu an Simon Petrus: Hast du mich lieb? Also daher meine Behauptung, die aber durch meine persönliche Erfahrung gedeckt ist: Letztlich wird man Bruder oder Schwester aus Liebe. Nicht weil es ein Kirchengesetz gibt oder eine Verordnung oder Zwang oder weil man heiliger oder besser sein möchte. Das hat so an mich appelliert sozusagen, dass ich sage: Gut, dann ist das mein Weg."

Um Jesus nachzufolgen, muss man aber nicht unbedingt Mönch sein:

"Im Epheserbrief wird auch die Liebe zwischen Mann und Frau mit der Liebe zu Christus und der Gemeinde verglichen. Also: Liebe ist unteilbar. Liebe ist immer Liebe. Ob man jetzt verheiratet ist oder für sich lebt. Es ist einfach - wie soll ich das sagen: Wo der Anker ins Herz fällt, da hängt er halt. Und deswegen ist das so meine Wahl, ohne dass ich da mich irgendwie für besser fühle als andere Leute, die das anders gewählt haben. Wir haben ja Verheiratete in der Kommunität, und die leben auch die Liebe zu Jesus."

In Gnadenthal bekommt jeder eine Aufgabe
Jedes Mitglied der Kommunität trägt in Gnadenthal etwas zur Gemeinschaft bei. Bruder Franziskus übernimmt gleich mehrere Aufgaben: Er ist Prior – also Leiter – des Brüderzweigs, dem insgesamt 13 Mönche angehören, die in Gnadenthal und verstreut in aller Welt leben. Zudem bietet er Begleitgespräche für Gäste im Haus der Stille an. Seine Tage sind angefüllt mit Terminen und haben einen eng getakteten Ablauf, erzählt der Mönch bei einem Spaziergang.

"Wir stehen früh auf. Wir haben um sechs Uhr Frühstück, um danach noch die Chance zu haben, ein bisschen persönliche Stille einlegen zu können, bevor es dann mit dem gemeinsamen Tageslauf weitergeht: Gottesdienst, 7.15 Uhr, danach geht’s an die Arbeit, bis 12. Da ist unser Mittagsgebet. Anschließend Mittagsessen. Mittagspause. Und dann wieder Arbeit bis um 18 Uhr, wo das Abendgebet stattfindet."

Viele dieser Gottesdienste bereitet Bruder Franziskus selbst vor. Die Zeit, die ihm am Tag daneben noch bleibt, widmet er der Wissenschaft. Vor 20 Jahren hat er sogar promoviert. Das Thema seiner Arbeit: "Spiritualität und kommunitäres Leben."

"Und seither forsche ich und arbeite wissenschaftlich über das ägyptische Mönchstum. Also ich bleibe bei meinen Leisten in der Gegenwart und forsche doch in der Vergangenheit, gebe koptische Texte heraus, übersetze die, kommentiere die und so weiter. Da vorn steht, was ich sonst noch mache."

Er zeigt auf eine Regalwand voller Bücher in seinem Büro. Lange noch könnte Bruder Franziskus über das Mönchstum reden, wie es sich vor und nach der Reformation entwickelt hat.

"Man sagte: Luther hat das Kloster in die Welt hineingetragen. Das stimmt auch. Und trotzdem gab es immer evangelische Christen, die gesagt haben: Und doch gibt es auch die Möglichkeit von der Bibel her – und damit auch vom Evangelium her – in klösterlicher Weise zu leben. Und wer das freiwillig tun will, kann das doch tun."

Franziskus: "Luther hat das Kloster in die Welt hineingetragen"
Gerhard Tersteegen etwa hat im 18. Jahrhundert eine Pilgerhütte für ledige Brüder gegründet. Johann Hinrich Wichern wollte im 19. Jahrhundert ein Haus für ledige Diakonissen und Diakonen errichten, was am Widerstand des preußischen Landtags scheiterte. Erst im 20. Jahrhundert allerdings hat sich das evangelische Mönchstum – oder das kommunitäre Leben, wie es auch heißt – dauerhaft etabliert.

"Für die Kommunitäten selber war tatsächlich der wichtigste Vorläufer die Wandervogelbewegung am Beginn des 20. Jahrhunderts. Weil das Menschen waren, ob Christen oder nicht, die aufgebrochen waren aus den festgefahren Konventionen, die das Echte gesucht haben. Und das hat aber auch die Christen betroffen. Raus aus den kirchlichen Konventionen. Wo ist das Echte? Das echte Leben? Der echte Christus?"

Heute ist das klösterliche Leben in der evangelischen Kirche längst etabliert – und die Jesus-Bruderschaft ist ein Teil von ihr.

"Wir gehören zur Kirche, gehören in die Kirche und sind doch ein freies Werk. Diese Spannung ist sehr interessant, und die macht’s aber aus."

Am Abend des folgenden Tages besucht Bruder Franziskus erneut einen Gottesdienst. Wieder hat sich die Gemeinde in der alten Klosterkirche versammelt, ein Raum, in dem seit dem Mittelalter gebetet wird. Wieder verneigt sich der Mönch vor dem Kreuz und setzt sich neben den Altar. Er schließt seine braunen Augen, scheint ganz bei sich zu sein. Und bei Jesus, seinem Herrn und Hirten.