Ein quälendes Gefühl

Wann schämen wir uns als Erwachsene und wofür? Diese Frage ist so komplex, dass sie Ausgangspunkt für Bücher war und ist - auch für Wolfgang Hantel-Quittmanns Werk "Schamlos! Was wir verlieren, wenn alles erlaubt ist".
Schäm dich! Wer heute älter als 45 Jahre ist, hat diese Aufforderung als Kind sicherlich gehört, vielleicht sogar häufig, zu Hause und in der Schule. Kinder dazu aufzufordern, sich zu schämen – was oft genug hieß, sie zu beschämen –, war ein wesentlicher Bestandteil der "schwarzen Pädagogik". Scham war allerdings auch für Erwachsene ein verbreitetes Gefühl, besonders für Frauen, besonders in der Sexualität. Sünde und Scham gehörten zusammen und verlangten nach Reue, wenn nicht sogar Buße.

Auch heute kennt jeder das beißende Gefühl der Scham. Wofür man sich schämt, ist aber veränderbar, weil Schamgefühle zum großen Teil kulturell bedingt sind. Kaum zu glauben, dass einst ein bloßes Knie zu Schamesröte führte und dass vor wenigen Jahrzehnten eine uneheliche Geburt Mutter und Kind ins gesellschaftliche Aus katapultierte. Scham war und ist die Antwort auf einen Verstoß gegen gesellschaftliche Regeln und als gut und richtig befundenes soziales Verhalten.

"Ohne Werte und Ideale gibt es keine Scham, aber auch keine menschliche Gesellschaft! Persönliche Entwicklung und Reifung ist nur möglich, wenn der einzelne Mensch versucht, ethische Ideale, Normen und Erwartungen als sinnstiftend für sein Leben anzuerkennen und sich an ihnen zu orientieren."

Scham ist ein starkes, sehr quälendes Gefühl und deshalb ein wirksames Korrektiv. Um sich nicht schämen zu müssen, versuchen wir, Fehler nicht zu wiederholen. Oder wir wehren die Scham ab, wir rechtfertigen unser Tun oder bilden unser Gewissen so um, dass es uns nicht mehr stört.

Kritische Reflexionen über Gewissensbisse – sind sie angemessen oder falsch? – können sinnvoll sein, aber darum geht es Wolfgang Hantel-Quittmann nicht. Er beklagt ganz einfach einen generellen Werteverfall, einen problematischen Wertewandel.

"Die neuen Ideale kreisen alle um das Individuum: Selbstbestimmung, Unabhängigkeit, Autonomie. Cool sein, das heißt keine Gefühle zeigen, seinen eigenen Weg gehen, Grenzen überschreiten, die eigenen Vorteile sehen bis hin zu den rein narzisstischen Werten wie Macht, Berühmtheit, Medienpräsenz. Die Gemeinschaft zählt nicht mehr, es lebe das autonome Individuum."

Antisoziales Handeln, das das Ich über das Du stellt, kein Wir mehr kennt, führt zwangsläufig zu Schamlosigkeit. Um zu zeigen, was das bedeutet, betrachtet Hantel-Quittmann verschiedene Lebensbereiche. Dabei gibt er der Scham mehr oder weniger plausible Namen: Alltagsscham, Kompetenzscham, Scham über Kontrollverlust, Idealitätsscham, soziale Scham, Anpassungsscham, traumatische Scham, Intimitätsscham und Fremdscham.

Spätestens mit dieser fragwürdigen Unterteilung wird das Buch problematisch. Hantel-Quittmann versucht, zu viele unterschiedliche innerpsychische und gesellschaftliche Phänomene in eine nicht tragfähige Gliederung zu zwingen. Auf eben mal 150 Seiten kann er all die Themen nur antippen, die er sich zur Illustration seiner These "Werteverfall gleich Schamlosigkeit" ausgesucht hat, beispielsweise Erziehung, Liebe und Sexualität, Weltwirtschaftskrise, Korruption, Folter und Krieg, Medien und Unterhaltung.

Hantel-Quittmann generalisiert und moralisiert. Im letzten Drittel seines Buches reiht er dann nur noch eine Tirade an die andere – über die bösen Manager, die verbrecherischen Kriegsherren und Folterknechte, die verdummenden Medien, Mobbing in Schulen und an Arbeitsplätzen. Wohin man auch blickt: Überall geschieht Entsetzliches, und keiner schämt sich dessen, weil wir unsere Werte verloren, verraten haben.

Da kann man entweder sagen: So ist es! Oder: Wie banal! Moralische Entrüstung allein hat noch nie genützt. Ein bisschen differenzierter und weitreichender muss ein Buch schon sein.

Und deshalb könnte beim Lesen von Hantel-Quittmanns Buch vor allem das Gefühl der Fremdscham entstehen, über das er schreibt:

"So wie der Stolz auf ein Kind, einen Freund, einen Liebespartner einen narzisstischen Gewinn auch für die eigene Person darstellt, so kann die Scham für dieselbe Person Ausdruck einer narzisstischen Kränkung sein. Wir sonnen uns im Erfolg der anderen, und wir leiden bei ihren Misserfolgen."

Bei genauer Betrachtung stellt sich allerdings keine Fremdscham ein, für die ja eine gewisse Identifikation mit dem Autor Voraussetzung wäre, sondern Ärger. Ärger auch über den sprachlich immer schlampiger werdenden Text. Manchmal allerdings kann man sich mit einem Kichern trösten, so wenn es heißt:

"Die moderne Schamlosigkeit flaniert stolz und selbstverliebt auf dem Laufsteg ihrer eigenen Bedeutsamkeit."

Wenn man sich peinlich berührt fühlt, weil andere sich blamieren, ist Lachen ein probates Mittel der Schamabwehr. Das erlebt schon jeder Teenager. Ob das auch bei der letzten Kostprobe aus Wolfgang Hantel-Quittmanns Buch klappt?

"Scham und Sexualität waren schon immer eng miteinander verknüpft, und die Schamlosigkeit gesellte sich gern erotisch dazu."

Besprochen von Barbara Dobrick

Wolfgang Hantel-Quittmann: Schamlos! Was wir verlieren, wenn alles erlaubt ist
Verlag Herder, 160 Seiten, 14,95 Euro