Ein riesiger Markt für die Pharmaindustrie

Asmus Finzen im Gespräch mit Katrin Heise |
Der Sozialpsychiater Asmus Finzen bemängelt, dass die meisten der von den Krankenkassen offiziell anerkannten psychischen Störungen aufgrund von Verhaltensauffälligkeiten – und nicht etwa durch psychologische Tests – diagnostiziert werden. Damit sei "dem Missbrauch Tür und Tor geöffnet".
Katrin Heise: Seelische Störungen, die im "Diagnostischen und Statistischen Handbuch Psychischer Störungen",also dem "DSM" auftauchen, die machen manchmal eine ungewollte Karriere und sie machen Menschen quasi krank. Demnächst kommt die fünfte Auflage dieser Bibel der Psychiatrie – in Anführungsstrichen – heraus.

Einspieler

Im Mai kommt es nach 20 Jahren, also eine überarbeitete Ausgabe, heraus. Über die Auswirkungen möchte ich nun sprechen mit Asmus Finzen, er ist Professor für Sozialpsychiatrie und Gründungsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie. Herr Finzen, ich grüße Sie ganz herzlich!

Asmus Finzen: Ja, guten Tag!

Heise: Im Bericht hieß es eben, die Diagnosen im Handbuch sind von 1952 bis heute um mehr als das Dreifache gestiegen auf jetzt über 300, fast 400 Krankheitsbilder. Wie kommt das, sind wir modernen Menschen psychisch kränker geworden?

Finzen: Nein, sondern es hat ein allgemeines Bedürfnis nach Differenzierung bestanden. Beispielsweise hat man früher von Phobien, also von Angststörungen geredet und da gab es die eine Diagnose Phobie – mit Spinnenangst, mit Angst vor großen Räumen, Plätzen. Man kann ganz gut so damit leben, aber wenn man es genauer haben will, und die Krankenkassen, die wollen es genauer haben, dann ist das System offenbar zweckmäßig.

Heise: Wir schauen wahrscheinlich in den letzten Jahrzehnten auch einfach genauer hin und trauen uns vor allem, diese psychischen Probleme überhaupt anzusprechen?

Finzen: Das ist richtig. Also, psychische Krankheiten sind öffentlicher geworden, Leute gehen auch leichter zum Psychiater, was ja eine gute Sache ist. Und das erweckt dann manchmal den Anschein, die Krankheiten seien mehr geworden. Das andere ist, dass bestimmte Befindlichkeitsstörungen im Lauf der Entwicklung vom "DSM" hoch gestuft worden sind zu Krankheiten. Darüber kann man streiten, ob das sinnvoll ist oder nicht.

Heise: Darüber würde ich gerne mehr erfahren, denn das scheint ja so ein Grundproblem auch zu sein. Können Sie das mit Beispielen deutlich machen?

Finzen: Die Befindlichkeitsstörung ist im Grunde, ich bin verstimmt, es geht mir nicht gut. Und da kann man sagen, es geht auch wieder weg. Und wenn der Hausarzt jemanden mit einer Befindlichkeitsstörung sieht, wenn er gut ist, sagt er eben, jetzt warten wir mal drei Wochen ab und wahrscheinlich ist es dann wieder vorbei, dann geht es Ihnen wieder besser. Ähnlich ist das bei Schlafstörungen.

Aber man kann eben dem auch eine Diagnose geben, die in den Bereich der Depressionen fällt, und kann dann auch – was leider allzu oft vorkommt – sehr früh mit Antidepressiva anfangen zu behandeln, obwohl man nicht weiß, ob der Patient nicht von allein wieder gesund wird.

Heise: Im Bericht eben haben wir zum Beispiel davon gehört, dass das, was man früher Schusseligkeit oder Altersschusseligkeit nannte, jetzt leichte kognitive Störung heißt. Oder ich habe in einer Vorberichterstattung von der Major Depression gelesen, bei lang anhaltender Trauer, was schon ab 14 Tagen gilt, bei einem Verlust eines Menschen beispielsweise, eines nahen Angehörigen.

Finzen: Ja, also, ich glaube nicht, dass man denken soll, die Diagnosenmacher sind dumm. Man kann sagen, wenn jemand eine leichte kognitive Störung hat, die sich testpsychologisch nachweisen lässt, der ist schusselig. Aber möglicherweise ist das auch der Beginn einer Demenz, einer Alzheimerschen Erkrankung. Und man muss sich hüten, vorschnell zu einer Diagnose zu kommen, aber auf der anderen Seite sollte man auch nicht allzu lange verleugnen, dass da irgendetwas im Busch ist. Und das ist die Kunst des einzelnen Arztes und die Erfahrung des einzelnen Arztes, der einzelnen Ärztin, das abzuwägen.

Heise: Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach sagte dazu, außergewöhnliche Verhaltensweisen werden psychiatrisiert. Ist das auch Ihre Kritik oder würden Sie das auch so sagen?

Finzen: Ja. Also, die meisten psychischen Störungen, auch jetzt nach dem DSM fünf, werden aufgrund der Verhaltensauffälligkeiten von Menschen diagnostiziert. Es gibt fast keine Erkrankung, die aufgrund von neurobiologischen, nachweisbaren Symptomen diagnostiziert wird. Und wenn das so ist, dass es keine Tests gibt, dann ist natürlich dem Ermessensspielraum und auch dem Missbrauch Tür und Tor geöffnet.

Heise: Das "DSM", das Handbuch für psychiatrische Diagnosen wird im Mai in die fünfte Auflage gehen, mit deutlich erweitertem Inhalt. Zu Gast im "Radiofeuilleton" ist der Psychiater Asmus Finzen. Herr Finzen, Sie haben, wenn ich das richtig verstehe, ein Sowohl-als-auch. Sie haben Kritik an diesem "DSM" und an der Ausweitung der Krankheitsbilder, an der Ausweitung der Diagnosen. Wo ist da Ihre Hauptkritik?

Finzen: Also, die Situation ist unübersichtlicher geworden. Die Symptome haben sich nicht vermehrt, sie werden bloß anders zugeordnet und sie werden vor allen Dingen im Sinne von Ankreuzen von Kästchen zugeordnet und nicht aufgrund der klinischen Erfahrung von gut ausgebildeten Psychiatern. Und was uns aufgefallen ist, ist, dass die jungen Ärzte nicht das lernen, was wir als klassische Psychopathologie, also Symptomkunde bezeichnen, wo man lernt, aufgrund von Beobachtung und aufgrund von Zuhören bestimmte Symptome einzuordnen, sondern man hat das Schema vor sich, wo Merkmale vorgegeben sind, und die kreuzt man an oder nicht an. Also, Klassifikation ist keine Diagnose und Diagnose ist keine Krankheiten!

Heise: Sie haben es erwähnt oder auch im Beitrag haben wir es erwähnt, arbeiten weltweit die Therapeuten und Psychiater mit diesem Handbuch, mit dieser Neuauflage, frühere Ausgaben haben auch gezeigt, wie Krankheitsfälle nach Herausgabe des Buches in die Höhe geschnellt sind, Stichwort Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom. Befürchten Sie jetzt Ähnliches?

Finzen: Ich hoffe, dass die Etikettierungsmacher, sage ich mal, dass die was daraus gelernt haben. Da ist lange schon Selbstkritik geübt worden, das ADHD – nach der amerikanischen Abkürzung –, das wird wegen der Merkmale einfach zu häufig diagnostiziert. Natürlich mit der bösen Konsequenz, dass viel zu viele Kinder dann das Ritalin bekommen. Und das ist eins von den zentralen Problemen. Man erklärt eine neue Diagnose für gültig und dann stürzt sich die Pharmaindustrie darauf, ein Präparat für diese Krankheit zu bewerben. Da gibt es zahlreiche Beispiele dafür.

Heise: Das Handbuch steuert ja maßgeblich das internationale Krankheitsklassifikationssystem der Weltgesundheitsorganisation, also weltweit arbeiten dann Menschen danach und die Krankheiten werden halt dann auch, oder die Medikamente werden dann auch entsprechend bezahlt. Das ist im Hinblick auf Transparenz und Kosten sicher auch richtig, aber insgesamt habe ich aus dem, was Sie gesagt haben, gezogen, dass gefühlt die Berufserfahrung des Arztes komplett hintenan gestellt wird.

Finzen: Dieses System der Abrechnung nach diesen Ziffern ist ja auch teuflisch. Man kriegt da eine bestimmte Menge und man hat eine gewisse Tendenz, dann zu gucken, gibt es noch eine benachbarte Diagnose, für die man das Doppelte kriegt? Und das passiert auch. Ein Beispiel, was ich immer wieder bringe, was in der letzten "DSM" eingeführt worden ist, das ist das oppositionelle Trotzverhalten der Kinder. Und diese Diagnose ist eingeführt worden, so sagt man, um den Kinder- und Jugendpsychiatern eine Abrechnungsziffer in die Hand zu geben für Kinder, die nichts haben, die gesund sind. Und dieses oppositionelle Trotzverhalten, das ist so definiert, dass man, wenn man selber mal Kinder großgezogen hat, mit den Ohren wackelt! Also: Wird schnell ärgerlich, streitet sich häufig mit den Eltern, befolgt die Anweisungen der Eltern nur ungern und …

Heise: Das sind 100 Prozent der Kinder, würde ich sagen!

Finzen: Ja.

Heise: Das heißt, dem Missbrauch ist Tür und Tor geöffnet, Ihrer Meinung nach?

Finzen: Ja. Das Schlimme daran ist: Kaum ist diese Diagnose da gewesen, sind mehrere Firmen mit Medikamenten gekommen, um diese Kinder zu behandeln.

Heise: Das Diagnosenhandbuch der Psychiatrie, das "DSM" wird neu aufgelegt. Kritiker warnen, aus Alltagsproblemen könnten zu leicht seelische Störungen gemacht werden, und die entsprechenden Medikamente liegen wahrscheinlich schon bereit. Ich bedanke mich ganz herzlich bei Asmus Finzen für dieses Gespräch, vielen Dank!

Finzen: Ich bedanke mich, dass ich kommen durfte!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.