Ein Schriftsteller, der polarisiert

Helmut Böttiger im Gespräch mit Helmut Hettinger |
Es sei eine "durchaus mutige Entscheidung", den Georg-Büchner-Preis an Reinhard Jirgl zu verleihen, sagt der Kritiker Helmut Böttiger. Jirgl habe viele Gegner, weil er als schwer verständlich gilt und aufgrund seiner Schreibweise mit Arno Schmidt verwechselte werde.
Holger Hettinger: Sie haben es eben in den Nachrichten gehört, der Berliner Schriftsteller Reinhard Jirgl bekommt in diesem Jahr den Georg-Büchner-Preis. Das ist die bedeutendste literarische Auszeichnung in Deutschland. Wer ist der diesjährige Preisträger und was macht sein Werk aus? Das erklärt uns nun unser Kritiker Helmut Böttiger. Schönen guten Tag!

Helmut Böttiger: Guten Tag!

Hettinger: Herr Böttiger, beim Büchner-Preis gibt es ja so etwas wie einen inoffiziellen Fundus mit Kandidaten, die schon lange überfällig sind und schon seit Jahren für diesen Preis im Gespräch sind. Ist Reinhard Jirgl einer von dieser inoffiziellen Liste?

Böttiger: In gewisser Weise ja. Er gehört zur mittleren Generation, die ein bisschen selten berücksichtigt wurde in letzter Zeit, aber er polarisiert. Und deswegen freue ich mich sehr über diese Entscheidung. Es ist eine durchaus mutige Entscheidung. Jirgl hat auch viele Gegner, das liegt daran, dass er als schwer verständlich gilt und fälschlicherweise – das ist eines der großen Missverständnisse mit Jirgl – wird er immer mit Arno Schmidt verwechselt, weil er eine gewisse Schreibweise hat. Er hat zum Beispiel allein fünf verschiedene Schreibweisen für die Konjunktion "und". Also die Texte sind zum Teil grafisch aufgebaut, mit verschiedenen Satzzeichen, die er sehr expressiv einsetzt. Aber wenn man die Texte dann liest oder hört, dann merkt man, dass das wirklich sehr prall, sehr sinnlich ist. Und er hat mit Arno Schmidt eigentlich gar nichts zu tun. Er kommt aus dem DDR-Hintergrund vor allem von Heiner Müller her.

Hettinger: Schwer verständlich, das muss nicht unbedingt ein Nachteil sein im gegenwärtigen Literaturbetrieb, oder?

Böttiger: Also er hat tatsächlich die großen Geschichtsthemen des 20. Jahrhunderts. Er schreibt von der deutschen Geschichte her, und das ist schon sehr außergewöhnlich. Die Romane sind alle sehr dick, und er ist vor allem einer derjenigen, von denen man nach 1989 glaubte, dass es sie häufiger geben müsse. 1989 war Jirgl der einzige Autor aus der DDR, der tatsächlich unveröffentlichte Manuskripte, dickleibige Manuskripte in der Schublade hatte, sechs Stück davon, nichts konnte in der DDR veröffentlicht werden, nur in einer Reihe im Aufbau-Verlag, die "Außer der Reihe" hieß. 1990 erschien dann der "Mutter Vater Roman", sein erstes Buch, das ging dann völlig unter in den Wendewirren. Immer geht es um deutsche Geschichtskonstellationen und um kleinbürgerliche Familienhöllen. Das ist sein Spezifikum. Die deutsche Geschichte spiegelt sich wider in der zerrütteten kleinbürgerlichen Familie. Da hacken die Brüder untereinander auf sich ein, Bruder und Schwester, Vater und Tochter, Vater und Sohn, das sind die Konstellationen, und das ist wie in einer antiken Tragödie. Da fließt Blut, da geht es um Mord und Schicksal, ist aber sehr aufgeladen durch die spezifischen deutschen totalitären Geschichtserfahrungen im 20. Jahrhundert.

Hettinger: Die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung begründet die Vergabe des Büchner-Preises an Reinhard Jirgl so: Jirgl habe in seinem Romanwerk von epischer Fülle und sinnlicher Anschaulichkeit ein eindringliches, oft verstörend suggestives Panorama der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert entfaltet. Das mit der deutschen Geschichte haben Sie erwähnt, Herr Böttiger, was ist so verstörend suggestiv an seinem Werk?

Böttiger: Nun ja, also das ist natürlich so ein bisschen Laudatioprosa, also sinnliche Fülle, sinnliche Anschaulichkeit, das könnte man auch über Thomas Mann sagen, und da ist Jirgl schon ein ganz anderes Kaliber. Verstörend ist die Sprache, verstörend ist, dass er tatsächlich die Geschichte als Moloch darstellt. Und in seinem letzten Roman "Die Stille" gibt es ein sehr schönes Beispiel, wo man dieses Geschichtsbild von Jirgl zeigen kann. Es geht um eine Familiengeschichte über mehrere Generationen hinweg, immer kämpft diese Familie um ihr Haus – das wird von verschiedenen Seiten bedroht, von politischen Umständen. Immer gibt es dann ein Gesuch an die zuständigen Behörden, da sie um ihr Haus kämpfen. Und diese Briefe sind eigentlich immer gleich, unterschiedlich ist nur die Schlussfloskel. Die heißt "Heil Hitler", dann heißt sie "Mit sozialistischen Grüßen", dann heißt sie "Mit freundlichen Grüßen". Also die deutsche Geschichte spiegelt sich in dieser Schlussfloskel wider, aber sonst ist die Konstellation immer gleich. Man ist dem Moloch der Geschichte, den Herrschenden ausgeliefert. Jirgl geht es um die Macht, um Machtkonstellationen, denen der Einzelne im Grunde schutzlos ausgeliefert ist. Und die Einzelnen, die Unteren bekämpfen sich dann untereinander. Das ist ein Geschichtsbild, das sehr stark von Heiner Müller herrührt, es ist eigentlich der einzige Lehrer, den Jirgl jemals hatte. Er ist in den 80er-Jahren mit den Dramatikerkreisen um Heiner Müller in der DDR in Berührung gekommen, und das merkt man in seinen ersten Schriften: Es ist sehr stark theatralisch, dramatisch aufgebaut, mit vielen Dialogen, Monologen, sehr bruchstückhaft, und das Geschichtsbild von Heiner Müller, wo in der antiken Tradition das unverbrüchliche Schicksal auf den Einzelnen hernieder prallt, das führt Jirgl in der spezifischen deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts weiter. Im Nazireich, in der DDR und jetzt auch im wiedervereinigten Deutschland ist die Geschichte ein Moloch, der über den Einzelnen hinweg rast, und das wird durch die Bewusstseinsindustrie, durch die Medien noch zusätzlich befeuert. Man merkt, dass Jirgl in den letzten Romanen sehr stark das Internet, die ganzen Trivialmythen im Fernsehen berücksichtigt und es auch in seine Schreibweise integriert. Also eine Massensuggestion, wo ein autonomer Einzelner fast nicht mehr denkbar zu sein scheint.

Hettinger: Lassen wir mal den Dichter sprechen, Reinhard Jirgl selbst, über Erinnern und Vergessen.

O-Ton Jirgl: Es gibt einen schönen Satz von Walter Benjamin. Da sagt er: Das Gedächtnis ist nicht sozusagen das Instrument zum Erkunden der Vergangenheit, sondern es ist der Schauplatz. Einem Erinnern muss immer logischerweise ein Vergessen vorhergehen und ich möchte sogar soweit gehen, und sagen, dass die Qualität des Vergessens darüber bestimmt, über die Qualität der wiederkehrenden Erinnerung. Das heißt also, ohne das Vehikel der Gegenwart kann keine Erinnerung stattfinden. Es ist immer sozusagen der Prozess, in dem ich jetzt berichte über etwas, was gewesen ist, wird dieses Gewesene in anderer Gestalt erscheinen lassen.

Hettinger: Das illustriert ja auch so ein bisschen dieses Geschichtsbild, das Sie gerade eben entworfen haben. Lassen Sie uns noch mal auf die Biografie von Reinhard Jirgl zurückkommen: Er ist in Ostberlin geboren, in Salzwedel groß geworden, in Sachsen-Anhalt, er hat in den 70er-Jahren Elektronik an der Berliner Humboldt-Universität studiert. Sie haben den Einfluss von Heiner Müller schon genannt. Wie konkret ist er zur Literatur gekommen?

Böttiger: Also er ist ausgestiegen im Grunde aus der DDR-Entwicklung. Er hat Elektrotechnik studiert, hat da auch gearbeitet. Dann hat er sich durchgeschlagen als typische DDR-Außenseiterexistenz, als Beleuchter an der Volksbühne, also so eine typische Existenz, wie man so als quasi asoziales Element überwintert. Er sagt ironisch, er war der 13. Beleuchter an der Volksbühne – allerdings ist er auf Frank Castorf nicht gut zu sprechen, also mit dem Theater hatte er da wenig zu tun. Aber er kam in Berührung mit der Dramatikerszene um Heiner Müller, und das war eigentlich der einzige Kontakt zum Literaturbetrieb, den er hatte. Er ist eigentlich völlig unbekannt gewesen. Und als er dann nach 1989 freigesetzt wurde aus dieser DDR-Situation, hat er zuerst in entlegensten Verlagen kleine Schriften veröffentlicht, die völlig ignoriert wurden, gar nicht auftauchten im Literaturbetrieb. Und erst 1995 wurde er einer breiteren Öffentlichkeit bekannt, als der Hanser-Verlag seinen Roman "Abschied von den Feinden" veröffentlichte. Und das war tatsächlich etwas völlig Unerwartetes. In diesem Roman tritt einem ein fertiger Autor entgegen, der also schon ein gewisses Lebensalter hinter sich hatte, und man wusste von seiner Vorgeschichte nichts. Und dieser Roman, der hat schon diese spezifische Jirgl’sche Sprache, eine sehr expressive, scheinbar pathetische Sprache, die aber auch voller Sprachwitz ist. Und das ist etwas, was ihn auszeichnet, was auch in seinem Zitat, das wir gerade eben gehört haben, zum Ausdruck kommt. Es kommt in seiner Auffassung von Literatur auf die sprachliche Bewältigung an. Es geht nicht um irgendeinen Geschichtsroman, wo man die ganzen Daten der Geschichte wiederfindet und sich wiedererkennt, nein, es geht da drum, wie man aus der Erfahrung der Gegenwart eine Sprache für die Erfahrung findet. Und die literarische Sprache an sich ist etwas anderes als die Sprache der Wiedererkennbarkeit, die journalistische Sprache, die wir hier jeden Tag pflegen. Es ist eine Sprache, die nur in der Literatur denkbar ist, weil die Literatur dafür da ist, etwas auszudrücken, was man nur mit den ureigenen Mitteln der Literatur ausdrücken kann. Und das führt zu diesen spezifischen Metaphern, zu dieser erst mal sehr schwer eingängigen Lektüre. Aber wenn man sich darauf einlässt, merkt man, dass er tatsächlich ungeheuer wortschöpferisch arbeitet und eine große Suggestion, einen großen Sog in der Leseerfahrung hinterlassen kann.

Hettinger: Den Roman "Abschied von den Feinden" haben Sie bereits erwähnt, Herr Böttiger, was muss man sonst noch von Reinhard Jirgl gelesen haben?

Böttiger: Also sein bekanntestes Buch war "Die Unvollendeten" – das beruht allerdings auf einem Missverständnis, weil man hat es als Geschichte der Sudetendeutschen gelesen. Das ist auch eine Familiengeschichte von Sudetendeutschen über mehrere Generationen hinweg, die die Kalamität der deutschen Geschichte sehr suggestiv darstellt. Das letzte Buch "Die Stille" ist sehr provokativ – das ist dieses Buch, das eine deutsche Familiengeschichte über mehrere Generationen zeigt, der Kampf um das Haus, das ich erwähnt habe. Und hier geht es bis in die unmittelbare Gegenwart. Da wird die Situation auf dem DDR-Gebiet jetzt sehr schonungslos dargestellt, auch in Form einer Familiengeschichte. Und "die Stille" ist die Bezeichnung für die Hauptperson, die zum Schluss einen Amoklauf im Grunde inszeniert. Und das ist etwas, was bei Jirgl besonders auffällt, was wir ab und zu in den Schlagzeilen dann lesen und wo uns der Atem stockt: die Amokläufe in Winnenden oder Erfurt. Wenn man die Texte von Jirgl liest, dann bekommt man plötzlich eine Art von Erklärung dafür, was im Subtext der Gesellschaft los ist, was im Bewusstsein verdrängt und verborgen ist, das kommt in diesen Texten tatsächlich an die Oberfläche.

Hettinger: Schönen Dank! Das war unser Kritiker Helmut Böttiger über Reinhard Jirgl. Der 57-jährige Berliner Schriftsteller bekommt in diesem Jahr den Georg-Büchner-Preis, die wichtigste literarische Auszeichnung in Deutschland.