Ein Staat, der vor dem Chaos steht

Rezensiert von Michael Groth |
Korrupte Eliten, ein fast allmächtiges Militär und Geheimdienste, die ein doppeltes Spiel treiben: Pakistan steht am Rand des Zusammenbruchs, warnt Ahmed Rashid - dem Land drohe die Anarchie. Am Ende könnten militante Islamisten nach den Atomwaffen greifen.
Steht Pakistan am Rand des Zusammenbruchs? Folgt man Ahmed Rashid, dann ist es bald soweit. "Pakistan on the Brink – Pakistan am Abgrund": Auf rund 200 Seiten belegt der Autor diese These, leider meist glaubwürdig.

"Sozialleistungen bleiben aus. Der Rechtsstaat versteckt sich. Armut breitet sich aus. Bei Naturkatastrophen wird die Bevölkerung von der Regierung allein gelassen. Niemand kann sich sicher fühlen."

Sichere Anzeichen eines "failed state", eines Staates, der vor dem Chaos steht. Übertrieben? Nicht für den Pakistani Rashid, einen ausgewiesenen Kenner der Region. Der Autor klagt über die mangelhafte Gesundheitsversorgung, eine hohe Analphabetenquote, sowie fehlende Programme zur Geburtenkontrolle. Dies alles unter den Augen einer Elite, die weder den Willen noch die Fähigkeit hat, dem entgegen zu steuern.

"Die Elite lässt jedes Verantwortungsgefühl missen. Sie zahlt ihre Steuern nicht. Und sie ist korrupt. Es gibt zwar Wahlen; eine effektive demokratische Regierung aber nicht. Die Außenpolitik wird vom Militär bestimmt. Das Militär verschlingt 30 Prozent des Haushaltes, und es hält sich verschiedene Geheimdienste, für die öffentlich niemand verantwortlich ist."
Über Jahrzehnte unterstützt Pakistans Militär extremistische Gruppen – solange die ihren Terror in den Nachbarstaaten Afghanistan oder Indien ausleben.

Die Vorstellung, bei einem Bündnis zwischen Kabul und Delhi zwischen die Fronten zu geraten, dominiert das Denken des pakistanischen Militärs. Fortdauernder Krieg in Afghanistan sowie ein durch Terror destabilisiertes Indien, sind laut Ahmed Rashid für den Generalstab und den Geheimdienst ISI Ziele, die man nicht aufgeben wird.

Der Untertitel dieses Buches packt die Zukunft von Afghanistan, Pakistan und den USA zusammen. Dies gilt vor allem für Afghanistan: Ohne ein stabiles Pakistan gibt es dort keine Aussicht auf Frieden. Und Washington und die westlichen Verbündeten brauchen Pakistan nicht zuletzt, um in den kommenden Jahren einen geordneten Abmarsch sicher zu stellen. Der Weg aus Afghanistan führt über Pakistan. Wenn Islamabad die Straßen sperrt, oder die Region nicht mehr kontrollieren kann, ist das Abzugsszenario der Nato hinfällig.

Der Blick auf den "Erzfeind" Indien verstellt Pakistan unterdessen eine lebensnotwendige Einsicht: Die geduldeten oder geförderten Terroristen sehen ihr Ziel längst nicht mehr nur in der Ermordung möglichst vieler Inder oder der Wiederherstellung eines Gottesstaates in Afghanistan.

"Die pakistanischen Generäle begreifen nicht, dass sie die Taliban im eigenen Land nicht bekämpfen können, wenn sie andererseits die afghanischen Taliban unterstützen. Dieser Kurs bringt Pakistan in die Hände der Taliban. Er bedroht die innere Sicherheit und eine friedliche Entwicklung. Es ist tragisch, dass kein Politiker diese Wahrheit ausspricht."

Entlang der mehr als 2000 Kilometer Grenze zu Afghanistan hat der pakistanische Staat die Kontrolle weitgehend verloren. Das Militär verhandelt mit den Extremisten im Grenzgebiet oder es bekämpft sie. Bezwingen kann es sie nicht.
Schuld sind natürlich die Anderen. Vorweg die Vereinigten Staaten.

Ahmed Rashid: "Die Pakistanis bevorzugen es, ihre Fehler dem Ausland anzulasten. Sie denken nicht darüber nach, was sie selbst ändern können. Das ist eine der wichtigsten Thesen dieses Buches: das Verweigern der Frage: was kann ich ändern an den Zuständen? Aber man beschuldigt lieber Indien, Amerika oder Israel."

Das Verhältnis zwischen Washington und Islamabad könnte schlechter nicht sein. Im Mai 2011 tötet ein US-Kommando Osama Bin Laden, den meistgesuchten Mann der Welt. Ort des Geschehens: die Stadt Abbottabad, umgeben von pakistanischem Militär. Bin Laden lebt seit Jahren dort, unauffällig, aber einflussreich.

Kaum denkbar, dass der ISI davon nichts weiß. Logisch also, dass Präsident Obama die pakistanische Regierung erst nach Vollzug informiert. Die Verletzung der Hoheitsrechte und die anschließenden gegenseitigen Vorwürfe vertiefen eine Entwicklung, die unter Obamas Vorgänger Bush begann:Angesichts ausbleibender Hilfe der pakistanischen Militärs führen die Amerikaner ihren eigenen Krieg – vor allem mit der Bombardierung und dem Beschuss von Orten, in die sich afghanische Taliban und andere Terroristen zurückziehen.

Amerika und Pakistan brauchen einander, aber sie können nicht miteinander. Gegenseitige Vorwürfe und Beleidigungen münden in politische und militärische Entscheidungen, die die Krise vertiefen. Der Autor erkennt kaum Aussicht auf Besserung:

"Wenn sich das Militär und die politischen Parteien nicht reformieren, droht Anarchie. Die ethnisch bedingte Gewalt wird zunehmen. Naturkatastrophen werden nicht bewältigt, die Wirtschaft bricht zusammen. All dies spielt den militanten Islamisten in die Hände. Wenn sie den Sicherheitsapparat beherrschen, wird es ernst. Pakistan ist eine Atommacht. Nicht auszudenken, wenn dieses Potential in die Macht von Extremisten gerät."
Pakistan ist ein gefährlicher Ort. Auch für Journalisten. 2011 wurden sieben Journalisten dort ermordet. Dutzende werden verhaftet, gefoltert, entführt. Für Rashid, der in Lahore lebt, ein Zeichen der um sich greifenden Anarchie:

"Wir hatten eine Art Selbstzensur. So haben wir überlebt. Aber nun weiß niemand mehr, wie weit er gehen kann. Niemand kennt die rote Linie der Regierung. Viele Journalisten haben das Land verlassen, oder sie verstecken sich. Ja, dieses Land ist ein sehr gefährlicher Ort."

Man muss dem Mann alles Gute wünschen: auf dass er seine Leser weiter mit Büchern wie diesem aufklärt.

Ahmed Rashid: Pakistan on the Brink
The Future of America, Pakistan and Afghanistan
Viking (Penguin Group), New York, 2012
Ahmed Rashid: "Pakistan on the Brink"
Ahmed Rashid: "Pakistan on the Brink"© Viking
Mehr zum Thema