Ein streitbarer Moralökonom

Von Jochen Stöckmann · 04.07.2007
Für seinen "Human Development Index" erhielt der indische Ökonom Amartya Sen 1998 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften. Nun wurde ihm die Ehrendoktorwürde der Universität Osnabrück verliehen, weil er es "in hervorragender Weise verstanden hat, theoretisch begründete Konzepte für Fragestellungen wie die Verringerung von Armut und ökonomischer Ungleichheit nutzbar zu machen".
Als "Moralökonom" hat man den Wirtschaftswissenschaftler Amartya Sen bezeichnet. Und im Unterschied zum Moralapostel fragt der Nobelpreisträger ganz nüchtern, ohne missionarischen Eifer nach dem Zusammenhang von Ethik und Ökonomie, preist "Freiheit" nicht nur als moralischen Imperativ – sondern auch als Produktivfaktor. Länder mit Presse- und Meinungsfreiheit, so konstatierte der Professor aus Indien bereits in den siebziger Jahren, freiheitlich verfasste Staaten haben kaum unter Hunger zu leiden, weil solche Katastrophen weniger durch die Knappheit an Lebensmitteln ausgelöst werden als durch Regierungen, die sich keinen Deut um eine gerechte Verteilung der durchaus vorhandenen Ressourcen scheren. Dass Demokratie also wirtschaftliche Vorteile hat, die manch autoritärem Regime abgehen, illustriert der weitgereiste Entwicklungsexperte an einem aktuellen Fall:

Amartya Sen: "China zum Beispiel zahlt einen hohen Preis: Das Gesundheitssystem etwa lässt sich nur durch öffentliche Kritik verbessern, dafür ist Demokratie notwendig!"

Anhand des "Wirtschaftswunders" in seiner Heimat Indien hat der Harvard-Professor kürzlich noch einmal seinen "Human Development Index" veranschaulicht. Ein komplexes Analyseverfahren, das mittlerweile von den Vereinten Nationen verwendet wird, wie der Osnabrücker

Wirtschaftswissenschaftler Wulf Gaertner in seiner Laudatio hervorhebt. Sen entlarvt damit die Zahlenmystik vieler Statistiken. Er stellt nicht einfach nur die bloße Anzahl von Familien unterhalb der Armutsgrenze fest, sondern untersucht en detail die gesamte Struktur, nach der der Reichtum einer Nation verteilt ist.

Amartya Sen: "”Wir erweitern den Fokus auf alles, was wirklich wichtig ist für die Menschen, für ein Leben, das sie führen möchten - und die Freiheit, es tatsächlich zu führen. Wichtiger als rein mechanische Größen wie das Einkommen.""

Kassenschlager des Bollywood-Kinos, eine aufblühende Tourismus-Branche und enorme Gewinnsteigerungen indischer Stahlkonzerne sind die glänzende Schauseite einer Medaille, die jedoch entscheidend geprägt wird dem, was die Ökonomen der Sen-Schule "Humanvermögen" nennen oder "human capabilities". Damit werden nicht nur die "marktgängigen" Fähigkeiten berücksichtigt, sondern zum Beispiel auch Motive und Fähigkeiten, die für ein Engagement im öffentlichen und politischen Leben entscheidend sind.

In Osnabrück beharrt der frischgebackene Ehrendoktor einmal mehr darauf, dass die Garantie von Menschenrechten wirtschaftliche Not mindert, indem etwa Frauen soziale Mobilität ermöglicht wird. Der globale Markt, so behauptet Sen, könnte ein Medium des gerechten Tausches werden – wenn jene selbstzerstörerischen Kräfte gebändigt werden, die seine neoliberalen Kollegen geflissentlich leugnen. Sie kennen in ihren Rechenmodellen nur den homo oeconomicus, der ausschließlich an Eigennutz und Profit interessiert ist. Für Amartya Sen, den studierten Philosophen, ist dagegen jeder Mensch ein komplexes Wesen:

Dieselbe Person kann Brite malayischer Herkunft mit chinesischen Vorfahren sein – ohne Widerspruch! Dazu Christ, Liberaler und an Außerirdische glauben, die unbedingt Shakespeare lesen sollten.

Und so wehrt sich Sen, der als Kind die blutigen Auseinandersetzungen zwischen Muslims und Hindus erleben mußte, gegen "Identitätsfallen", so der Titel seines jüngsten Buches. Durch die Reduzierung auf ausschließliche Identitätskriterien wie die Religionszugehörigkeit, durch die bewußt herbeigeführte Konfrontation von Schiiten und Sunniten sieht er zum Beispiel im Irak den Aufbau einer Demokratie gefährdet:

Amartya Sen: "”Gewalt wird gefördert durch aggressive Abgrenzung und ausschließliche Identitätszuschreibungen. Damit heizen die Kriegstreiber Konflikte an, sie setzen ganz bewußt auf sektiererische Spaltungen.""

Diese Spaltungen, so kritisiert Amartya Sen mit ungewohnter Schärfe, werden durch die vorurteilsgeladenen Stereotypen eines Samuel Huntington und seiner holzschnittartigen These vom "clash of civilizations" nur befördert:

Amartya Sen: "”Grundlegend für diese Denkrichtung ist die Annahme, dass jeder Mensch nach einem einzigen Merkmal kategorisiert werden kann. Und Sam Huntington teilt "Zivilisation" nach Religionen auf, in die Muslim-Welt, die hinduistische-, buddhistische und jüdisch-christliche Welt. Das ist eine exzellente Art für Missverständnisse gegenüber jedermann auf dieser Welt.""

Etwa für die Überheblichkeit, mit der Huntington und seine Adepten annehmen, dass Toleranz und auch Demokratie typisch "westliche” Werte seien, entstanden und ausgeprägt in der Tradition des Abendlandes. Der Wissenschaftler Amartya Sen bewertet so etwas als "schludrige Abstraktion". Der Weltenbürger sieht darin "foggy history", eine ideologisch umnebelte Geschichtsauffassung – der er seinen Blick zurück ins 12. Jahrhundert entgegenstellt.

Amartya Sen: "”Im Nahen Osten ist eine Zivilgesellschaft vonnöten, die nicht nach Religionen aufgesplittert ist. Aber auch die Erinnerung an eine eigene Geschichte, in der ein Philosoph wie Maimonides an den Hof Saladins flüchtete, weil Europa so intolerant geworden war.""