"Ein Stück aus der Mediengesellschaft"
Als "Theater der großen Gefühle" lobt der Journalist Herbert A. Gornik die Neuauflage der Passionsspiele von Oberammergau, die alte Fragestellungen im neuen Gewand behandele. Er war bereits im Jahr 2000 bei dem nur alle zehn Jahre stattfindenden Ereignis dabei.
Matthias Hanselmann: Bei uns ist der ehemalige Leiter unserer Redaktion "Religion und Gesellschaft", Herbert A. Gornik. Guten Tag beziehungsweise grüß Gott!
Herbert A. Gornik: Ich grüße Sie!
Hanselmann: Sie waren vor zehn Jahren in Oberammergau und haben sich auch dieses Jahr die Passionsspiele angeschaut, im Mai, also zu Beginn. Oberbürgermeister Arno Nunn ist, wie wir gehört haben, sehr zufrieden mit der Besucherauslastung bisher, trotz der Einbrüche aus den USA. Sie haben ja den Vergleich zum Jahr 2000: Was sind Ihre Eindrücke dieses Jahr?
Gornik: Also gerade eben hat er gesagt, vom Leiden alleine kann man ja nicht leben, vom Leiden Christi alleine. Genau das müssen viele gedacht haben, als sie das Stück dann umgeändert haben, umgeändert in dem Sinne, dass nicht mehr das Leiden und Sterben unseres Heilandes, des Herrn Jesus Christus, so hieß es früher, gezeigt wird, sondern der Akzent wird auf die Botschaft gelegt, also das Leben des Jesus von Nazareth: Warum er dann zum Beispiel die Händler aus dem Tempel austreibt, das kommt in den Vordergrund. Und dieses Leben, sozusagen wie ein Film auf die Bühne gesetzt, fasziniert offenbar sehr viele Leute. Das Zweite ist, Sie haben es auch gesagt: Was sich rar macht, wird attraktiv. Das kann man nur alle zehn Jahre sehen, und da muss man immer jetzt schon überlegen, wenn ich es jetzt verpasst habe, nun bleiben mir ja noch, wenn ich jung bin, ... aber wenn ich dann 50 bin, muss ich schon dran denken, wenn ich es beim 60. auch verpasse, ob ich mit 70 da noch hinkomme, ist noch eine andere Frage. Das Dritte, glaube ich, was viele fasziniert: Es ist ein Theater der großen Gefühle. Wo haben Sie sonst die Möglichkeit, das Leiden und Sterben, aber auch die Lebensgeschichte, sagen wir besser, die Botschaftsgeschichte dieses Jesus von Nazareth auf der Bühne zu erleben mit tatsächlich großen Gefühlen? Das ist nur vergleichbar mit großer Oper, und Sie haben es nur vergleichbar mit großen Filmen – Sie kennen dieses Wort Film Stills, also Standbilder, die alles ausdrücken müssen, dieses eine Standbild etwa, was einen ganzen Film ausmacht, und das ist in Oberammergau auch zu sehen. Und schließlich: Es ist unsere Kulturgeschichte, die da gezeigt wird, und wo haben wir diese abendländische Kulturgeschichte, die auf dem Neuen und Alten Testament fußt, einmal so auf der Bühne? Das gibt es nirgendwo.
Hanselmann: Sie haben gesagt, die Botschaft ist wieder erkennbarer. Wie war das denn früher, oder anders gefragt: Wie haben sich die Passionsspiele denn geändert oder gewandelt?
Gornik: Also der ganz klare Antijudaismus, der in diesen Passionsspielen ja deutlich war – das Ganze ist ja entstanden zur Zeit des Dreißigjährigen Kriegs –, der ist ganz in den Hintergrund getreten. Hier wird der Jude Jesus von Nazareth gezeigt, das ist ein jüdischer Reformrabbi, und deswegen spielen auch die Diskussionen unter den Schriftgelehrten und den Pharisäern eine so große Rolle. Das sind Leute wie er, die sind sich keineswegs einig, da gibt es Spaltungen. Also: kein Antijudaismus mehr, den wir so lange kritisiert haben. Das andere habe ich genannt, ich will es noch etwas deutlicher machen: Sagte ein kleiner Junge, er sei so fasziniert von den Kreuzigungsdarstellungen. Diese Kreuzesdarstellungen sind natürlich sehr dramatisch, außerordentlich dramatisch, übrigens eine physische Höchstleistung für die Schauspieler, die anderthalb Stunden unter Umständen auch im Regen stehen müssen. Dies wird eingebettet in Rahmenhandlungen. Immer wieder erklärt dieser Jesus von Nazareth plötzlich seine Botschaft. Das ist nicht mehr selbstverständlich wie zu anderen Jahrhunderten und anderen Jahrzehnten, da werden auch Fragen gestellt wie: Wozu das alles? Und sollten wir das Geld nicht lieber, was die Frauen uns da spenden, für andere Dinge, für unseren Lebensunterhalt benutzen als für zum Beispiel Luxusgüter? Alte Fragestellung, aber jetzt im neuen Gewand. Oder: Was mir besonders aufgefallen ist, ist die dramaturgische Veränderung, die Christian Stückl vorgenommen hat. Die Kreuzigungsszenen sind in die Abendstunden verlegt, das aus dramaturgischen Gründen: Gegen die untergehende Sonne zeigt sich eine Kreuzigung einfach besser und noch eindrücklicher. Aber es sieht so aus, als sei es ein Stück von uns, ein Stück aus der Mediengesellschaft: Wenn die Schickeria zum Beispiel um den König Herodes auf den Dächern steht und sich das ganz amüsiert, ein bisschen unbeteiligt, ein bisschen leidenschaftslos ansieht, dann kommt so ein Voyeurseffekt auf, ein kritischer. Auch wir sitzen im Publikum, auch wir sind ja heute immer ... schwanken wir ja zwischen Betroffenheit, Thrill und Mitgefühl. Uns wird ja auch alles, das entsetzlichste Erdbeben, auch ein wenig zu Unterhaltungszwecken aufbereitet. Und genau das wird uns hier gespiegelt und damit, glaube ich, zeigen diese Passionsspiele viel deutlicher als etwa noch vor 50 Jahren aber auch noch vor 10 Jahren eine, ja, dreifache Passion: Sie vermitteln das Leiden, sie vermitteln die Leidenschaft dieser Botschaft und eigentlich erzeugen sie auch dieses Mitgefühl und Mitleiden bei den Zuschauern selbst.
Hanselmann: Was ist Ihr Eindruck, wird das allgemein akzeptiert, dieser Wandel der Darstellung, oder gibt es kritische Stimmen, die sagen, das ist uns zu modern, das ist uns zu wenig traditionell?
Gornik: Nein, es gibt im Augenblick in der veröffentlichten Meinung keine wirklich kritischen Stimmen. Das liegt auch ein bisschen an Christian Stückl und seinen theologischen Beratern, die haben sehr viel Überzeugungsarbeit geleistet. Es gab in der Geschichte der Passionsspiele mal den Versuch, die Passionsspiele zu reformieren oder zu ändern, und zwar im Sinne der Salzburger Festspiele, die da vielleicht Pate gestanden haben, diese allegorische Darstellung des Jedermann. Da wollte man in diese Kreuzigungs- und Botschaftsgeschichte des Jesus von Nazareth allegorische Bilder einbringen, also den Neid, die Fresssucht, den Geiz, Habgier, wie ein mittelalterliches Mysterienspiel. Das war eine sehr ambitionierte und meines Erachtens sehr weit gehende Reformbewegung, die da versucht wurde. Das ist gescheitert, also das hat auch die eigenen Leute nachher nicht überzeugt. Und das Publikum – immerhin, auch wenn viele Karten zurückgegeben wurden zunächst, das waren mehr Arrangements, also weniger die einzelnen Karten – zeigt ja, das ist ja eine Abstimmung mit den Füßen: Die Passionsspiele sind so gut wie ausverkauft. Man findet immer wieder Karten, weil eben doch kurzfristig was zurückgegeben wird – also hin!
Hanselmann: Fazit also: keine große Kommerzshow, sondern ganz großes Theater.
Gornik: Verdammt gutes, wenn man das mal in diesem Zusammenhang sagen darf, verdammt gutes Laientheater, aber keineswegs laienhaftes, das sind Liebhaber da am Werk, die mit hohen Profis zusammenarbeiten wie Christian Stückl. Nein, das ist großes, im besten Sinne Volkstheater.
Hanselmann: Vielen Dank, Herbert A. Gornik. Danke!
Herbert A. Gornik: Ich grüße Sie!
Hanselmann: Sie waren vor zehn Jahren in Oberammergau und haben sich auch dieses Jahr die Passionsspiele angeschaut, im Mai, also zu Beginn. Oberbürgermeister Arno Nunn ist, wie wir gehört haben, sehr zufrieden mit der Besucherauslastung bisher, trotz der Einbrüche aus den USA. Sie haben ja den Vergleich zum Jahr 2000: Was sind Ihre Eindrücke dieses Jahr?
Gornik: Also gerade eben hat er gesagt, vom Leiden alleine kann man ja nicht leben, vom Leiden Christi alleine. Genau das müssen viele gedacht haben, als sie das Stück dann umgeändert haben, umgeändert in dem Sinne, dass nicht mehr das Leiden und Sterben unseres Heilandes, des Herrn Jesus Christus, so hieß es früher, gezeigt wird, sondern der Akzent wird auf die Botschaft gelegt, also das Leben des Jesus von Nazareth: Warum er dann zum Beispiel die Händler aus dem Tempel austreibt, das kommt in den Vordergrund. Und dieses Leben, sozusagen wie ein Film auf die Bühne gesetzt, fasziniert offenbar sehr viele Leute. Das Zweite ist, Sie haben es auch gesagt: Was sich rar macht, wird attraktiv. Das kann man nur alle zehn Jahre sehen, und da muss man immer jetzt schon überlegen, wenn ich es jetzt verpasst habe, nun bleiben mir ja noch, wenn ich jung bin, ... aber wenn ich dann 50 bin, muss ich schon dran denken, wenn ich es beim 60. auch verpasse, ob ich mit 70 da noch hinkomme, ist noch eine andere Frage. Das Dritte, glaube ich, was viele fasziniert: Es ist ein Theater der großen Gefühle. Wo haben Sie sonst die Möglichkeit, das Leiden und Sterben, aber auch die Lebensgeschichte, sagen wir besser, die Botschaftsgeschichte dieses Jesus von Nazareth auf der Bühne zu erleben mit tatsächlich großen Gefühlen? Das ist nur vergleichbar mit großer Oper, und Sie haben es nur vergleichbar mit großen Filmen – Sie kennen dieses Wort Film Stills, also Standbilder, die alles ausdrücken müssen, dieses eine Standbild etwa, was einen ganzen Film ausmacht, und das ist in Oberammergau auch zu sehen. Und schließlich: Es ist unsere Kulturgeschichte, die da gezeigt wird, und wo haben wir diese abendländische Kulturgeschichte, die auf dem Neuen und Alten Testament fußt, einmal so auf der Bühne? Das gibt es nirgendwo.
Hanselmann: Sie haben gesagt, die Botschaft ist wieder erkennbarer. Wie war das denn früher, oder anders gefragt: Wie haben sich die Passionsspiele denn geändert oder gewandelt?
Gornik: Also der ganz klare Antijudaismus, der in diesen Passionsspielen ja deutlich war – das Ganze ist ja entstanden zur Zeit des Dreißigjährigen Kriegs –, der ist ganz in den Hintergrund getreten. Hier wird der Jude Jesus von Nazareth gezeigt, das ist ein jüdischer Reformrabbi, und deswegen spielen auch die Diskussionen unter den Schriftgelehrten und den Pharisäern eine so große Rolle. Das sind Leute wie er, die sind sich keineswegs einig, da gibt es Spaltungen. Also: kein Antijudaismus mehr, den wir so lange kritisiert haben. Das andere habe ich genannt, ich will es noch etwas deutlicher machen: Sagte ein kleiner Junge, er sei so fasziniert von den Kreuzigungsdarstellungen. Diese Kreuzesdarstellungen sind natürlich sehr dramatisch, außerordentlich dramatisch, übrigens eine physische Höchstleistung für die Schauspieler, die anderthalb Stunden unter Umständen auch im Regen stehen müssen. Dies wird eingebettet in Rahmenhandlungen. Immer wieder erklärt dieser Jesus von Nazareth plötzlich seine Botschaft. Das ist nicht mehr selbstverständlich wie zu anderen Jahrhunderten und anderen Jahrzehnten, da werden auch Fragen gestellt wie: Wozu das alles? Und sollten wir das Geld nicht lieber, was die Frauen uns da spenden, für andere Dinge, für unseren Lebensunterhalt benutzen als für zum Beispiel Luxusgüter? Alte Fragestellung, aber jetzt im neuen Gewand. Oder: Was mir besonders aufgefallen ist, ist die dramaturgische Veränderung, die Christian Stückl vorgenommen hat. Die Kreuzigungsszenen sind in die Abendstunden verlegt, das aus dramaturgischen Gründen: Gegen die untergehende Sonne zeigt sich eine Kreuzigung einfach besser und noch eindrücklicher. Aber es sieht so aus, als sei es ein Stück von uns, ein Stück aus der Mediengesellschaft: Wenn die Schickeria zum Beispiel um den König Herodes auf den Dächern steht und sich das ganz amüsiert, ein bisschen unbeteiligt, ein bisschen leidenschaftslos ansieht, dann kommt so ein Voyeurseffekt auf, ein kritischer. Auch wir sitzen im Publikum, auch wir sind ja heute immer ... schwanken wir ja zwischen Betroffenheit, Thrill und Mitgefühl. Uns wird ja auch alles, das entsetzlichste Erdbeben, auch ein wenig zu Unterhaltungszwecken aufbereitet. Und genau das wird uns hier gespiegelt und damit, glaube ich, zeigen diese Passionsspiele viel deutlicher als etwa noch vor 50 Jahren aber auch noch vor 10 Jahren eine, ja, dreifache Passion: Sie vermitteln das Leiden, sie vermitteln die Leidenschaft dieser Botschaft und eigentlich erzeugen sie auch dieses Mitgefühl und Mitleiden bei den Zuschauern selbst.
Hanselmann: Was ist Ihr Eindruck, wird das allgemein akzeptiert, dieser Wandel der Darstellung, oder gibt es kritische Stimmen, die sagen, das ist uns zu modern, das ist uns zu wenig traditionell?
Gornik: Nein, es gibt im Augenblick in der veröffentlichten Meinung keine wirklich kritischen Stimmen. Das liegt auch ein bisschen an Christian Stückl und seinen theologischen Beratern, die haben sehr viel Überzeugungsarbeit geleistet. Es gab in der Geschichte der Passionsspiele mal den Versuch, die Passionsspiele zu reformieren oder zu ändern, und zwar im Sinne der Salzburger Festspiele, die da vielleicht Pate gestanden haben, diese allegorische Darstellung des Jedermann. Da wollte man in diese Kreuzigungs- und Botschaftsgeschichte des Jesus von Nazareth allegorische Bilder einbringen, also den Neid, die Fresssucht, den Geiz, Habgier, wie ein mittelalterliches Mysterienspiel. Das war eine sehr ambitionierte und meines Erachtens sehr weit gehende Reformbewegung, die da versucht wurde. Das ist gescheitert, also das hat auch die eigenen Leute nachher nicht überzeugt. Und das Publikum – immerhin, auch wenn viele Karten zurückgegeben wurden zunächst, das waren mehr Arrangements, also weniger die einzelnen Karten – zeigt ja, das ist ja eine Abstimmung mit den Füßen: Die Passionsspiele sind so gut wie ausverkauft. Man findet immer wieder Karten, weil eben doch kurzfristig was zurückgegeben wird – also hin!
Hanselmann: Fazit also: keine große Kommerzshow, sondern ganz großes Theater.
Gornik: Verdammt gutes, wenn man das mal in diesem Zusammenhang sagen darf, verdammt gutes Laientheater, aber keineswegs laienhaftes, das sind Liebhaber da am Werk, die mit hohen Profis zusammenarbeiten wie Christian Stückl. Nein, das ist großes, im besten Sinne Volkstheater.
Hanselmann: Vielen Dank, Herbert A. Gornik. Danke!