"Ein Stück märkischen Waldes, herrlich, schön, friedlich"
Heinrich Zille, Gustav Langenscheidt, Werner von Siemens, Rudolf Breitscheid - sie alle haben eines gemeinsam: Sie sind auf dem Südwestkirchhof im brandenburgischen Stahnsdorf beerdigt. Der fast 100 Jahre alte, 206 Hektar große Friedhof gehört zu den größten und bedeutendsten Deutschlands.
"Diese Weitläufigkeit, es ist nicht so in ein Schema gepackt, hier ein Grab, dort ein Grab. Diese so genannte Unordnung, die aber eine Ordnung ist."
"Die Ruhe. Es ist wirklich ein Friedhof, er strahlt Frieden aus."
"Er ist einfach schön, anders kann ich das nicht sagen."
"Ohne etwas schön zu reden, der Friedhof ist überhaupt nicht traurig."
Der Grabstein steht schief und ist von vier senkrechten Rissen durchzogen. Efeu wuchert darüber, Moos wächst zentimeterdick. Nur noch wenige Buchstaben und Zahlen sind zu entziffern. Geboren am 12. Februar, gestorben am 26. Juni. Wann? Und wer? Wie hat er gelebt? War sie glücklich? Wer hat an diesem Grab gestanden und geweint? Der Engel ist geköpft. Es riecht intensiv nach Bärlauch.
Ein Mausoleum aus Sandstein mit kupfernem Dach. Auf der rechten Seite wächst ein Rhododendron. Die prallen Knospen warten auf den Frühling. Auf der schmiedeeisernen Tür in der Mitte eine stilisierte Weltkugel, die Strahlen aussendet. Per aspera ad astra - durch Mühen zu den Sternen. Ein Kranz aus frischen, gelben Blüten liegt davor. Zur Erinnerung an den 175. Todestag Gustav Langenscheidt.
Ein Findling mit drei Namen und nur einem Sterbedatum: 6.11.1941. Joachim, Meta und Michael Gottschalk. Von den Nazis bejubelt, von den Nazis in den Tod getrieben. Joachim Gottschalk ist in den 30er Jahren ein erfolgreicher Filmschauspieler, feiert Erfolge auf Berlins Bühnen. Goebbels verlangt von ihm, sich von seiner jüdischen Frau Meta scheiden zu lassen. Der Schauspieler weigert sich, die Drohungen nehmen zu, beide nehmen sich im November 1941 das Leben, das Kind nehmen sie mit in den Tod.
Berlin, Ende des 19. Jahrhunderts. Die Stadt wächst rasant. Kein Platz mehr für die Lebenden, kein Raum mehr für die Toten. Die evangelische Kirche erwirbt 156 Hektar Wald und Heide im Südwesten Berlins jenseits des Teltowkanals. Der Gartenbaumeister Louis Meyer entwirft einen Friedhof, der gleichzeitig Landschaftspark ist - mit Alleen, Rondellen, Sichtachsen, Brunnen, einer Kapelle im Stil norwegischer Holzkirchen. 1909 wird der Südwestkirchhof eröffnet, nur zwei Jahre später verbindet eine S-Bahn - im Volksmund auch Witwenbahn genannt - den Friedhof direkt mit der Großstadt. Der Südwestkirchhof wird ein beliebtes Ausflugsziel der Berliner. Sie fahren mit der S-Bahn ins Grüne, besuchen die Gräber der Prominenten.
"Hier ruht der große expressionistische Filmregisseur Friedrich Wilhelm Murnau. Mit Nosferatu - eine Symphonie des Grauens, begründet er das Genre des Horrorfilms."
"'Wir sind nicht mehr Bürger des Hitlerreiches, aber wir werden Bürger eines neuen Deutschland sein.' Dies sagte Rudolf Breitscheid 1933 im Pariser Exil."
"Vor einem gewaltigen Findling hat der Maler Lovis Corinth seine letzte Ruhestätte gefunden."
"Als Sohn eines Gutspächters wurde Werner Siemens am 13. Dezember 1816 in Lente bei Hannover geboren. Am 6. Dezember 1892 starb der von Kaiser Friedrich III. geadelte geniale Erfinder, Konstrukteur und Unternehmer Werner von Siemens in Charlottenburg."
"Kurt Tucholsky nannte ihn Berlins Besten. Dabei war Heinrich Zille gar kein gebürtiger Berliner, sondern Sachse."
"Hier ruht Louis Ullstein aus der wohl bekanntesten Verlegerfamilie Berlins. 1877 gründet sein Vater Leopold Ullstein den Verlag in der Kochstraße."
"Im Zuge der Umbettungen vom alten St.-Matthäus-Friedhof in Schöneberg kam auch das Grab des Geheimen Baurates Walter Gropius nach Stahnsdorf. Von 1919 bis 1928 war er Direktor des Bauhauses in Weimar und Dessau."
Nach dem Mauerbau ist der Friedhof von seinem ursprünglichen Einzugsgebiet, dem Südwesten Berlins, abgeschnitten. Die DDR legt die S-Bahn-Verbindung still, lässt 1976 das Bahnhofsgebäude abreißen. Angehörige brauchen eine Sondergenehmigung, um die Familiengräber zu pflegen. Grabmale verwittern, verfallen, wachsen zu. Die Natur holt sich zurück, was der Mensch ihr genommen hat. Dank der deutsch-deutschen Teilung ist der Südwestkirchhof in Stahnsdorf heute der artenreichste Friedhof Deutschlands, sagt Friedhofsverwalter Olaf Ihlefeldt.
"Ja, muss man sagen. Das ist der einzige Vorteil daran, alles andere ist politisch dramatisch. Das ist der einzige Vorteil, dass die Natur sich den Friedhof in enormem Maße zurückgeholt hat, man findet wirklich europaweit nichts Vergleichbares."
Die zwitschernden Vögel sind ein Segen, die Wildschweine eine Plage. Moose und Efeu geben dem Südwestkirchhof etwas Verwunschenes. Zwischen den Buchen blitzt ein Mausoleum hervor, knallgrün, wie mit Farbe angesprüht.
"Das, was so grün aussieht wie ein Anstrich, das sind einfach nur Algen, und die gedeihen nur in diesem Kleinklima. Und deshalb geben die diesen Farbton, so ein intensives Grün, das man woanders nicht sieht."
Olaf Ihlefeldt schiebt ein silberfarbenes Fahrrad über den Weg, vorn im Korb liegt eine Säge. Den Reißverschluss seiner grünen Wetterjacke hat er bis oben hochgezogen, das feuchte Novemberwetter kriecht in die Kleidung. Von Beruf Gärtnermeister wollte sich der 40-Jährige eigentlich nur um die Bäume und Blumen auf dem Südwestkirchhof kümmern. Jetzt ist er Friedhofsverwalter und noch vieles mehr: Konzertveranstalter, Gästeführer, Geldbeschaffer, Kulturmanager.
"Es war ja 1990/1991, so in der Zeit, da ist sofort ein Funken übergesprungen, und seitdem reißt mich das mit. Und alles was im kunst- und kulturhistorischen Bereich passiert, das ist Hobby, reine Liebe zum Friedhof."
Liebe zum Friedhof? Wer mit Olaf Ihlefeldt, seinen Mitarbeitern und den Mitgliedern des Fördervereins redet, hört diesen erstaunlichen Satz immer wieder: "Ich habe mich in den Südwestkirchhof verliebt." Auch das Ehepaar Ursula und Alfred Kröötz - sie 77, er 80 Jahre als - hat sich verknallt.
"Unmittelbar nach der Wende sind wir das erste Mal mit dem Fahrrad da gewesen. Bei der Gelegenheit haben wir uns in diesen Friedhof verliebt, und als meine Mutter starb, sie wollte anonym beerdigt werden, haben wir gesagt, aber nur hier."
Das Ehepaar Kröötz ist an diesem Samstag zünftig gekleidet. Jeans, Wetterjacken, Handschuhe. Ursula Kröötz trägt eine Norwegerstrickmütze in Blau und Rot. Was hat die beiden so früh am Morgen nach Stahnsdorf getrieben?
"Eine Einladung, eine Einladung zum Putzen. Da wir diesen Friedhof echt lieben, fühlen wir uns auch ein bisschen verpflichtet mitzuhelfen."
Etwa 30 Helfer sind der Einladung zum Herbstputz gefolgt: Reservisten der Bundeswehr, Angehörige der britischen Armee, die sich um die Kriegsgräber kümmern, dazu ein Trupp lautstarker Jugendlicher.
"Es geht darum, Büsche richtig zu roden. Ihr habt das drauf, ich weiß es. Am besten mit dem Spaten, richtig an die Wurzeln ran, bloß nicht oben abschneiden, das nützt uns gar nichts. Wer Werkzeug braucht, sollte zu dem Traktor gehen, und nicht vergessen, um zwölf Uhr ist Mittagspause."
"Die jungen Frauen und Männer stammen fast alle aus zerrütteten Familien, leben jetzt gemeinsam im Jugendheim Ziethen. Viele sind Schulverweigerer, haben Diebstähle begangen, sind gewalttätig geworden, vor Gericht gelandet. Ihre überschüssige Kraft können sie an diesem Tag sinnvoll einsetzen."
"Wir haben uns das auf die Fahnen geschrieben, weil unser Heim ja den gleichen Namen trägt wie der hier begrabene Heinrich Zille, und da haben wir eine Patenschaft übernommen, nicht speziell für dieses Grab, wir haben unsere Hilfe für das gesamte Objekt angeboten, das machen die Jugendlichen gerne."
Die jungen Leute arbeiten im äußersten Nordwesten der weitläufigen Anlage. Entlang des Zauns finden sich monumentale Gräber und Mausoleen aus dem 19. Jahrhundert, also aus der Zeit vor der Gründung des Südwestkirchhofes. Viele sind einsturzgefährdet und müssten eigentlich abgesperrt werden. Olaf Ihlefeldt erklärt:
"Hitler war Mitte der 30er Jahre auf dem Hoch seines Größenwahns, Albert Speer war an seiner Seite, hat für Berlin Germania geplant, hat seine Trassen durch die Stadt geschlagen, da waren Friedhöfe im Weg, hat 33.000 Gräber in Berlin beräumen lassen, nach Stahnsdorf gebracht und sogar Mausoleen und monumentale Bauten, so wie sie hier stehen, hierher bringen lassen, das Ganze 1938/1939."
15.000 umgebettete Tote sind namentlich bekannt, die Gebeine von weiteren 18.000 Toten ließen die Nazis in Massengräbern auf dem Südwestkirchhof verscharren.
"Es war eine Zwangsmaßnahme, die Familien wurden zwangsweise finanziell mit herangezogen, und dadurch konnte das gemacht werden. Aber die wenigsten Familien haben danach die Gräber überhaupt noch betreut. Es waren sehr viele jüdische Familien, die nachher auswandern mussten, dadurch sind die Gräber seit Ende der 30er Jahre verlassen."
Nach der Wende haben Olaf Ihlefeldt und seine Mitarbeiter recherchiert. Sie haben versucht, Nachkommen der dort Bestatteten ausfindig zu machen, um die Familien zu überzeugen, sich für die alten, oft kunsthistorisch bedeutsamen Gräber zu engagieren . mit wenig Erfolg. Jetzt ist der Südwestkirchhof Eigentümer der Grabmale und Mausoleen.
"Man könnte meinen, toll. Aber das ist genau das Problem. Denn wir haben überhaupt kein Geld, das zu erhalten. Es ist eigentlich nur Last, und mit der Last versuchen wir eben umzugehen, in dem wir Putzaktionen machen, um sie freizuhalten."
Oder, indem Olaf Ihlefeldt auf die Suche nach Grabpaten geht. Nach Menschen, die sich mit einem Denkmal besonders verbinden und sich verpflichten, es zu sanieren. Später können sie sich an dieser Stelle beerdigen lassen.
Im September arbeiten sechs junge Künstlerinnen und Künstler auf dem Südwestkirchhof. Sie versuchen, sich auf das Besondere des Ortes einzulassen, modellieren an der Landschaft. Gebhard Schäuble ist zunächst zwei Tage lang mit dem Fahrrad über den Kirchhof gefahren, hat sich dann für eine abgelegene Wegkreuzung im Wald entschieden. Mit Wasser und einer Bürste versucht er, von Moos überwachsene Stufen freizulegen.
"Das war total überwachsen, also die Stufen hat man noch ein bisschen gesehen, und von da aus ist uns auch die Idee gekommen zu schauen, was kann man da machen? Und dann hat sich per Zufall ein Fund der Bänke ergeben."
Gebhard Schäuble hat bei der Erkundung des Südwestkirchhofs alte, verrostete, kaputte Bänke aus verschiedenen Epochen entdeckt. Etwa 15 von ihnen hat er zu einer Skulptur drapiert. Gegenüber hat er eine intakte Bank hingestellt - als Einladung, sich hinzusetzen und den Gedanken freien Lauf zu lassen.
Die Kunsttherapeutin Corinna Braun hat sich einen Bildhauerplatz hinter der Friedhofsgärtnerei eingerichtet. Seit die kleine schmale Frau dort arbeitet, hat sich ihr Verhältnis zum Tod gewandelt.
"Man befasst sich mit dem Thema, und ganz anders. Nicht nur so als Schreck. Ohje, der Tod und Sterben, sondern einfach, dass es zum Leben dazugehört, das es auch etwas Fröhliches hat."
Einmal im Monat bietet die Kunsttherapeutin Trauernden an, auf dem Südwestkirchhof künstlerisch zu arbeiten. Mit Farbe, mit Ton, mit Holz. "Kunst des Abschieds" nennt Corinna Braun dieses offene Angebot.
Drei Frauen sitzen bei Kaffee, Tee und Plätzchen um einen weißen Tisch. Neben sich Papier, Pinsel und Wassergläser, in der Mitte Wachsmalstifte, Aquarellkreiden, Fingerfarben, Paletten. Die Atmosphäre ist konzentriert, ab und zu werden leise Sätze gewechselt. Edeltraut Schmett hat gleich losgelegt, wirft kurze gelbe Pinselstriche auf das Blatt, die von einem Punkt nach oben strahlen.
"Ich hatte vorhin so einen Spruch gelesen über das Licht. Wenn Du Licht warst auf Erden, dann bist Du auch Licht danach und leuchtest später, das spukte bei mir im Kopf herum, und deshalb habe ich mit Gelb angefangen."
Wie bei jedem Besuch auf dem Südwestkirchhof hat Edeltraut Schmett zunächst die Begräbnisstätte ihrer Tochter besucht. Vor einem Jahr ist sie gestorben, mit gerade einmal 25. Ist das Malen für Edeltraut Schmett ein Versuch, Abschied zu nehmen?
"Ich weiß gar nicht, ob man das als Abschiednehmen sehen kann. Ich habe es noch gar nicht hundertprozentig realisiert, dass sie tot ist. Es ist irgendwie noch so ein Waage-Zustand, aber es hilft mir, in die Auseinandersetzung zu gehen."
Ute Tschipke hat sich ein langes Stück Papier von der Rolle abgeschnitten, greift dann in die Farben - zunächst nur vorsichtig mit einzelnen Fingern, dann benutzt sie die ganze Hand, streicht dunkelbraune Fingerfarbe in Form einer Welle über das bereits Gemalte. In zwei Tagen jährt sich der Todestag ihrer Mutter.
"Ich hatte das Bedürfnis, einmal quer über das ganze Bild zu malen. Und ich dachte, du kannst jetzt dein Bild nicht verderben. Dann sagte Corinna, hier hast du blaue Wachsmalkreide, mach mal, dann habe ich den genommen und quer über das ganze Bild gekrakelt, und dann wurde mir klar, sie hat den Nagel auf den Kopf getroffen."
Während Ute Tschipke weitermalt, fängt sie an zu weinen. Die Wimperntusche löst sich auf, läuft ihr über das Gesicht. Jemand reicht ihr schweigend ein Taschentuch. Worte sind überflüssig, alle im Raum kennen die Situation.
"Das, was im Moment der Zustand der eigenen Trauer ist, kann ausgedrückt werden. Wenn man gezielt darüber spricht, dann schaltet man den Kopf ein. Und wenn man malt, kann man erreichen, dass man sich verliert, ganz automatisch drückt sich das aus."
Dass Friedhöfe ein Spiegel der gesellschaftlichen Entwicklung sind, ist am Südwestkirchhof besonders gut abzulesen. Direkt neben monumentalen Mausoleen befinden sich kleine Urnengräber. Am Rande eines Waldstücks steht ein Schild: "Familien können hier einen Baum wählen und unter den Kronen vom Buchen und Eichen die Aschereste ihrer Angehörigen bestatten lassen." Olaf Ihlefeldt hat sich lange gegen diese Art von Bestattungen gesträubt, sie als kulturellen Verlust beschrieben.
"Die Nähe der Metropole Berlin, in solchen Metropolen ist Anonymität Tagesordnung, und das spiegelt sich bis ins letzte Glied wieder auf Friedhöfen. Pflegelose Gräber, Gemeinschaftsanlagen, die wachsen, die wuchern, erschreckend, aber das ist nicht aufzuhalten, es ist ganz einfach ein ganz normales Ergebnis unseres gesellschaftlichen Wandels."
Ein gesellschaftlicher Wandel, dem sich die Evangelische Kirche als Eigentümerin des Südwestkirchhofes anpassen muss, auch aus finanziellen Gründen. Die Kirche hatte nach der Wende gehofft, Stahnsdorf könne wieder zu einem zentralen Friedhof der Metropole Berlin werden. Doch die Tendenz zur Einäscherung und zur anonymen Bestattung bringt es mit sich, dass immer weniger Friedhofsfläche gebraucht wird. Der Südwestkirchhof ist als Bestattungsort eigentlich überflüssig. Der Erhalt und die Sanierung der denkmalgeschützten 206 Hektar großen Anlage kosten viel Geld, die Einnahmen sind niedrig. Olaf Ihlefeldt setzt deshalb auf Individualisten, die eine Grabpatenschaft übernehmen oder die sich selber oder ihren Angehörigen ein ganz besonderes Denkmal setzen wollen.
"Wenn Menschen individuelle Wünsche haben, dann müssen wir ihnen so etwas ermöglichen. Wir hinterlassen sonst nichts mehr für unsere Nachfahren. Was sollen sich unsere Enkel auf den Friedhöfen angucken, grüne Wiesen oder uniformierte Gräberfelder? Und da haben wir einen Anfang gemacht."
Olaf Ihlefeldts Enkel werden sich ein Grabmal voller christlicher Symbolik ansehen können. Der Friedhofsverwalter und seine Frau haben sich auf dem Südwestkirchhof bereits eine Stelle ausgesucht, an der sie beerdigt sein möchten. Es ist die letzte Ruhestätte von Wilhelm, Marie und Alice Krause.
"Das christliche Symbol als Kreuz ist mir ganz wichtig, dann der Schmetterling als traumhafte Vorstellung, gut zu vermitteln, der Schmetterling als Seele, die nach dem Tod gen Himmel schwebt. Das Totentuch, was die Reinheit symbolisiert auch nach dem Tod."
Olaf Ihlefeldt verbringt Tag und Nacht auf dem Südwestkirchhof, er lebt im alten Verwalterhaus. Zusammen mit der vierjährigen Tochter Lea und seiner Frau Gabriele, die er, wie sollte es anders sein, auf dem Friedhof kennen und lieben gelernt hat. Dies zuzugeben ist Olaf Ihlefeldt ein bisschen peinlich. Aber dann lacht er, blickt seine Frau an.
"Sie hat mich durch ihr Engagement für den Friedhof beeindruckt. Unsere Beziehung ist auf dem Friedhof entstanden."
Gabriele Ihlefeldt: "Gerade auch mit Kind ist es schön. Freunde, die uns besuchen, sagen, das ist eine privilegierte Wohnlage. Du kannst rausgehen, keine Straße, das Kind kann Fahrrad fahren, man kann hier spazieren gehen."
Auf einem Friedhof zu wohnen inmitten der vielen tausend Toten, das belastet das Familienleben nicht, sagt Gabriele Ihlefeldt, eine fröhliche Frau. Zum Grab ihres Vaters sind es nur wenige Meter zu Fuß.
"Hier geht man einfach mal schnell vorbei, guckt nach dem Rechten. Unsere Tochter weiß genau die Stelle, da liegt Opa Gerhard, unterhält sich auch mit ihm, steht vor dem Kreuz und singt oder sagt was."
Olaf Ihlefeldt: "Für mich als Christ habe ich die große Freude und Hoffnung zu sagen, für mich geht es hier weiter auf dem Friedhof, das ist noch lange nicht vorbei. Von daher wird es auch nicht bedrückend auf dem Friedhof."
Und so ist es für Gabriele und Olaf Ihlefeldt auch nichts Besonderes, das ihre Tochter Lea über den Gräbern laufen gelernt hat - auf dem Südwestkirchhof Stahnsdorf, auf dem 120.000 Menschen beerdigt sind.
"Die Ruhe. Es ist wirklich ein Friedhof, er strahlt Frieden aus."
"Er ist einfach schön, anders kann ich das nicht sagen."
"Ohne etwas schön zu reden, der Friedhof ist überhaupt nicht traurig."
Der Grabstein steht schief und ist von vier senkrechten Rissen durchzogen. Efeu wuchert darüber, Moos wächst zentimeterdick. Nur noch wenige Buchstaben und Zahlen sind zu entziffern. Geboren am 12. Februar, gestorben am 26. Juni. Wann? Und wer? Wie hat er gelebt? War sie glücklich? Wer hat an diesem Grab gestanden und geweint? Der Engel ist geköpft. Es riecht intensiv nach Bärlauch.
Ein Mausoleum aus Sandstein mit kupfernem Dach. Auf der rechten Seite wächst ein Rhododendron. Die prallen Knospen warten auf den Frühling. Auf der schmiedeeisernen Tür in der Mitte eine stilisierte Weltkugel, die Strahlen aussendet. Per aspera ad astra - durch Mühen zu den Sternen. Ein Kranz aus frischen, gelben Blüten liegt davor. Zur Erinnerung an den 175. Todestag Gustav Langenscheidt.
Ein Findling mit drei Namen und nur einem Sterbedatum: 6.11.1941. Joachim, Meta und Michael Gottschalk. Von den Nazis bejubelt, von den Nazis in den Tod getrieben. Joachim Gottschalk ist in den 30er Jahren ein erfolgreicher Filmschauspieler, feiert Erfolge auf Berlins Bühnen. Goebbels verlangt von ihm, sich von seiner jüdischen Frau Meta scheiden zu lassen. Der Schauspieler weigert sich, die Drohungen nehmen zu, beide nehmen sich im November 1941 das Leben, das Kind nehmen sie mit in den Tod.
Berlin, Ende des 19. Jahrhunderts. Die Stadt wächst rasant. Kein Platz mehr für die Lebenden, kein Raum mehr für die Toten. Die evangelische Kirche erwirbt 156 Hektar Wald und Heide im Südwesten Berlins jenseits des Teltowkanals. Der Gartenbaumeister Louis Meyer entwirft einen Friedhof, der gleichzeitig Landschaftspark ist - mit Alleen, Rondellen, Sichtachsen, Brunnen, einer Kapelle im Stil norwegischer Holzkirchen. 1909 wird der Südwestkirchhof eröffnet, nur zwei Jahre später verbindet eine S-Bahn - im Volksmund auch Witwenbahn genannt - den Friedhof direkt mit der Großstadt. Der Südwestkirchhof wird ein beliebtes Ausflugsziel der Berliner. Sie fahren mit der S-Bahn ins Grüne, besuchen die Gräber der Prominenten.
"Hier ruht der große expressionistische Filmregisseur Friedrich Wilhelm Murnau. Mit Nosferatu - eine Symphonie des Grauens, begründet er das Genre des Horrorfilms."
"'Wir sind nicht mehr Bürger des Hitlerreiches, aber wir werden Bürger eines neuen Deutschland sein.' Dies sagte Rudolf Breitscheid 1933 im Pariser Exil."
"Vor einem gewaltigen Findling hat der Maler Lovis Corinth seine letzte Ruhestätte gefunden."
"Als Sohn eines Gutspächters wurde Werner Siemens am 13. Dezember 1816 in Lente bei Hannover geboren. Am 6. Dezember 1892 starb der von Kaiser Friedrich III. geadelte geniale Erfinder, Konstrukteur und Unternehmer Werner von Siemens in Charlottenburg."
"Kurt Tucholsky nannte ihn Berlins Besten. Dabei war Heinrich Zille gar kein gebürtiger Berliner, sondern Sachse."
"Hier ruht Louis Ullstein aus der wohl bekanntesten Verlegerfamilie Berlins. 1877 gründet sein Vater Leopold Ullstein den Verlag in der Kochstraße."
"Im Zuge der Umbettungen vom alten St.-Matthäus-Friedhof in Schöneberg kam auch das Grab des Geheimen Baurates Walter Gropius nach Stahnsdorf. Von 1919 bis 1928 war er Direktor des Bauhauses in Weimar und Dessau."
Nach dem Mauerbau ist der Friedhof von seinem ursprünglichen Einzugsgebiet, dem Südwesten Berlins, abgeschnitten. Die DDR legt die S-Bahn-Verbindung still, lässt 1976 das Bahnhofsgebäude abreißen. Angehörige brauchen eine Sondergenehmigung, um die Familiengräber zu pflegen. Grabmale verwittern, verfallen, wachsen zu. Die Natur holt sich zurück, was der Mensch ihr genommen hat. Dank der deutsch-deutschen Teilung ist der Südwestkirchhof in Stahnsdorf heute der artenreichste Friedhof Deutschlands, sagt Friedhofsverwalter Olaf Ihlefeldt.
"Ja, muss man sagen. Das ist der einzige Vorteil daran, alles andere ist politisch dramatisch. Das ist der einzige Vorteil, dass die Natur sich den Friedhof in enormem Maße zurückgeholt hat, man findet wirklich europaweit nichts Vergleichbares."
Die zwitschernden Vögel sind ein Segen, die Wildschweine eine Plage. Moose und Efeu geben dem Südwestkirchhof etwas Verwunschenes. Zwischen den Buchen blitzt ein Mausoleum hervor, knallgrün, wie mit Farbe angesprüht.
"Das, was so grün aussieht wie ein Anstrich, das sind einfach nur Algen, und die gedeihen nur in diesem Kleinklima. Und deshalb geben die diesen Farbton, so ein intensives Grün, das man woanders nicht sieht."
Olaf Ihlefeldt schiebt ein silberfarbenes Fahrrad über den Weg, vorn im Korb liegt eine Säge. Den Reißverschluss seiner grünen Wetterjacke hat er bis oben hochgezogen, das feuchte Novemberwetter kriecht in die Kleidung. Von Beruf Gärtnermeister wollte sich der 40-Jährige eigentlich nur um die Bäume und Blumen auf dem Südwestkirchhof kümmern. Jetzt ist er Friedhofsverwalter und noch vieles mehr: Konzertveranstalter, Gästeführer, Geldbeschaffer, Kulturmanager.
"Es war ja 1990/1991, so in der Zeit, da ist sofort ein Funken übergesprungen, und seitdem reißt mich das mit. Und alles was im kunst- und kulturhistorischen Bereich passiert, das ist Hobby, reine Liebe zum Friedhof."
Liebe zum Friedhof? Wer mit Olaf Ihlefeldt, seinen Mitarbeitern und den Mitgliedern des Fördervereins redet, hört diesen erstaunlichen Satz immer wieder: "Ich habe mich in den Südwestkirchhof verliebt." Auch das Ehepaar Ursula und Alfred Kröötz - sie 77, er 80 Jahre als - hat sich verknallt.
"Unmittelbar nach der Wende sind wir das erste Mal mit dem Fahrrad da gewesen. Bei der Gelegenheit haben wir uns in diesen Friedhof verliebt, und als meine Mutter starb, sie wollte anonym beerdigt werden, haben wir gesagt, aber nur hier."
Das Ehepaar Kröötz ist an diesem Samstag zünftig gekleidet. Jeans, Wetterjacken, Handschuhe. Ursula Kröötz trägt eine Norwegerstrickmütze in Blau und Rot. Was hat die beiden so früh am Morgen nach Stahnsdorf getrieben?
"Eine Einladung, eine Einladung zum Putzen. Da wir diesen Friedhof echt lieben, fühlen wir uns auch ein bisschen verpflichtet mitzuhelfen."
Etwa 30 Helfer sind der Einladung zum Herbstputz gefolgt: Reservisten der Bundeswehr, Angehörige der britischen Armee, die sich um die Kriegsgräber kümmern, dazu ein Trupp lautstarker Jugendlicher.
"Es geht darum, Büsche richtig zu roden. Ihr habt das drauf, ich weiß es. Am besten mit dem Spaten, richtig an die Wurzeln ran, bloß nicht oben abschneiden, das nützt uns gar nichts. Wer Werkzeug braucht, sollte zu dem Traktor gehen, und nicht vergessen, um zwölf Uhr ist Mittagspause."
"Die jungen Frauen und Männer stammen fast alle aus zerrütteten Familien, leben jetzt gemeinsam im Jugendheim Ziethen. Viele sind Schulverweigerer, haben Diebstähle begangen, sind gewalttätig geworden, vor Gericht gelandet. Ihre überschüssige Kraft können sie an diesem Tag sinnvoll einsetzen."
"Wir haben uns das auf die Fahnen geschrieben, weil unser Heim ja den gleichen Namen trägt wie der hier begrabene Heinrich Zille, und da haben wir eine Patenschaft übernommen, nicht speziell für dieses Grab, wir haben unsere Hilfe für das gesamte Objekt angeboten, das machen die Jugendlichen gerne."
Die jungen Leute arbeiten im äußersten Nordwesten der weitläufigen Anlage. Entlang des Zauns finden sich monumentale Gräber und Mausoleen aus dem 19. Jahrhundert, also aus der Zeit vor der Gründung des Südwestkirchhofes. Viele sind einsturzgefährdet und müssten eigentlich abgesperrt werden. Olaf Ihlefeldt erklärt:
"Hitler war Mitte der 30er Jahre auf dem Hoch seines Größenwahns, Albert Speer war an seiner Seite, hat für Berlin Germania geplant, hat seine Trassen durch die Stadt geschlagen, da waren Friedhöfe im Weg, hat 33.000 Gräber in Berlin beräumen lassen, nach Stahnsdorf gebracht und sogar Mausoleen und monumentale Bauten, so wie sie hier stehen, hierher bringen lassen, das Ganze 1938/1939."
15.000 umgebettete Tote sind namentlich bekannt, die Gebeine von weiteren 18.000 Toten ließen die Nazis in Massengräbern auf dem Südwestkirchhof verscharren.
"Es war eine Zwangsmaßnahme, die Familien wurden zwangsweise finanziell mit herangezogen, und dadurch konnte das gemacht werden. Aber die wenigsten Familien haben danach die Gräber überhaupt noch betreut. Es waren sehr viele jüdische Familien, die nachher auswandern mussten, dadurch sind die Gräber seit Ende der 30er Jahre verlassen."
Nach der Wende haben Olaf Ihlefeldt und seine Mitarbeiter recherchiert. Sie haben versucht, Nachkommen der dort Bestatteten ausfindig zu machen, um die Familien zu überzeugen, sich für die alten, oft kunsthistorisch bedeutsamen Gräber zu engagieren . mit wenig Erfolg. Jetzt ist der Südwestkirchhof Eigentümer der Grabmale und Mausoleen.
"Man könnte meinen, toll. Aber das ist genau das Problem. Denn wir haben überhaupt kein Geld, das zu erhalten. Es ist eigentlich nur Last, und mit der Last versuchen wir eben umzugehen, in dem wir Putzaktionen machen, um sie freizuhalten."
Oder, indem Olaf Ihlefeldt auf die Suche nach Grabpaten geht. Nach Menschen, die sich mit einem Denkmal besonders verbinden und sich verpflichten, es zu sanieren. Später können sie sich an dieser Stelle beerdigen lassen.
Im September arbeiten sechs junge Künstlerinnen und Künstler auf dem Südwestkirchhof. Sie versuchen, sich auf das Besondere des Ortes einzulassen, modellieren an der Landschaft. Gebhard Schäuble ist zunächst zwei Tage lang mit dem Fahrrad über den Kirchhof gefahren, hat sich dann für eine abgelegene Wegkreuzung im Wald entschieden. Mit Wasser und einer Bürste versucht er, von Moos überwachsene Stufen freizulegen.
"Das war total überwachsen, also die Stufen hat man noch ein bisschen gesehen, und von da aus ist uns auch die Idee gekommen zu schauen, was kann man da machen? Und dann hat sich per Zufall ein Fund der Bänke ergeben."
Gebhard Schäuble hat bei der Erkundung des Südwestkirchhofs alte, verrostete, kaputte Bänke aus verschiedenen Epochen entdeckt. Etwa 15 von ihnen hat er zu einer Skulptur drapiert. Gegenüber hat er eine intakte Bank hingestellt - als Einladung, sich hinzusetzen und den Gedanken freien Lauf zu lassen.
Die Kunsttherapeutin Corinna Braun hat sich einen Bildhauerplatz hinter der Friedhofsgärtnerei eingerichtet. Seit die kleine schmale Frau dort arbeitet, hat sich ihr Verhältnis zum Tod gewandelt.
"Man befasst sich mit dem Thema, und ganz anders. Nicht nur so als Schreck. Ohje, der Tod und Sterben, sondern einfach, dass es zum Leben dazugehört, das es auch etwas Fröhliches hat."
Einmal im Monat bietet die Kunsttherapeutin Trauernden an, auf dem Südwestkirchhof künstlerisch zu arbeiten. Mit Farbe, mit Ton, mit Holz. "Kunst des Abschieds" nennt Corinna Braun dieses offene Angebot.
Drei Frauen sitzen bei Kaffee, Tee und Plätzchen um einen weißen Tisch. Neben sich Papier, Pinsel und Wassergläser, in der Mitte Wachsmalstifte, Aquarellkreiden, Fingerfarben, Paletten. Die Atmosphäre ist konzentriert, ab und zu werden leise Sätze gewechselt. Edeltraut Schmett hat gleich losgelegt, wirft kurze gelbe Pinselstriche auf das Blatt, die von einem Punkt nach oben strahlen.
"Ich hatte vorhin so einen Spruch gelesen über das Licht. Wenn Du Licht warst auf Erden, dann bist Du auch Licht danach und leuchtest später, das spukte bei mir im Kopf herum, und deshalb habe ich mit Gelb angefangen."
Wie bei jedem Besuch auf dem Südwestkirchhof hat Edeltraut Schmett zunächst die Begräbnisstätte ihrer Tochter besucht. Vor einem Jahr ist sie gestorben, mit gerade einmal 25. Ist das Malen für Edeltraut Schmett ein Versuch, Abschied zu nehmen?
"Ich weiß gar nicht, ob man das als Abschiednehmen sehen kann. Ich habe es noch gar nicht hundertprozentig realisiert, dass sie tot ist. Es ist irgendwie noch so ein Waage-Zustand, aber es hilft mir, in die Auseinandersetzung zu gehen."
Ute Tschipke hat sich ein langes Stück Papier von der Rolle abgeschnitten, greift dann in die Farben - zunächst nur vorsichtig mit einzelnen Fingern, dann benutzt sie die ganze Hand, streicht dunkelbraune Fingerfarbe in Form einer Welle über das bereits Gemalte. In zwei Tagen jährt sich der Todestag ihrer Mutter.
"Ich hatte das Bedürfnis, einmal quer über das ganze Bild zu malen. Und ich dachte, du kannst jetzt dein Bild nicht verderben. Dann sagte Corinna, hier hast du blaue Wachsmalkreide, mach mal, dann habe ich den genommen und quer über das ganze Bild gekrakelt, und dann wurde mir klar, sie hat den Nagel auf den Kopf getroffen."
Während Ute Tschipke weitermalt, fängt sie an zu weinen. Die Wimperntusche löst sich auf, läuft ihr über das Gesicht. Jemand reicht ihr schweigend ein Taschentuch. Worte sind überflüssig, alle im Raum kennen die Situation.
"Das, was im Moment der Zustand der eigenen Trauer ist, kann ausgedrückt werden. Wenn man gezielt darüber spricht, dann schaltet man den Kopf ein. Und wenn man malt, kann man erreichen, dass man sich verliert, ganz automatisch drückt sich das aus."
Dass Friedhöfe ein Spiegel der gesellschaftlichen Entwicklung sind, ist am Südwestkirchhof besonders gut abzulesen. Direkt neben monumentalen Mausoleen befinden sich kleine Urnengräber. Am Rande eines Waldstücks steht ein Schild: "Familien können hier einen Baum wählen und unter den Kronen vom Buchen und Eichen die Aschereste ihrer Angehörigen bestatten lassen." Olaf Ihlefeldt hat sich lange gegen diese Art von Bestattungen gesträubt, sie als kulturellen Verlust beschrieben.
"Die Nähe der Metropole Berlin, in solchen Metropolen ist Anonymität Tagesordnung, und das spiegelt sich bis ins letzte Glied wieder auf Friedhöfen. Pflegelose Gräber, Gemeinschaftsanlagen, die wachsen, die wuchern, erschreckend, aber das ist nicht aufzuhalten, es ist ganz einfach ein ganz normales Ergebnis unseres gesellschaftlichen Wandels."
Ein gesellschaftlicher Wandel, dem sich die Evangelische Kirche als Eigentümerin des Südwestkirchhofes anpassen muss, auch aus finanziellen Gründen. Die Kirche hatte nach der Wende gehofft, Stahnsdorf könne wieder zu einem zentralen Friedhof der Metropole Berlin werden. Doch die Tendenz zur Einäscherung und zur anonymen Bestattung bringt es mit sich, dass immer weniger Friedhofsfläche gebraucht wird. Der Südwestkirchhof ist als Bestattungsort eigentlich überflüssig. Der Erhalt und die Sanierung der denkmalgeschützten 206 Hektar großen Anlage kosten viel Geld, die Einnahmen sind niedrig. Olaf Ihlefeldt setzt deshalb auf Individualisten, die eine Grabpatenschaft übernehmen oder die sich selber oder ihren Angehörigen ein ganz besonderes Denkmal setzen wollen.
"Wenn Menschen individuelle Wünsche haben, dann müssen wir ihnen so etwas ermöglichen. Wir hinterlassen sonst nichts mehr für unsere Nachfahren. Was sollen sich unsere Enkel auf den Friedhöfen angucken, grüne Wiesen oder uniformierte Gräberfelder? Und da haben wir einen Anfang gemacht."
Olaf Ihlefeldts Enkel werden sich ein Grabmal voller christlicher Symbolik ansehen können. Der Friedhofsverwalter und seine Frau haben sich auf dem Südwestkirchhof bereits eine Stelle ausgesucht, an der sie beerdigt sein möchten. Es ist die letzte Ruhestätte von Wilhelm, Marie und Alice Krause.
"Das christliche Symbol als Kreuz ist mir ganz wichtig, dann der Schmetterling als traumhafte Vorstellung, gut zu vermitteln, der Schmetterling als Seele, die nach dem Tod gen Himmel schwebt. Das Totentuch, was die Reinheit symbolisiert auch nach dem Tod."
Olaf Ihlefeldt verbringt Tag und Nacht auf dem Südwestkirchhof, er lebt im alten Verwalterhaus. Zusammen mit der vierjährigen Tochter Lea und seiner Frau Gabriele, die er, wie sollte es anders sein, auf dem Friedhof kennen und lieben gelernt hat. Dies zuzugeben ist Olaf Ihlefeldt ein bisschen peinlich. Aber dann lacht er, blickt seine Frau an.
"Sie hat mich durch ihr Engagement für den Friedhof beeindruckt. Unsere Beziehung ist auf dem Friedhof entstanden."
Gabriele Ihlefeldt: "Gerade auch mit Kind ist es schön. Freunde, die uns besuchen, sagen, das ist eine privilegierte Wohnlage. Du kannst rausgehen, keine Straße, das Kind kann Fahrrad fahren, man kann hier spazieren gehen."
Auf einem Friedhof zu wohnen inmitten der vielen tausend Toten, das belastet das Familienleben nicht, sagt Gabriele Ihlefeldt, eine fröhliche Frau. Zum Grab ihres Vaters sind es nur wenige Meter zu Fuß.
"Hier geht man einfach mal schnell vorbei, guckt nach dem Rechten. Unsere Tochter weiß genau die Stelle, da liegt Opa Gerhard, unterhält sich auch mit ihm, steht vor dem Kreuz und singt oder sagt was."
Olaf Ihlefeldt: "Für mich als Christ habe ich die große Freude und Hoffnung zu sagen, für mich geht es hier weiter auf dem Friedhof, das ist noch lange nicht vorbei. Von daher wird es auch nicht bedrückend auf dem Friedhof."
Und so ist es für Gabriele und Olaf Ihlefeldt auch nichts Besonderes, das ihre Tochter Lea über den Gräbern laufen gelernt hat - auf dem Südwestkirchhof Stahnsdorf, auf dem 120.000 Menschen beerdigt sind.

Pinsel auf Farbpalette© Stock.XCHNG