Ein Tag mit Folgen

Von Rainer Braun |
Der Mord an dem Filmemacher Theo van Gogh hat die Niederlande erschüttert. Das Ideal einer multikulturellen Gesellschaft schien unwiederbringlich verloren. Die Filmemacherin Karin Juschik beschäftigt sich in ihrer Dokumentation "Ein Tag mit Folgen" mit den Auswirkungen der Mordtat.
Job Cohen: " Heute wurde ein Amsterdamer ermordet. Abscheu und Fassungslosigkeit erfüllen uns. Darum haben wir uns hier auf dem Damm versammelt, dem Symbol für unsere Freiheit. Theo van Gogh machte vom Recht auf freie Meinungsäußerung als Schreiber und Cineast Gebrauch. Er hat sich mit vielen Menschen angelegt, auch mit mir, und das darf man in diesem Land."

Am 4. November 2004 und den Tagen danach war nicht nur Amsterdams Bürgermeister Job Cohen tief bewegt. Noch in der Nacht nach der brutalen Tat hatte er zu einer spontanen Kundgebung gerufen, der Zehntausende folgten. Kaum ein Ereignis hat das Selbstverständnis der niederländischen Gesellschaft so nachhaltig erschüttert wie dieser Mord.

Ausgerechnet in einer der tolerantesten Gesellschaften Europas war einer für das bestraft worden, was er veröffentlicht hatte. Denn der inzwischen zu lebenslanger Haft verurteilte Mohammed B. machte auch im Prozess keinen Hehl daraus, dass er mit seiner Tat ein Fanal setzen wollte.

In der Arte-Reihe "Ein Tag mit Folgen" blickt Karin Jurschik nun auf die grauenhafte Tat und ihre Auswirkungen zurück. Am Anfang ihrer informativen und zugleich anrührenden Spurensuche steht dabei das Opfer Theo van Gogh selbst. Und damit ein Provokateur des Kultur-Betriebes, der schon vor seinem letzten Film "Submission" immer mehr war als der "Dorfnarr", zu dem er sich selbst bisweilen stilisierte.

Van Gogh teilte gnadenlos aus, scheute Geschmacklosigkeiten nicht und verletzte auch bewusst das religiöse Empfinden seiner Mitbürger. Diese Art von Grenzüberschreitungen zählten zu seinen Markenzeichen, die auch im holländischen Fernsehkanal NBO bis zuletzt für Furore sorgten.

Van Gogh: "Ich habe das Gefühl, dass der Islam eine fünfte Kolonne ist. Das heißt nicht, dass sie gleich zur Waffe greifen. Aber ich spüre eine tiefe Feindseligkeit. "
Von wem sprichst Du?
" Die Imame, die über Homosexuelle herziehen. Hier im Viertel die verschleierten Frauen. "
Und da weißt Du sicher, dass sie den Westen alle hassen?
" Das kann ich als Ungläubiger nur so sehen. Hirsi Ali sagte im Fernsehen, dass sie den Islam rückständig findet und muss untertauchen."

Van Gogh berührte damit freilich auch das Selbstwertgefühl einer multikulturellen Gesellschaft, die Toleranz postulierte und oft "Wegschauen" meinte. Denn Karin Jurschik erinnert zugleich an die Exzesse der Gewalt in Folge des feigen Attentats auf van Gogh: als binnen eines Monats 147 Anschläge auf Muslime und ihre Einrichtungen gezählt wurden. Und ihre Dokumentation verschweigt auch nicht, dass holländische Hooligans zu den gewalttätigsten in Europa zählen.

Gleichwohl hütet sie sich vor vorschnellen Antworten oder Schuldzuweisungen und klammert auch soziale Gründe nicht aus. Manche Analytiker wie der Soziologe Jan Rath sehen die Ursachen für diese Entwicklung auch in der Entsolidarisierung der niederländischen Gesellschaft.

Jan Rath: "Es gibt einen Abbau des Sozialstaates, weniger Wohlfahrt. Es ist schwieriger, Unterstützung zu bekommen. Die Wirtschaft entwickelt sich neoliberal, die Gesellschaft wird zum Markt. Die Einzelnen müssen auf diesem Markt gegeneinander antreten und sie haben nur sich selbst. Das bedeutet: Dein Nachbar wird Dein Konkurrent. Das ist keine Gesellschaft mehr, die Solidarität und Hilfe kennt."

Dieser Befund weist freilich auch - und daran lässt Jurschik keinen Zweifel - über die holländischen Grenzen hinaus. Denn jenseits der Niederlande sorgte das Attentat auf van Gogh auch deshalb für hohe Wellen, weil der Mord die Illusionen einer multikulturellen Gesellschaft zu zerstörten scheint. Auch in dieser Hinsicht begnügt sich die Autorin Karin Jurschik nicht mit einfachen Antworten.

So ist denn ihre bedrückende Reportage nicht zuletzt auch eine Einladung zum Nachdenken über Zustände in unserem Land und Missverständnisse in Deutschland nach der Ermordung van Goghs. Hinweise in dieser Richtung kommen von Daniel Cohn-Bendit:

"In Deutschland wird jetzt diskutiert: Die multikulturelle Gesellschaft ist tot! Was heißt das? Heißt das, dass wir alle Ausländer rausschmeißen? Man muss ja mal konsequent sein. Wenn nicht, bleiben sie da. Also gibt es immer noch eine multikulturelle Gesellschaft. Man kann sagen, die Idee der multikulturellen Gesellschaft muss neu gedacht werden. Wer hat sie überhaupt gedacht? Wir hatten gar keine - Deutschland hat immer gesagt: wir sind kein Einwanderungsland!

Die multikulturelle Gesellschaft hat sich etabliert, und die Mehrheitsgesellschaft hat immer gesagt, sie existiert nicht. So, und in Holland hat sie sich etabliert. Sie war, die Leute haben sogar gesagt, sie existiert, aber es geht uns nicht an. Und das ist zusammengebrochen."