Ein Teenie mit Abgründen
In der Ruine der Fleischfabrik sterben zwei Menschen. Was hat der 13-jährige Harry damit zu tun, der dort raucht und auf Abwechslung wartet? Der Autor versteht es, den Aufschluss darüber bis zur letzten Seite zu verweigern. Das Buch über das Ende einer Kindheit gehört zu den ganz großen neuseeländischen Romanen.
Es ist das Ende einer Kindheit in Neuseeland, im kleinen Dorf Calliope Bay. Im Sommer 1968 vertreibt sich der 13-jährige Ich-Erzähler Harry die Ferienzeit mit allerlei Dummheiten, wie sein Vater findet. Mit seinem Kumpel Dibs und seinem kleinen Bruder Cal streunt er in der Ruine einer Fleischfabrik herum, raucht heimlich in einer Höhle und wartet auf Abwechslung.
Harrys Mutter ist zu Beginn der Ferien in die Stadt gezogen, zumindest für den Sommer, aber man ahnt schon, dass sie für immer bleiben wird. Die ersehnte Zerstreuung kommt in Gestalt von Cousine Caroline, die ihre Ferien auf dem Land verbringen möchte. Zu ihr fühlt Harry sich hingezogen.
Was sich wie ein sommerlich-fröhlicher Ferienroman anlässt, entwickelt sich schon bald zu einer schaurigen Schilderung dieses Sommers. Die verlassene Fleischfabrik steht dabei im Zentrum. Erst kommt dort eine Schulkameradin von Harry ums Leben, wenig später der einnehmende Frauenheld Mr. Wiggins. Den konnte Harry noch nie leiden, und der Leser weiß plötzlich nicht, ob vielleicht sogar Harry manche der schrecklichen Geschehnisse dieses Sommers herbeigeführt hat.
Der Autor versteht es, den Aufschluss darüber seinen Lesern bis zum Ende des Romans zu verweigern, eine Auflösung gibt es nicht. Sein Kunstgriff ist so einfach wie effektiv: Harry ist ein ganz und gar säumiger Erzähler; weder schildert er linear noch lückenlos.
Seine Kindheit ist nicht einfach: Häusliche Gewalt erlebt er am eigenen Körper durch seinen Vater, einen Krüppel, und dass es im Dorf sexuellen Missbrauch gibt, weiß Harry auch. Der 13-Jährige ist psychisch angeknackst, immer wieder packt ihn scheinbar grundlos eine übermächtige Wut. In der alten Fleischfabrik, so meint er, gebe es Blutlachen und man höre immer noch das Geschrei verendender Tiere.
Andererseits ist Harry auch ein ganz normaler Junge seiner Altersstufe, ein kesser Lausebengel, den man in einem Atemzug mit Tom Sawyer oder J. D. Salingers Helden Holden Caulfield nennen möchte. Der Zwiespalt, ob Harry nun böse ist oder doch ganz harmlos, bleibt ungelöst. Natürlich gibt der Ich-Erzähler keine Auskunft darüber ab – interessanterweise lässt der Text beide Möglichkeiten offen; ein Kompliment sowohl an David Ballantynes Erzählkunst als auch an die feinfühlige Übersetzung von Gregor Hens.
Der Titel "Sydney Bridge Upside Down" ist der Name des Pferdes eines alten Mannes, ein alter Klepper, der wie sein Besitzer für den Verfall steht und für ein natürliches Beharrungsvermögen und eine gute Beobachtungsgabe. Wenn jemand weiß, was sich im Sommer 1968 in Calliope Bay wirklich zugetragen hat, dann vermutlich diese beiden Romanfiguren.
David Ballantyne wollte seinerzeit die neuseeländische Gesellschaft an den Pranger stellen: Das Land lebt im Roman wie in der Realität vom Fleischexport – Neuseelands Rindfleischproduktion ist weltweit führend -, die Idylle der Siedler Neuseelands ist längst passé. Diese Aussage nahmen ihm die einheimischen Leser zeitlebens krumm; ein richtiger Erfolg wurde "Sydney Bridge Upside Down" in Ballantynes Heimatland zunächst nicht. Inzwischen aber gehört das Buch zu den ganz großen neuseeländischen Romanen und der 1986 verstorbene Ballantyne zu Neuseelands berühmtesten Schriftstellern.
Rezensiert von Roland Krüger
David Ballantyne: Sydney Bridge Upside Down
Aus dem Neuseeländischen Englisch von Gregor Hens
Hoffmann und Campe, Hamburg 2012
333 Seiten, 19,99 Euro
Harrys Mutter ist zu Beginn der Ferien in die Stadt gezogen, zumindest für den Sommer, aber man ahnt schon, dass sie für immer bleiben wird. Die ersehnte Zerstreuung kommt in Gestalt von Cousine Caroline, die ihre Ferien auf dem Land verbringen möchte. Zu ihr fühlt Harry sich hingezogen.
Was sich wie ein sommerlich-fröhlicher Ferienroman anlässt, entwickelt sich schon bald zu einer schaurigen Schilderung dieses Sommers. Die verlassene Fleischfabrik steht dabei im Zentrum. Erst kommt dort eine Schulkameradin von Harry ums Leben, wenig später der einnehmende Frauenheld Mr. Wiggins. Den konnte Harry noch nie leiden, und der Leser weiß plötzlich nicht, ob vielleicht sogar Harry manche der schrecklichen Geschehnisse dieses Sommers herbeigeführt hat.
Der Autor versteht es, den Aufschluss darüber seinen Lesern bis zum Ende des Romans zu verweigern, eine Auflösung gibt es nicht. Sein Kunstgriff ist so einfach wie effektiv: Harry ist ein ganz und gar säumiger Erzähler; weder schildert er linear noch lückenlos.
Seine Kindheit ist nicht einfach: Häusliche Gewalt erlebt er am eigenen Körper durch seinen Vater, einen Krüppel, und dass es im Dorf sexuellen Missbrauch gibt, weiß Harry auch. Der 13-Jährige ist psychisch angeknackst, immer wieder packt ihn scheinbar grundlos eine übermächtige Wut. In der alten Fleischfabrik, so meint er, gebe es Blutlachen und man höre immer noch das Geschrei verendender Tiere.
Andererseits ist Harry auch ein ganz normaler Junge seiner Altersstufe, ein kesser Lausebengel, den man in einem Atemzug mit Tom Sawyer oder J. D. Salingers Helden Holden Caulfield nennen möchte. Der Zwiespalt, ob Harry nun böse ist oder doch ganz harmlos, bleibt ungelöst. Natürlich gibt der Ich-Erzähler keine Auskunft darüber ab – interessanterweise lässt der Text beide Möglichkeiten offen; ein Kompliment sowohl an David Ballantynes Erzählkunst als auch an die feinfühlige Übersetzung von Gregor Hens.
Der Titel "Sydney Bridge Upside Down" ist der Name des Pferdes eines alten Mannes, ein alter Klepper, der wie sein Besitzer für den Verfall steht und für ein natürliches Beharrungsvermögen und eine gute Beobachtungsgabe. Wenn jemand weiß, was sich im Sommer 1968 in Calliope Bay wirklich zugetragen hat, dann vermutlich diese beiden Romanfiguren.
David Ballantyne wollte seinerzeit die neuseeländische Gesellschaft an den Pranger stellen: Das Land lebt im Roman wie in der Realität vom Fleischexport – Neuseelands Rindfleischproduktion ist weltweit führend -, die Idylle der Siedler Neuseelands ist längst passé. Diese Aussage nahmen ihm die einheimischen Leser zeitlebens krumm; ein richtiger Erfolg wurde "Sydney Bridge Upside Down" in Ballantynes Heimatland zunächst nicht. Inzwischen aber gehört das Buch zu den ganz großen neuseeländischen Romanen und der 1986 verstorbene Ballantyne zu Neuseelands berühmtesten Schriftstellern.
Rezensiert von Roland Krüger
David Ballantyne: Sydney Bridge Upside Down
Aus dem Neuseeländischen Englisch von Gregor Hens
Hoffmann und Campe, Hamburg 2012
333 Seiten, 19,99 Euro