Ein Teppich aus Sonnenblumenkernen
Im Rahmen der "Unilever Series" bespielen seit zehn Jahren internationale Künstler die ehemalige Turbinenhalle der Tate Modern in London. Der chinesische Künstler Ai Weiwei legte jetzt den Boden der Turbinenhalle mit 100 Millionen Sonnenblumenkernen aus - handgemacht aus Porzellan.
Von oben ähnelt es einem grauen, grob gewebten Teppich oder einem Feld. Oder ist es eine Bonsailandschaft ohne Baum im Maßstab 1:1000, die Steinchen säuberlich geharkt?
Nein, was sich da über ein Drittel des Bodens der Eingangshalle der Tate Modern ausbreitet, sind, so erfährt man, 100 Millionen Sonnenblumenkerne, aufgehäuft zu einer 10 Zentimeter dicken Schicht auf einer Fläche von 1.000 Quadratmetern.
Die Begehung des Teppichs, des Feldes, des Samenbeetes, ist ausdrücklich erwünscht. Und nur so, interaktiv, aus nächster Nähe und auf Schritt und Tritt, zeigt sich: Was da unter der Sohle knirscht, sind nicht wirklich Sonnenblumenkerne, sondern es sind Imitate: in Südchina in mühsamer Gedulds- und Fleißarbeit handgefertigte, feingeschliffene, bemalte Bruchstücke von Porzellanminiaturen.
Porzellan und China: Im Englischen benennt "China" als Synonym bekanntlich beides und damit auch die Jahrhunderte alte Tradition der Porzellanmanufaktur. Und eben das ist dieser Teppich, dieses Körnerfeld: die materielle, zigmillionenfache Verdichtung von Readymades zu Konzeptkunst "Made in China".
Doch was hat es mit den Sonnenblumenkernen auf sich? Im China der Kulturrevolution Mao Tse-Tungs war die Sonne das Propagandaemblem des Großen Vorsitzenden. Und das Volk waren die Kerne. Die Realität allerdings sah anders aus.
Für Millionen Chinesen waren Sonnenblumenschoten Jahrzehnte lang das wichtigste Grundnahrungsmittel. Aber allein der Hungersnot Ende der 1950er-Jahre fielen mehr als 30 Millionen Chinesen zum Opfer. Der unzähligen Toten der Mao-Diktatur soll hier gedacht werden – mit aus China eingeflogenen 150 Tonnen Material.
Dass für die Bespielung der Tate-Turbinenhalle jetzt die Wahl auf Ai Weiwei, Jahrgang 1957, fiel, war, so Tate-Kuratorin Juliet Bingham, kein Zufall.
"Die Zusammenarbeit mit Ai Weiwei war seit Langem geplant. Schließlich ist er heute einer der mutigsten Konzeptkünstler überhaupt. Wir waren gespannt, was er sich für uns würde einfallen lassen.
Mit zu unseren Aufgaben gehört die Präsentation der besten Gegenwartskunst, wobei wir Künstler mit den unterschiedlichsten politischen Ansichten unterstützen. Ein Leitmotiv bei Ai Weiwei ist die freie Meinungsäußerung. Hier äußert er sich besonders vielschichtig, aus historischer und aktueller Perspektive."
"Sunflower Seeds" nennt Ai sein Environment. Die Installation ist vieles in einem: Protest gegen die sozialen und politischen Verhältnisse in China, Auseinandersetzung mit der Geschichte des Landes, Erinnerungsarbeit und Ermutigung. Die Arbeit fragt: Welche Rolle spielt das Individuum in der modernen Gesellschaft? Was wäre die Masse ohne den Einzelnen? Sind wir nur gemeinsam stark?
Anders als die meisten seiner Vorgänger in der "Unilever Series" der Tate setzt Ai damit ein deutliches politisches Signal. Seine "Sonnenblumenkerne" sind die kollektive Metapher des engagierten Dissidenten, der die Charta 08 mitunterzeichnet hat und der dem Regime in Peking als Künstler seit Langem ein Dorn im Auge ist. Die Verleihung des Friedensnobelpreises an Liu Xiaobo begrüßte Ai in London ausdrücklich.
"Was wir in China brauchen, sind viele Lius und Ai Weiweis. Die Initiative muss von Einzelnen ausgehen. Ohne das Bewusstsein möglichst vieler Einzelpersonen ist der demokratische Wandel in China nicht zu schaffen."
Seit Eröffnung der Tate Modern vor zehn Jahren hat ihre Lobby sich zu einer Mehrzweckarena der Moderne entwickelt, zu einer Show-Bühne der Kunst, aber auch zu einem Pubklikumsmagneten der Superlative, zu einem Spiel- und Rummelplatz, wo die Kunst einfach nur Spaß machen darf – und das bei freiem Eintritt. Mehr als 22 Millionen Besucher tummelten sich bisher in und unter und auf den Installationen der "Unilever"-Serie.
Dass bei so viel Spektakel das sozial- und regimekritische Anliegen eines Ai Weiwei zu kurz kommen könne, diese Gefahr sieht Juliet Bingham nicht. Ganz im Gegenteil, meint die Kuratorin:
"Das partizipatorische Element ist uns sehr, sehr wichtig. Aber die Besucher sollen sich in der Halle in erster Linie wohlfühlen. Für 'Sunflower Seeds' haben wir Video- und Computerterminals aufgestellt, über die der Besucher sich persönlich an Ai Weiwei wenden kann, auch und gerade mit Fragen zu den Inhalten und Absichten seiner Kunst."
Nein, was sich da über ein Drittel des Bodens der Eingangshalle der Tate Modern ausbreitet, sind, so erfährt man, 100 Millionen Sonnenblumenkerne, aufgehäuft zu einer 10 Zentimeter dicken Schicht auf einer Fläche von 1.000 Quadratmetern.
Die Begehung des Teppichs, des Feldes, des Samenbeetes, ist ausdrücklich erwünscht. Und nur so, interaktiv, aus nächster Nähe und auf Schritt und Tritt, zeigt sich: Was da unter der Sohle knirscht, sind nicht wirklich Sonnenblumenkerne, sondern es sind Imitate: in Südchina in mühsamer Gedulds- und Fleißarbeit handgefertigte, feingeschliffene, bemalte Bruchstücke von Porzellanminiaturen.
Porzellan und China: Im Englischen benennt "China" als Synonym bekanntlich beides und damit auch die Jahrhunderte alte Tradition der Porzellanmanufaktur. Und eben das ist dieser Teppich, dieses Körnerfeld: die materielle, zigmillionenfache Verdichtung von Readymades zu Konzeptkunst "Made in China".
Doch was hat es mit den Sonnenblumenkernen auf sich? Im China der Kulturrevolution Mao Tse-Tungs war die Sonne das Propagandaemblem des Großen Vorsitzenden. Und das Volk waren die Kerne. Die Realität allerdings sah anders aus.
Für Millionen Chinesen waren Sonnenblumenschoten Jahrzehnte lang das wichtigste Grundnahrungsmittel. Aber allein der Hungersnot Ende der 1950er-Jahre fielen mehr als 30 Millionen Chinesen zum Opfer. Der unzähligen Toten der Mao-Diktatur soll hier gedacht werden – mit aus China eingeflogenen 150 Tonnen Material.
Dass für die Bespielung der Tate-Turbinenhalle jetzt die Wahl auf Ai Weiwei, Jahrgang 1957, fiel, war, so Tate-Kuratorin Juliet Bingham, kein Zufall.
"Die Zusammenarbeit mit Ai Weiwei war seit Langem geplant. Schließlich ist er heute einer der mutigsten Konzeptkünstler überhaupt. Wir waren gespannt, was er sich für uns würde einfallen lassen.
Mit zu unseren Aufgaben gehört die Präsentation der besten Gegenwartskunst, wobei wir Künstler mit den unterschiedlichsten politischen Ansichten unterstützen. Ein Leitmotiv bei Ai Weiwei ist die freie Meinungsäußerung. Hier äußert er sich besonders vielschichtig, aus historischer und aktueller Perspektive."
"Sunflower Seeds" nennt Ai sein Environment. Die Installation ist vieles in einem: Protest gegen die sozialen und politischen Verhältnisse in China, Auseinandersetzung mit der Geschichte des Landes, Erinnerungsarbeit und Ermutigung. Die Arbeit fragt: Welche Rolle spielt das Individuum in der modernen Gesellschaft? Was wäre die Masse ohne den Einzelnen? Sind wir nur gemeinsam stark?
Anders als die meisten seiner Vorgänger in der "Unilever Series" der Tate setzt Ai damit ein deutliches politisches Signal. Seine "Sonnenblumenkerne" sind die kollektive Metapher des engagierten Dissidenten, der die Charta 08 mitunterzeichnet hat und der dem Regime in Peking als Künstler seit Langem ein Dorn im Auge ist. Die Verleihung des Friedensnobelpreises an Liu Xiaobo begrüßte Ai in London ausdrücklich.
"Was wir in China brauchen, sind viele Lius und Ai Weiweis. Die Initiative muss von Einzelnen ausgehen. Ohne das Bewusstsein möglichst vieler Einzelpersonen ist der demokratische Wandel in China nicht zu schaffen."
Seit Eröffnung der Tate Modern vor zehn Jahren hat ihre Lobby sich zu einer Mehrzweckarena der Moderne entwickelt, zu einer Show-Bühne der Kunst, aber auch zu einem Pubklikumsmagneten der Superlative, zu einem Spiel- und Rummelplatz, wo die Kunst einfach nur Spaß machen darf – und das bei freiem Eintritt. Mehr als 22 Millionen Besucher tummelten sich bisher in und unter und auf den Installationen der "Unilever"-Serie.
Dass bei so viel Spektakel das sozial- und regimekritische Anliegen eines Ai Weiwei zu kurz kommen könne, diese Gefahr sieht Juliet Bingham nicht. Ganz im Gegenteil, meint die Kuratorin:
"Das partizipatorische Element ist uns sehr, sehr wichtig. Aber die Besucher sollen sich in der Halle in erster Linie wohlfühlen. Für 'Sunflower Seeds' haben wir Video- und Computerterminals aufgestellt, über die der Besucher sich persönlich an Ai Weiwei wenden kann, auch und gerade mit Fragen zu den Inhalten und Absichten seiner Kunst."