Ein tief berührendes Buch
Über mehr als ein halbes Jahrhundert hat Christa Wolf an jedem 27. September den Tag protokolliert. Dieser Band enthält die Aufzeichnungen aus den Jahren 2001 bis 2011. Nie kam man der Schriftstellerin so nahe wie in diesen Notizen.
Über mehr als ein halbes Jahrhundert, von 1960 bis in ihr Todesjahr 2011, hat Christa Wolf an jedem 27. September den Tag protokolliert. Aus der Perspektive ihres Alltags und ihres subjektiven Erlebens entstand so eine wohl einzigartige Geschichtsbetrachtung. Begonnen hatte es mit einem Aufruf der Moskauer Zeitung "Iswestija" an die Schriftsteller der Welt, den 27. September 1960 zu schildern. Dass Christa Wolf dann aber Jahr für Jahr und nur für sich selbst damit weitermachte, war ihr eigener Entschluss. Diese Tagesmitschriften wurden ihr zu einer mal lästigen, mal erfreulichen Pflicht. Man könnte aus jedem Tag eine Erzählung machen, hat sie einmal gesagt. Ihr 27. September bietet dazu Jahr für Jahr die Probe aufs Exempel, auch wenn diese Mitschriften nicht "Erzählung" sein sollen und können.
Der erste Band, der die Jahre 1960 bis 2000 umfasst, erschien 2003. Nun kommt posthum ein schmalerer Band mit den Jahren 2001 bis 2011 dazu, Jahre, die von Krankheiten, depressiven Stimmungen, Müdigkeit, zunehmender Schwäche und Vergesslichkeit und der Auseinandersetzung mit dem Tod geprägt sind. Der Wechsel zum Suhrkamp Verlag spielt darin eine Rolle, weil Christa Wolf die Vertragsunterschrift wohl nicht ganz zufällig auf den 27.9. legte, und weil die Verlegerin Ulla Unseld-Berkéwicz an einem 27.9. anrief. "Sie will also in den Text", notierte Christa Wolf und gestattete es ihr gerne. Der Wechsel zieht sich über mehrere Jahre hin, denn alles dauert länger im Alter. Auch der 2006 beschlossene Wechsel zum Stromanbieter "Lichtblick" wird erst im Jahr darauf vollzogen, als wäre der 27. September auch ein Tag, an dem Bilanz gezogen und Aufgeschobenes endlich erledigt wird.
Der "Tag im Jahr" war für Christa Wolf ein Ritual, das, wie der Alltag generell, dem Leben eine Struktur gab. Am Alltäglichen mit seinen oft auch quälenden Pflichten und Abläufen hielt sie sich fest, wenn Fernsehen und Zeitungen von den fortgesetzten Katastrophen in der Welt berichteten, die für sie sehr schnell apokalyptische Dimensionen annahmen. Andererseits drohte der Alltag das Leben ins Vergessen zu reißen und auszulöschen, und so kämpfte sie schreibend an gegen "Vergänglichkeit und Vergeblichkeit als Zwillingsschwestern". Dahinter leuchtet am Horizont aber immer die Zeitgeschichte im Jahr 2001 beispielsweise liegt der Anschlag auf das World Trade Center in New York erst gut 14 Tage zurück.
Doch die Welt mit ihrer Geschichtsdramatik entfernt sich immer weiter in diesem letzten Jahrzehnt, und immer schwerer wird es, das, was da aus dem Fernseher dringt, noch mit dem nötigen politischen Ernst zu durchdringen auch wenn Christa Wolf bis zuletzt nicht damit aufhörte, sich dafür zu interessieren und die letzte, handschriftliche Notiz, zwei Monate vor ihrem Tod, mit einer Überschrift aus der "BZ" endet: "Es wird laut am Müggelsee". Ihr Leiden, ihren Schmerz, ihre Krankheiten hat sie immer öffentlich gemacht, weil es ein Leiden an der Gesellschaft gewesen ist. Doch nie kam man ihr so nahe wie in diesen Notizen. Nun hat das Leiden keine politische Dimension mehr. Nun ist nur noch zunehmende Schwäche zum Tode hin. Der Tod ist immer gegenwärtig in diesen Jahren, und mit ihm die Frage: "Wozu".
Trotz zahlreicher Operationen und Krankenhausaufenthalten schrieb sie mit großer Disziplin an ihrem letzten Roman "Stadt der Engel". Wie ein unüberwindliches Gebirge türmte sich diese Arbeit vor ihr auf. Auch davon handelt der "Tag im Jahr im neuen Jahrhundert" ein in seiner Ungeschütztheit und Todeserwartung tief berührendes Buch. "Ich wäre nicht untröstlich, wenn ich nicht mehr schreiben würde", schreibt Christa Wolf am Ende des 27.9.2010. Da hat sie dann auch die "Stadt der Engel" schon hinter sich und schließlich dann doch eine zufrieden Gelassenheit erreicht.
Besprochen von Jörg Magenau
Christa Wolf: Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013
162 Seiten, 17,95 Euro
Der erste Band, der die Jahre 1960 bis 2000 umfasst, erschien 2003. Nun kommt posthum ein schmalerer Band mit den Jahren 2001 bis 2011 dazu, Jahre, die von Krankheiten, depressiven Stimmungen, Müdigkeit, zunehmender Schwäche und Vergesslichkeit und der Auseinandersetzung mit dem Tod geprägt sind. Der Wechsel zum Suhrkamp Verlag spielt darin eine Rolle, weil Christa Wolf die Vertragsunterschrift wohl nicht ganz zufällig auf den 27.9. legte, und weil die Verlegerin Ulla Unseld-Berkéwicz an einem 27.9. anrief. "Sie will also in den Text", notierte Christa Wolf und gestattete es ihr gerne. Der Wechsel zieht sich über mehrere Jahre hin, denn alles dauert länger im Alter. Auch der 2006 beschlossene Wechsel zum Stromanbieter "Lichtblick" wird erst im Jahr darauf vollzogen, als wäre der 27. September auch ein Tag, an dem Bilanz gezogen und Aufgeschobenes endlich erledigt wird.
Der "Tag im Jahr" war für Christa Wolf ein Ritual, das, wie der Alltag generell, dem Leben eine Struktur gab. Am Alltäglichen mit seinen oft auch quälenden Pflichten und Abläufen hielt sie sich fest, wenn Fernsehen und Zeitungen von den fortgesetzten Katastrophen in der Welt berichteten, die für sie sehr schnell apokalyptische Dimensionen annahmen. Andererseits drohte der Alltag das Leben ins Vergessen zu reißen und auszulöschen, und so kämpfte sie schreibend an gegen "Vergänglichkeit und Vergeblichkeit als Zwillingsschwestern". Dahinter leuchtet am Horizont aber immer die Zeitgeschichte im Jahr 2001 beispielsweise liegt der Anschlag auf das World Trade Center in New York erst gut 14 Tage zurück.
Doch die Welt mit ihrer Geschichtsdramatik entfernt sich immer weiter in diesem letzten Jahrzehnt, und immer schwerer wird es, das, was da aus dem Fernseher dringt, noch mit dem nötigen politischen Ernst zu durchdringen auch wenn Christa Wolf bis zuletzt nicht damit aufhörte, sich dafür zu interessieren und die letzte, handschriftliche Notiz, zwei Monate vor ihrem Tod, mit einer Überschrift aus der "BZ" endet: "Es wird laut am Müggelsee". Ihr Leiden, ihren Schmerz, ihre Krankheiten hat sie immer öffentlich gemacht, weil es ein Leiden an der Gesellschaft gewesen ist. Doch nie kam man ihr so nahe wie in diesen Notizen. Nun hat das Leiden keine politische Dimension mehr. Nun ist nur noch zunehmende Schwäche zum Tode hin. Der Tod ist immer gegenwärtig in diesen Jahren, und mit ihm die Frage: "Wozu".
Trotz zahlreicher Operationen und Krankenhausaufenthalten schrieb sie mit großer Disziplin an ihrem letzten Roman "Stadt der Engel". Wie ein unüberwindliches Gebirge türmte sich diese Arbeit vor ihr auf. Auch davon handelt der "Tag im Jahr im neuen Jahrhundert" ein in seiner Ungeschütztheit und Todeserwartung tief berührendes Buch. "Ich wäre nicht untröstlich, wenn ich nicht mehr schreiben würde", schreibt Christa Wolf am Ende des 27.9.2010. Da hat sie dann auch die "Stadt der Engel" schon hinter sich und schließlich dann doch eine zufrieden Gelassenheit erreicht.
Besprochen von Jörg Magenau
Christa Wolf: Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013
162 Seiten, 17,95 Euro