Ein tief berührendes Journal
Es muss eine Zeit gegeben haben, in der jeder, der sich für Literatur interessierte, wusste, was Strukturalismus ist. Strukturalisten begegneten der Literatur nicht einfühlsam, sondern kühl. Sie achteten weniger auf den Inhalt von Romanen als auf die Strukturen von Sprache und Texten. Und all dies nicht nur in der Universität; der Strukturalismus strahlte auch in Cafés, Salons oder Kinos aus.
Roland Barthes, neben Claude Lévi-Strauss, Jacques Lacan oder Michel Foucault einer der bleibenden Denker jener Zeit, lieferte mit seinem Essay "Der Tod des Autors" (1968) ein zentrales Stichwort. Auf wenigen Seiten entfaltet er da die Idee, dass der Autor nicht als Autorität taugt, um den Sinn eines Textes festzustellen – und klagt über die handelsübliche, auf Stars fixierte Literaturkritik. Heute sind diese Überlegungen noch triftiger als damals. Doch die übertriebene, bildhafte Formel des Titels wurde rasch zum hohlen Slogan im intellektuellen Schlachtgetümmel: Der Autor ist tot, es lebe der Autor ...
"... dass dieser Tod mich nicht vollständig vernichtet, heißt, dass ich entschlossen bin zu leben, verzweifelt, wahnsinnig entschlossen, und dass deshalb die Angst vor meinem eigenen Tod ständig da ist". Der Tod, von dem Roland Barthes in seinem "Tagebuch des Trauer" schreibt, hat nichts Hohles. Er ist real.
Ein Bruch. Am 25. Oktober 1977 stirbt seine Mutter Henriette im Alter von 84 Jahren. Er, der Sohn, ist damals 61. Sein Leben lang, abgesehen von einigen Auslandsaufenthalten, hat er die Wohnung mit ihr geteilt; hat in den letzten Monaten ihren kranken Körper gepflegt. Am Tag nach ihrem Tod beginnt er, einzelne Sätze niederzuschreiben, Gedankensplitter, Gefühlsregungen. Jetzt, 30 Jahre nach Roland Barthes' eigenem Tod, ist aus diesen Notizzetteln ein Buch geworden – ein tief berührendes Journal.
Der Hinterbliebene taumelt durch Unglück und Fassungslosigkeit, betrauert und verklärt die geliebte Mutter. Wie ihren Geburtstag begehen? Wie den ersten eigenen Geburtstag ohne sie verbringen? Ihre letzten Worte, "mein R, mein R", gehen ihm nicht aus dem Kopf. Und als er die Wohnung herrichtet, denkt er: "Von nun an und für immer bin ich meine eigene Mutter." Gleich zu Beginn kommen ihm Schriftsteller-Skrupel: "Indem ich diese Notizen mache, überlasse ich mich meiner inneren Banalität."
Man könnte, was Barthes banal findet, auch elementar nennen: Warum sollten dem Meisterdenker angesichts des Todes grundsätzlich anderes durch Kopf und Herz rauschen als anderen Hinterbliebenen?
Das Besondere an diesem Buch ist dennoch etwas anderes. Es besteht darin, dass Barthes das Elementare in Bewegung bringt. "Heftiger Anfall von Kummer. Ich weine", schreibt er am 12. Juni 1978. Und einen Tag später: "Die Trauer (den Kummer) nicht unterdrücken (törichter Gedanke, dass die Zeit sie überwindet), sondern sie verändern, transformieren, sie aus einem statischen Zustand ( ... ) in einen flüssigen Zustand überführen."
So finden sich während der knapp zwei Jahre, über die sich das Tagebuch erstreckt, immer wieder Gedankenbewegungen, die, obwohl sie aus der Intimität des Autors kommen, über seine Person hinausweisen. Etwa über die Abfolge der Generationen: "Die Wahrheit der Trauer ist ganz einfach: Jetzt, da Mam. tot ist, treibt es mich zum Tod (nur die Zeit trennt mich noch von ihm)."
Oder über die Bindung zur Mutter: "Viele Menschen lieben mich noch, doch von nun an wird mein Tod niemanden mehr töten." Oder über die Frage, wo die Toten bleiben: "In dem Satz 'Sie leidet nicht mehr', worauf, auf wen bezieht sich 'sie'? Was bedeutet dieses Präsens?" Jede Seite dieses Buches zeugt vom zähen Ringen nach Sprache für das Unaussprechliche.
Nicht zuletzt werfen diese Notizen – denn der Autor ist ja tot – neue Schlaglichter auf Barthes' Werk. Sein letztes Buch etwa, "Die helle Kammer" (1980), stellt engste Zusammenhänge zwischen Fotografie und Tod her. Jetzt weiß man: Roland Barthes hat hier nicht trocken theoretisiert, sondern in empathischer Weise von diesem Zusammenhang gewusst. "Am Morgen begonnen, ihre Photos zu betrachten", schreibt er ins Tagebuch. "Erneut beginnt (ohne dass sie doch aufgehört hätte) eine namenlose Trauer."
Besprochen von René Aguigah
Roland Barthes: Tagebuch der Trauer
Texterstellung von Natalie Léger
Aus dem Französischen von Horst Brühmann
Hanser Verlag, München 2010
272 Seiten, 21,50 Euro
"... dass dieser Tod mich nicht vollständig vernichtet, heißt, dass ich entschlossen bin zu leben, verzweifelt, wahnsinnig entschlossen, und dass deshalb die Angst vor meinem eigenen Tod ständig da ist". Der Tod, von dem Roland Barthes in seinem "Tagebuch des Trauer" schreibt, hat nichts Hohles. Er ist real.
Ein Bruch. Am 25. Oktober 1977 stirbt seine Mutter Henriette im Alter von 84 Jahren. Er, der Sohn, ist damals 61. Sein Leben lang, abgesehen von einigen Auslandsaufenthalten, hat er die Wohnung mit ihr geteilt; hat in den letzten Monaten ihren kranken Körper gepflegt. Am Tag nach ihrem Tod beginnt er, einzelne Sätze niederzuschreiben, Gedankensplitter, Gefühlsregungen. Jetzt, 30 Jahre nach Roland Barthes' eigenem Tod, ist aus diesen Notizzetteln ein Buch geworden – ein tief berührendes Journal.
Der Hinterbliebene taumelt durch Unglück und Fassungslosigkeit, betrauert und verklärt die geliebte Mutter. Wie ihren Geburtstag begehen? Wie den ersten eigenen Geburtstag ohne sie verbringen? Ihre letzten Worte, "mein R, mein R", gehen ihm nicht aus dem Kopf. Und als er die Wohnung herrichtet, denkt er: "Von nun an und für immer bin ich meine eigene Mutter." Gleich zu Beginn kommen ihm Schriftsteller-Skrupel: "Indem ich diese Notizen mache, überlasse ich mich meiner inneren Banalität."
Man könnte, was Barthes banal findet, auch elementar nennen: Warum sollten dem Meisterdenker angesichts des Todes grundsätzlich anderes durch Kopf und Herz rauschen als anderen Hinterbliebenen?
Das Besondere an diesem Buch ist dennoch etwas anderes. Es besteht darin, dass Barthes das Elementare in Bewegung bringt. "Heftiger Anfall von Kummer. Ich weine", schreibt er am 12. Juni 1978. Und einen Tag später: "Die Trauer (den Kummer) nicht unterdrücken (törichter Gedanke, dass die Zeit sie überwindet), sondern sie verändern, transformieren, sie aus einem statischen Zustand ( ... ) in einen flüssigen Zustand überführen."
So finden sich während der knapp zwei Jahre, über die sich das Tagebuch erstreckt, immer wieder Gedankenbewegungen, die, obwohl sie aus der Intimität des Autors kommen, über seine Person hinausweisen. Etwa über die Abfolge der Generationen: "Die Wahrheit der Trauer ist ganz einfach: Jetzt, da Mam. tot ist, treibt es mich zum Tod (nur die Zeit trennt mich noch von ihm)."
Oder über die Bindung zur Mutter: "Viele Menschen lieben mich noch, doch von nun an wird mein Tod niemanden mehr töten." Oder über die Frage, wo die Toten bleiben: "In dem Satz 'Sie leidet nicht mehr', worauf, auf wen bezieht sich 'sie'? Was bedeutet dieses Präsens?" Jede Seite dieses Buches zeugt vom zähen Ringen nach Sprache für das Unaussprechliche.
Nicht zuletzt werfen diese Notizen – denn der Autor ist ja tot – neue Schlaglichter auf Barthes' Werk. Sein letztes Buch etwa, "Die helle Kammer" (1980), stellt engste Zusammenhänge zwischen Fotografie und Tod her. Jetzt weiß man: Roland Barthes hat hier nicht trocken theoretisiert, sondern in empathischer Weise von diesem Zusammenhang gewusst. "Am Morgen begonnen, ihre Photos zu betrachten", schreibt er ins Tagebuch. "Erneut beginnt (ohne dass sie doch aufgehört hätte) eine namenlose Trauer."
Besprochen von René Aguigah
Roland Barthes: Tagebuch der Trauer
Texterstellung von Natalie Léger
Aus dem Französischen von Horst Brühmann
Hanser Verlag, München 2010
272 Seiten, 21,50 Euro