Ein tief erschütterter Richter

Rezensiert von Ralph Gerstenberg |
Mit dem ersten Auschwitz-Prozess in den Jahren 1963 bis 1965 wurde die verdrängte deutsche Nazi-Vergangenheit zum öffentlichen Thema. Die Monstrosität der Verbrechen konnte die Justiz allerdings nicht erfassen und auch nicht ahnden.
Am Ende der Urteilsverkündung kämpfte der Vorsitzende Richter mit den Tränen. 182 Verhandlungstage hatten Hans Hofmeyer erschüttert – nicht nur ihn, auch die deutsche Öffentlichkeit.

Hans Hofmeyer: "Es wird wohl mancher unter uns sein, der auf lange Zeit nicht mehr in die frohen und gläubigen Augen eines Kindes sehen kann, ohne dass im Hintergrund und im Geist ihm die hohlen, fragenden und verständnislosen, angsterfüllten Augen der Kinder auftauchen, die dort in Auschwitz ihren letzten Weg gegangen sind."

Das Bild einer in ihren Ausmaßen unvorstellbaren Vernichtungsmaschinerie, in der 1,2 Millionen Menschen, in der Mehrzahl Juden, von fast 8000 SS-Angehörigen auf bestialische Weise gequält und ermordet wurden, hatte die bundesdeutsche Gegenwart erreicht.

Ausgangspunkt war die Strafanzeige eines früheren Häftlings aus dem Jahre 1958 gegen einen SS-Oberscharführer, dem schwerste Verbrechen während seiner Zeit im Vernichtungslager Auschwitz vorgeworfen wurden.

Dem Drängen des Hessischen Generalstaatsanwalts Fritz Bauer sowie des Präsidenten des Internationalen Auschwitzkomitees Hermann Langbein war es zu verdanken, dass weitere Klagen gegen Einzelpersonen zusammengeführt wurden. Schließlich mussten sich 22 Angeklagte verantworten.

Das sei nicht unproblematisch gewesen, erklärt Devin O. Pendas in seinem Buch, denn Völkermord oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit waren im deutschen Strafrecht als Tatbestände nicht verankert.

"Dem deutschen Strafrecht fehlte der begriffliche Apparat, um den systematischen, staatlich betriebenen, bürokratisch organisierten Massenmord strafrechtlich zu erfassen und um zu einem darauf bezogenen, angemessenen Urteil zu gelangen."

Bereits die Frage, ob es sich bei den Taten um Mord oder Totschlag gehandelt habe, stellte das Gericht vor erhebliche Herausforderungen. Pendas beschreibt die Unterschiede der deutschen Gesetzgebung zur amerikanischen.

So sei im deutschen Recht nicht bereits die "bewusste Absicht" ausreichend, um ein Tötungsdelikt als Mord einzustufen, vielmehr seien "Mordlust" oder andere "niedrige Beweggründe" nachzuweisen, "Heimtücke", "Grausamkeit" beziehungsweise "die Absicht, andere Straftaten zu ermöglichen oder zu vertuschen". Dieser Nachweis sei für den Auschwitz-Prozess von größter Bedeutung gewesen, weil der Strafvorwurf des Totschlages bereits verjährt gewesen sei.

"Nach 1960 mussten die Anklagebehörden, um eine Verurteilung zu erreichen, also beweisen, dass ein NS-Verbrechen die besonderen Kriterien für Mord erfüllte. Damit wurde es viel schwieriger, NS-Verbrecher zu verurteilen, schließlich reichte nun der Nachweis, dass die Angeklagten einen oder tausende Menschen getötet hatten, nicht mehr aus."

Cover - "Der Auschwitz-Prozess" von Devin O. Pendas
Cover - "Der Auschwitz-Prozess" von Devin O. Pendas© Siedler-Verlag
Mörder und Mordgehilfen erschienen als grundsolide Bundesbürger
Neben der Vorgeschichte und den historischen und rechtlichen Rahmenbedingungen beschreibt Devin O. Pendas die Akteure im größten Strafprozess der deutschen Nachkriegsgeschichte, der am 20. Dezember 1963 im Sitzungssaal des Frankfurter Rathauses, dem so genannten Römer, begann.

Die Angeklagten, die als grundsolide Bundesbürger und Familienväter erschienen, wiesen jede Schuld von sich. Sie hätten nur Befehle ausgeführt und nichts gewusst. So antwortete auch Robert Mulka, der ehemalige Adjutant des Lagerkommandanten Rudolf Höß, als Staatsanwalt Joachim Kügler ihn befragte.

Kügler: "Ich frage Sie nun, ob Sie davon gewusst haben, dass die Leute mit den Lastkraftwagen zu den Gaskammern ..."
Mulka: "Davon bekam ich keine Kenntnis."
Kügler: "Sie wollen also sagen, Sie haben damals, als Sie Adjudant waren, nicht gewusst, dass die Lastkraftwagen eingesetzt wurden, um die zur Vergasung Bestimmten zu den Gaskammern zu fahren?"
Mulka: "Nein, man fragte mich nicht danach."
Kügler: "Sie haben es nicht gewusst, wollen Sie sagen?"
Mulka: "Nein!"

Die überlebenden Opfer, stellt der Historiker fest, hätten im Gerichtssaal die Erfahrung machen müssen, dass es ein Unterschied sei, Zeugnis abzulegen oder Zeuge zu sein. Die Gräueltaten, von denen sie berichteten, seien von der Verteidigung angezweifelt oder als Übertreibungen hingestellt worden.

Je mehr jemand von seinen Erinnerungen aufgewühlt, von seinen Gefühlen überwältigt wurde, desto weniger juristisch verwertbar sei dessen Aussage gewesen. Auch auf die Genauigkeit der Angaben habe das Gericht drängen müssen, was angesichts des unvorstellbaren Leides und der Lagersituation als pedantisch erschienen sei.

"Weil die Häftlinge in Auschwitz weder Uhren noch Kalender besessen hatten und weil zwischen den Ereignissen und ihren Aussagen 20 Jahre lagen, ist man geneigt, dieses Insistieren für unangemessen zu halten. Doch es gehörte zum juristischen Charakter der Verhandlungen. Das Gericht hatte gar keine Wahl, es musste mehr von den Zeugen verlangen, als man vernünftigerweise von ihnen erwarten konnte."

Am Ende wurde das Urteil als zu milde empfunden: drei Freisprüche, sechsmal lebenslänglich, weitere Haftstrafen zwischen dreieinhalb und 14 Jahren. Doch das Schwurgericht im Frankfurter Römer, so Devin O. Pendas, habe sich um Gerechtigkeit bemüht - im Rahmen des deutschen Rechts.

"Gemessen an diesen Voraussetzungen war es ein 'faires Verfahren', obwohl es, wie viele Kommentatoren betonten, schwerfiel, sein Ergebnis als 'gerecht' im weitesten Sinne des Wortes zu bezeichnen."

Auch wenn der Auschwitz-Prozess die Monstrosität der Verbrechen nicht juristisch abbilden konnte, das Schweigen über die Schuld und die Schuldigen am Völkermord habe er ein für alle Mal gebrochen. In seinem bereits 2006 in den USA erschienenen Buch dokumentiert und kommentiert Devin O. Pendas das Frankfurter Verfahren kenntnisreich und ausführlich.

Es verwundert ein wenig, dass er weder auf die folgenden Auschwitz-Prozesse noch auf den Einfluss der Verhandlungen auf die Studentenbewegung eingeht. Dafür zeigt er auf profunde Weise, wie die bundesrepublikanische Gesellschaft vor fünfzig Jahren im Gerichtssaal mit ihrer verdrängten Vergangenheit konfrontiert wurde.

Devin O. Pendas: Der Auschwitz-Prozess - Völkermord vor Gericht
Aus dem Amerikanischen von Klaus Binder
Siedler-Verlag, München 2013 432 Seiten, 24,99 Euro, auch als E-Book erhältlich


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