"Ein total ausfabuliertes Paralleluniversum"

Moderation: Liane von Billerbeck |
Für die Literaturkritikerin Sigrid Löffler ist das Erfolgsgeheimnis der Harry-Potter-Bücher, dass sie von Alt und Jung gelesen werden. "Es spricht alle Generationen an", sagte Löffler vor dem weltweiten Verkaufsstart des letzten Harry-Potter-Romans in der Nacht zum Samstag. Die Kritikerin wies zudem auf die politische Dimension der Bücher hin: " Wenn man die ganze Welt des Zaubereiministeriums in London anschaut, dann fühlt man sich sofort in die Agentenwelt des John Le Carré versetzt", sagte die bekennende Potter-Leserin.
Liane von Billerbeck Im Studio ist jetzt unsere Literaturkritikerin Sigrid Löffler. Frau Löffler, ins Netz waren ja 759 Seiten des neuen Bandes eingestellt worden, die zuvor angeblich mit einer Digitalkamera abfotografiert worden sind: Und die Zeitung mit den vier großen Buchstaben hat das Ende des siebten Bandes abgebildet, das da in Spiegelschrift zu lesen war. Haben Sie sich vor den Spiegel gestellt und – bitte – was gesehen?

Sigrid Löffler: Ja, natürlich habe ich mir auch einen Spiegel besorgt und das angeguckt. Die sogenannten Geheimnisse, die da verraten worden sind, waren absolut läppisch, und man hat sich das auch wirklich schenken können. Aber was ist denn von einem bekannten Literaturfachblatt wie der Bildzeitung überhaupt anderes zu erwarten?

Was mich viel mehr eigentlich gestört hat, war, dass die New York Times, die sich doch sonst immer auf ihre journalistische Ethik so viel zu Gute hält, sich nicht zu gut dafür war, die Sperrfrist zu durchbrechen und unter wirklich Umgehung jedes journalistischen Anstands schon zwei Tage vor der Sperrfrist eine Rezension in die Zeitung zu rücken.

Von Billerbeck Das ist ein bisschen so, als hätte der Rezensent Lesequalitäten wie Kim …, der ja angeblich vier Zeilen auf einmal lesen konnte, also fast 800 Seiten in so kurzer Zeit zu lesen, das ist ja einfach absurd.

Löffler: Ja, ich denke, wir erleben das ja von Band zu Band, das ist eine sich immer mehr perfektionierende Marketingstrategie, die eine kalkulierte Steigerungsdramaturgie hat. Die beginnt schon ein halbes oder dreiviertel Jahr, bevor der neue Band erscheint, und es wird die Erwartungshaltung, das Erwartungsfieber, immer mehr angeheizt.

Gemeinsam natürlich vom Verlag, Buchhandel und Medien, die arbeiten da Hand in Hand, um das Erwartungsfieber immer mehr anzuheizen. Und das besteht aus einem Doppelspiel eigentlich, aus Geheimhaltung und angeblichen Geheimnisverrat. Und ich denke, dass auch dieser angebliche Geheimnisverrat durchaus ein Teil dieser gezielten Werbestrategie ist.

Von Billerbeck Um jeden der letzten drei bis vier Bände – wir erinnern uns, der erste Band ist ja mit 500 Exemplaren gestartet, also ganz wenig, jetzt sind wir irgendwie bei 12 Millionen – um jeden der letzten drei, vier Bände gab es ja kurz vor Erscheinen immer ein großes Raunen. Und in Internetforen wird sehr viel spekuliert, derzeit unter anderem auch über die deutsche oder mögliche deutsche Bedeutung des englischen Titels. "Harry Potter and the Deathly Hallows". Wie würden Sie ihn denn auf Deutsch nennen?

Löffler: "… the Deathly Hallows". Hallows sind heilige Geister, tödliche Geister, wir werden sehen, was für ein Wort dafür gefunden worden ist, vor allem weiß ich ja noch nicht, was "deathly hallows" überhaupt im Roman, Imaginarium oder im Romankosmos der Joanne Rowling zu bedeuten hat. Das sind ja Dinge, Fetische, Talismane, die da vorkommen werden.

Von Billerbeck Mal ganz abgesehen von der geschickten Vermarktung ist Harry Potter ja dennoch irgendwie eines der größten, literarischen Phänomene des 21. Jahrhunderts, jedenfalls bisher. Wie erklären Sie sich denn diese weltweite Begeisterung über Kulturen hinweg?

Löffler: Also, man muss auseinanderhalten den Drumherummel der Werbebranche und die Bücher selber. Ich denke, dass die Harry Potter-Bücher, das darf man nicht vergessen, die waren ursprünglich ein naturwüchsiger Bucherfolg und kein marktgemachter, kein marketinggenerierter. Sie waren also nicht ursprünglich, nicht das Ergebnis irgendeiner durchtriebenen Bestseller-Engineering-Veranstaltung, sondern die Potter-Bücher waren zunächst mal, … wurden gelesen, wurden von ihren Lesern entdeckt und nicht von den Marktstrategen und sie wurden von den Lesern ganz altmodisch ins Herz geschlossen und weiterempfohlen.

Allerdings wurden sie weiterempfohlen im Internet. Da gab es dann bald Fan-Seiten auf den Websites im Internet, und da wurde dann eigentlich erst, wurden die Marktstrategen aufmerksam. Die haben das dann in die Hand genommen und dann natürlich durchkalkuliert, durchgeplant und weltweit vermarktet.

In dem Augenblick, wo Time Warner die Filmrechte und die Merchandisingrechte gekauft hat, war es ganz klar, dass das ein globalisierter, multimedialer und transkontinentaler Erfolg werden muss. Aber ursprünglich waren es die Leser selber, die dieses Buch entdeckt haben. Jetzt natürlich ist das ein global gesteuerter Werbeerfolg, das ist geradezu das Paradebeispiel für die Funktionsweisen globalisierter Marktstrategien.

Von Billerbeck Die Leser haben es ins Herz geschlossen, sagten Sie, Frau Löffler. Haben Sie Harry Potter eigentlich auch ins Herz geschlossen und wenn ja, wann?

Löffler: Ja, ich habe das natürlich vom ersten Band an gelesen, ich bin ja ein bekennender Tolkien-Liebhaber, habe dieses Buch auch schon vor 40 oder noch mehr Jahren entdeckt, da hat mich dieses Buch natürlich auch interessiert. Und das Geheimnis dieses Harry Potter-Erfolges ist, dass es ein sogenanntes All-Age-Buch ist, also, es spricht alle Generationen an, die Kinder, die jungen Erwachsenen, aber auch deren Eltern und Großeltern. Und es kann …

Eigentlich können diese Potterbücher können auf jeder Ebene gelesen werden und bringen auch den Lesern Lust oder Vergnügen auf jeder Ebene. Die Kinder lesen das natürlich als eine spannende Schul- und Zauber-, Abenteuergeschichte, aber die Erwachsenen, die können sich, je nach Leseerfahrungen und Vergleichshorizont, an anderen Dingen delektieren, beispielsweise an den Mythen, die Joanne Rowling hier eingearbeitet und adaptiert hat. Das ganze Bestiarium, das ganze Imaginarium der abendländischen und morgenländischen Mythologie ist ja in diese Potter-Bücher mit eingearbeitet, die keltische Mythologie, alles das, was wir …

Die griechische Mythologie vom Phoenix angefangen bis zum Einhorn, keltische Mythologie, alles ist drin, an dem können sich die Erwachsenen delektieren. Außerdem darf man nicht vergessen, es sind politische Bücher und sie werden von Mal zu Mal eigentlich politischer. Wenn man die ganze Welt des Zaubereiministeriums in London anschaut, dann fühlt man sich sofort in die Agentenwelt des John Le Carré versetzt, also, man sieht ja, wo Joanne Rowling durchaus genialerweise ihre Anregungen hergenommen hat, das hat sie alles vermixt und vermischt.

Das Ganze ist natürlich auch noch ein Bildungsroman, ein Internatsroman, Fantasy, ein total ausfabuliertes Paralleluniversum mit unglaublich vielen auch witzigen und komischen Details. Also, was will man mehr? Auf jeder Ebene wird der Leser bedient.

Von Billerbeck Es gab ja viele Leute, die die deutschen Übersetzungen heftig kritisiert haben. Lesen Sie den Roman, also, die Harry Potter-Romane, eigentlich auf Englisch oder auf Deutsch?

Löffler: Ich lese sie auf Englisch natürlich, weil ich sie ja sofort lesen will, und kontrolliere dann die deutschen Übersetzungen. Sie müssen verstehen, unter welchem wahnsinnigen Zeitdruck die gemacht werden müssen, wahrscheinlich sogar auf mehrere Übersetzer verteilt. Viele der unglaublich witzigen Erfindungen, zum Beispiel die verschiedenen Flüche und Zaubersprüche, die Rowling sich da ausgedacht hat, lassen sich auch nur schwer übersetzen oder verlieren zum Teil ihren Witz, dass muss man schon einfach auch einkalkulieren.

Von Billerbeck Also kurzes Fazit: Harry Potter ist gute Literatur?

Löffler: Es ist gute Unterhaltungsliteratur, es verdirbt den jungen Lesern sicher nicht die Freude an der Lektüre, möglicherweise werden sie auf diese Weise zu Lesern gemacht. Im Übrigen ist es ein Phänomen, das ebenso schnell wieder verschwinden wird, wie es jetzt seinem hysterischen und überhitzten Höhepunkt zustrebt.

Von Billerbeck Harry Potter-Fieber und gezielte Indiskretionen. Wir sprachen mit unserer Literaturkritikerin Sigrid Löffler. Ich danke Ihnen.