Ein Triumph des Überlebens

Von Wolf-Dieter Peter · 21.07.2010
Die Bregenzer Festspiele starten mit einem unvergesslichen Opernereignis: Mieczyslaw Weinbergs "Die Passagierin" erzählt die überwältigende Geschichte von der Begegnung einer Holocaust-Überlebenden mit einer ehemaligen KZ-Aufseherin.
Gelegentlich gibt es so etwas wie künstlerische Wiedergutmachung. Dazu geriet die szenische Uraufführung von Mieczyslaw Weinbergs Oper "Die Passagierin" im Bregenzer Festspielhaus: 1968 fertig gestellt, in der UdSSR unterdrückt, nach Weinbergs Tod 1996 in Vergessenheit geraten, 2006 einmal in Russland konzertant aufgeführt. Weinbergs Musikdrama fußt auf dem Roman der Polin Zofia Posmysz, die Auschwitz überstand, aber den Schock erlebte, vermeintlich ihrer KZ-Aufseherin wieder zu begegnen und dieses Grauen künstlerisch überhöht hat: 15 Jahre nach Kriegsende, auf der Überfahrt nach Brasilien glaubt die inzwischen mit einem deutschen Diplomaten verheiratete, also "arrivierte" Ex-Aufseherin Anna in einer Passagierin die KZ-Insassin Martha zu erkennen.

Sie hat die junge Polin damals ausgenutzt, drangsaliert und deren Verlobten letztlich dem Tod ausgeliefert. Die Vergangenheit holt Anna nun ein. Das von Weinbergs Freund Alexander Medwedew aus dem Roman gefilterte Libretto frappiert mit deutschen Sätzen wie "Wir dürfen den Krieg und das alles vergessen", mit der polnischen Feststellung "Dass es so schmerzt, ein Mensch zu sein" oder der russischen Frage "Haben die Deutschen auch einen Gott?"

Weinbergs Musik braucht gerade aus deutscher Sicht kein gut gemeintes, moralisch erzwungenes Wohlwollen: Sie ist zuerst exzellente Theatermusik, die die unterschiedlichsten Szenen musikdramatisch trägt und prägt. Weinberg gelingt die fröhliche Atmosphäre eines Luxusliners. Doch diese schicke Oberflächlichkeit wird durch Klänge gebrochen, die Parallelen zu Schostakowitschs Symphonien und den schrägen Tänzen und Umbrüchen in dessen "Lady Macbeth von Mzensk" erkennen lassen.

Hartes Schlagwerk begleitet die Phrasen der deutschen SS-Mannschaften, gewürzt mit Zitaten aus Marsch und Walzer. Eine polnische Widerstandskämpferin wird zu Klangschlägen nahe Beethovens 5. Symphonie geprügelt. Marthas Verlobter spielt auf der beschlagnahmten Edelgeige dem Lagerkommandanten nicht den gewünschten Walzer, sondern die entlarvend "saubere" Musik einer Bach-Chaconne – sein Todesurteil durch "deutsche Musik".

Der Sprachenvielfalt der Insassinnen von Französisch zu Deutsch, Polnisch und Russisch entsprechen anrührende russische Volksliedmelodien, gehauchte Leidenschöre, kurz aufblühende Melodien für süße Rückerinnerungen, religiös wirkende Bitten, kurze emphatische Hoffnungsphrasen – und immer wieder der insistierende, rhythmisch vibrierende Klageton Leoš Janáčeks. Insgesamt erweist sich Weinbergs "Passagierin" als "weibliches Pendant" zu den Männerschicksalen in Janáčeks "Aus einem Totenhaus" – ein künstlerischer "Ritterschlag" erster Güte.

Das machte der junge griechische Dirigent Teodor Currentzis mit den Wiener Symphonikern auf fesselnde Weise klar: Mit sicht- und spürbarem dramatischem Engagement führte er ein glänzendes Ensemble zu einem Triumph – voran Elena Kelessidi(Martha), Svetlana Doneva (Widerstandskämpferin) und Michelle Breedt (Anna) sowie mit herrlichem Bariton den Tadeusz von Arthur Rucinski.

Diese tief beeindruckende Werkentdeckung ist aber auch Regisseur David Pountney und der dramaturgisch perfekten Bühnenlandschaft von Johan Engels zu danken: Auf dem weißen Schiffsoberdeck in halber Bühnenhöhe bewegte sich eine arrivierte Nachkriegsgesellschaft "in blütenweißer Weste" (Kostüme: Marie-Jeanne Lecca). Darunter lag die halb-, aber eben nur halb verdeckte düstere Lagerwelt, in der Pountney durch hoch differenzierte Personenregie die unterschiedlichen Typen und Schicksale vorführte.

Zwei Gleise mit Prellböcken am Orchesterrand signalisierten "Endstation". Von beiden Bühnenseiten schoben sich gelegentlich Wachttürme mit gefährlichem Scheinwerferlicht herein. Auf einem Gleiskreis konnten halbrunde Gebäudeteile heranfahren: mal Schiffskabinen, mal Lagerbaracke – vor denen dann die Prellböcke auch wie Kniebänke für Gebete wirkten. Oben auf den Gebäuden fuhr immer mal ein Chor herein: eine modern gekleidete Beobachtergesellschaft, die damals wie heute "zuschaute"…

Der Schluss überwältigte: Die zuvor kahlköpfige Insassin Martha kam als grauhaarige Passagierin an den Bühnenrand und sang von der nie verblassenden Erinnerung an die toten Freundinnen – und in den schüchtern einsetzenden Applaus führte Pountney dann die 87-jährige Zofia Posmysz herein – die real Überlebende nahm ihre Kunstfigur an der Hand, das Publikum erhob sich zu einer Ehren-Ovation, denn mit dieser Uraufführung triumphierte die Kunst über das Grauen – auch dank Weinbergs Partitur. Ein unvergesslicher Moment der Opern- und Kulturgeschichte.