Ein unbekanntes Land

Rezensiert von Dunja Welke |
Wolfgang Büschers Deutschlandreise, wie sie uns Christian Berkel präsentiert, ist ein Erlebnis. Wir begegnen staunend einem Land, das wir so nicht kannten. Es wird von skurrilen Typen bewohnt, besitzt wunderschöne Landschaften und verkommene Städte und der Krieg ist noch sehr gegenwärtig. Dieses Deutschland ist gleichermaßen reizvoll wie traurig.
Und für Büscher, den Westdeutschen mit typisch linker Vergangenheit, ist der Osten deutlich spannender als der Westen. Die touristischen Zentren lässt er weitgehend unbeachtet, vielmehr umrundet er Deutschland - den Grenzen und Flüssen entlang über 3500 Kilometer zu Fuß und mit öffentlichen Verkehrsmitteln.

Christian Berkel liest den Text präzis und zurückhaltend - ohne Brimborium. Er vertraut auf die Qualitäten dieser Reisebeschreibung, auf den Wechsel zwischen nüchtern-dokumentierenden und literarisierenden Passagen. Der bekannte Schauspieler - wir kennen ihn aus vielen TV-Krimis und aus dem Kinodrama "Der Untergang" - gibt mit angenehm dunklem Timbre und genauer Artikulation der Geschichte eines KZ-Dämonen ebenso angemessen Stimme wie dem Sonnenuntergang auf Borkum. Unprätentiös – und nur in Lautstärke und Tempi variierend - kann er deshalb lesen, weil der Text selbst so viel Glanz und Abwechslung besitzt. Christian Berkel macht die Neugierde des Reisenden, sein Staunen und Zögern glaubwürdig und auch, wie er den Klang von Personen- oder Ortsnamen auskostet.

"Ich kann nach Lam, einer kleinen Stadt auf der Höhe, die mir schon wegen ihres einsilbigen Namens gefiel, er klang wie der in aufbrandendem Beifall verklingender Schlussakkord eines Liedes. Auf dem verschneiten Marktplatz überlegte ich, ob der Name noch schöner klänge mit arabischem Al oder einem spanischen Doppel-L oder einem katholischen Sankt davor. Al-Lam. llam. St-Lam. Nein, es war gut so, wie es war."

Die Melancholie, die Christian Berkels Lesung vermittelt, hängt mit der gewählten Reiseroute zusammen. Dem Uhrzeigersinn und den gegenwärtigen Grenzen folgend umwandert er Deutschland. Er beginnt seine Reise am Niederrhein, wandert über die Nord- und Ostseeküste, Oder und Neiße, dem böhmischen Grenzgebirge entlang, dann die Alpen und den Bodensee und wieder zurück zum Rhein. Und in diesen heutigen Grenzregionen sind Deutschlands Kriegsniederlage, Vertreibung, Tod und Verlust noch gegenwärtig.

Weil Büscher das Land von den Rändern her zu erkunden, bekommt es scharfe Konturen, denn viele Menschen dort leben nicht in gewohnten Zusammenhängen, sondern führen wirklich Randexistenzen. Sie scheinen aus der Gegenwart gefallen und auf besondere Weise gezeichnet von deutscher Geschichte. Wie die Frau im Dorf Kamminke auf Usedom, die als Kind, das sich nicht schnell genug in den Luftschutzkeller retten konnte, dennoch die Bombardierung Swinemündes am 12. März 1945 überlebte. Aus ihrem Munde klingt der Satz "Nie wieder Krieg" plötzlich nicht mehr nach Propaganda, weil dahinter das Trauma ihres Lebens steht. Bescheiden lebt sie heute in einem niedrigen pommerschen Dorfhäuschen, in das sie den Resienden einlädt:

"Ich sah die Deckchen auf Tisch und Schrank, die niedlichen Bilder, süßer Junge schenkt süßem Mädchen einen Blume, die tickende Stille der Wohnstube, den tiefen Wunsch nach Frieden, und mir schien , dass ich in diesem Moment die neue deutsche Seele verstand.

Die danach. Nach dem Meteoriteneinschlag. Das eherne Idyll der Wohnzimmer und Vorgärten, die Rehe und Zwerge und tränenden Clown der einen. Und die Peace-Runen und Erich-Fromm-Schmöker und die Poster mit den auslaufenden Dali-Uhren der anderen. Denn die Unterscheide zwischen beiden waren gering. Alle meinten dasselbe. Alles, alles, nur keinen Krieg.

Das Deutschland meines Lebens hatte sich stark verändert von Jahrzehnt zu Jahrzehnt, aber diese eine Sache war immer gleich geblieben. Alles dachte, alles empfand von der meteoritischen Zeitenwende her. Das war es, was ich in der Wohnstube von Kamminke zu verstehen glaubte; dass es Vernichtungen gibt von einer Wucht, die ein ganzes Leben betäubt, ein ganzes Land. Ja, der Staub setzte sich immer noch. Die Betäubung ließ immer noch nach."

Wolfgang Büschers Interesse an individuellen Geschichten - gepaart mit literarischem Vermögen - rückt uns Geschichte auf ganz ungewöhnliche Weise nahe, etwa wenn er vom SS-Scharführer Karl Weihe erzählt. Das Grauen vor deutscher Vergangenheit rückt nahe, weil Büscher ohne die gängigen Klischees auskommt. So schildert er das Konzentrationslager Flossenbürg im Fränkischen als einen Ort absoluter Freiheit, als Ort der Peinigerwillkür. Hier wurden meist prominente Häftlinge aus aller Herren Länder gequält, einige von ihnen Sympathisanten des 20.Juni. Der Henker Karl Weihe weidete sich daran, seine Opfer noch im Tod zu erniedrigen.

"Weihe henkte täglich mindestens ein Dutzend Opfer, manchmal mehr. Am 8. Januar 1945 henkte er drei Frauen aus dem polnischen Widerstand, eine von ihnen war im achten Monat schwanger. Drei Tage später, am 11. Januar, henkte er zwei polnische Mädchen, zwölf und dreizehn Jahre alt, und weil sie zu leicht waren, hängte er sich an die Füße der Kinder und zog, bis es reichte.
Der kleine Herr Weihe aus Wormsdorf bei Eilsleben in der Magdeburger Börde, 53 Jahre alt, keine eins siebzig groß, starke Schultern, krummer Rücken, ländlicher Typ. Unintelligent, sagten seine gebildeten Häftlinge. (...) Sonntags entspannte sich Weihe, wird berichtet, im Lagerbordell."
Neben solchen bedrängenden Geschichten gibt es aber auch ganz andere, etwa über das Abenteuer in winterlicher Natur, die - wie in längst vergessenen Zeiten - für den Wanderer noch Gefahren birgt.

"Nach einigem Keuchen bergan durch nichts als unberührten tiefen Schnee kamen mir Zweifel. Ich ging zurück und nahm den anderen Weg. Eine gute halbe Stunde stieß ich auf eine Spur. Jemand war aus der Richtung gekommen, in die ich lief. Aber die Spur brach plötzlich ab und führte in den eigenen Stapfen zurück. Es waren Stapfen mit doppelter Fußspitze, eine vorn, eine hinten, und sie waren frisch. Es waren meine eigenen. Ich war im Kreis gegangen."

Die Monate Oktober bis Dezember waren Wolgang Büschers Reisezeit. Nebel, Regen, Schneegestöber - die Naturstimmungen, in die der Wanderer gerät, sind seinen Betrachtungen durchaus adäquat. Und auch märchenhaft-mythische Passagen gemahnen an Heines Reisebild "Deutschland, ein Wintermärchen". Der Reisende wechselt die Perspektive, er ist mit leichtem Gepäck, äußerlich unbelastet unterwegs. Vom Fußmarsch durch die Wälder steigt er in Bus oder Regionalbahn um, bleibt kaum mehrere Tage an einem Ort, mietet sich häufig in Gasthäuser ein.

Weder Alltags- noch Urlaubsgefühle trüben deshalb seinen Blick, der offen und gespannt bleibt. So folgt er unverbissen seiner geplanten Route. Manchmal lässt er sich auf seiner Reise in Moll von Kundigen führen, oft skurrilen Männern, die die Ödnis der Provinz mit ihrer inneren Welt von Geschichten ausgefüllt haben. Einer dieser Männer weiß vom Zittauer Fastentuch aus dem 17.Jahrhundert zu erzählen, das sowjetische Soldaten zerstückelt und damit ihre Sauna abgedeckt hatten.

"Allmählich hatte ich ein Auge für diese Leute, und es war wohl kein Zufall, dass ich immer wieder einen wie ihn traf. Der Typus war mir vertraut geworden: der deutsche historische Amateur, seinen Gegenstand liebend, ja ganz in ihn versunken. Und Liebhaber waren sie wirklich. Sie hatte keine Theorie, was die erste Bedingung der Liebe ist. Aber die Haut des geliebten Landes kannten sie genau, jede Narbe, jeden Brandfleck.

Das Fastentuch war nur ein Stück dieser Haut. Andere Stücke waren die Sagen, die der Spuksammler von Leer in den moorigen Wiesen auflas und in seinen Büchern zum Trocknen aufspannte. Wieder andere sammelte der Untergangsforscher im Backshop von Guben. "Man muss sich was suchen zum inneren Überleben."

Länger als im Westen ist Wolfgang Büscher im Osten unterwegs, denn Westdeutschland kann ihn kaum noch überraschen. In Guben und Chemnitz ist er erschreckt von den unkenntlichen Zentren dieser gesichtslosen, ihrer Geschichte beraubten Städte. Der unschöne Wiederaufbau macht den Bruch überdeutlich. Das heile Görlitz dagegen erstaunt ihn in seinem Renaissance-Charme. Die Frage nach dem, was Heimat ist, drängt sich ihm im ostdeutschen Gebirge auf:
"Nirgendwo auf dieser Reise bin ich dem Wort "Heimat" häufiger begegnet als im sächsischen Erzgebirge. Mir scheint, ich habe die Heimat überhaupt nur hier angetroffen, in ihrer erzgebirgischen Intonation "Haamit".
Bevor ich über Zinnwald nach Dubi gegangen war, hatte ich mich im letzten Gasthaus noch einmal aufgewärmt. Es war mit unzähligen erzgebirgischen Motiven und Heimatliedzeilen geschmückt. "Deitsch un frei woll’n mer sei, wel mer Arzgebirgler sei."

Selten artikuliert der Reisende Unwillen oder gar Kulturkritik:

"Hätte in der Gaststube an der Grenze jemand Zither gespielt, ich hätte es gut sein lassen. Ich wäre still dagesessen, hätte meine dampfende Holundersuppe gelöffelt und wäre in Frieden gegangen. Aber niemand spielte Zither. Stattdessen lief Heimatmusik, die keine war, und das war eine Umdrehung zu viel. Als Heimatlieder verkleidete Schlager dröhnten aus den Lautsprechern, und der deutsche Schlager von heute, das muss gesagt sein, denn ich habe ihn über Monate erlitten vom Frühstück bis zum Abendbrot, ist grauenhaft. Heimat, das hast du nicht verdient. Hastig die Suppe gegessen, den Gaumen verbrannt, Geld hingeworfen, die nassen Sachen von der Heizung gerissen, wieder übergezerrt und raus, raus in die erlösende Kälte."

Der Autor ist kein einseitiger Faktenhuber. Sein Reisebild ist ein Gemisch verschiedener Genres: aus Dokumentation, Landschaftsbeschreibung, Charakterdarstellung, Geschichtsreport und literarischer Miniatur. Und Büscher erweist sich als Romantiker, der märchenhaft erzählen kann und Mythen einbezieht. An vielen Stellen weitet sich der Text zu großer Literatur, zum sinnlich-metaphorischen Sprachkunstwerk. Heine oder Tucholsky lassen grüßen, aber eher in der prononcierten Genauigkeit der Beobachtung und im subjektiven Blick als im politischen Biss der Vorgänger.

Die gegenwärtigen politischen Zustände kritisiert er kaum, eher artikuliert er Wehmut oder Trauer - die Tristes und Resignation in Deutschlands Randregionen. Und "der Unernst des Westens, seine ewigen Kinderspiele rühren ihn an wie eine liebe Marotte". Am Ende hat seine Person Kontur gewonnen, haben wir doch von seiner intensiven Lektüre des Marx’schen "Kapital" als junger Student erfahren, von einer Aussteigerliebe, vom Berlinumzug und auch von seinen Provinzsonntagen als Junge in den Sechzigern:

"In der Vitrine des Bäckers von Twist lag ein letztes Käsebrötchen, in der Kühlvitrine stand ein rosa Getränk mit Erdbeergeschmack, das sicher sehr süß war. Der Laden war still wie das Dorf. Diese Stille hatte ich einmal gekannt, diese nachmittägliche Verlorenheit. Sonntage auf dem Land, die so heiter erwachen, mit Glockengeläut, und sich so träge verlieren. Das Rad der Jahreszeiten.

Ferien, blassblaue Himmel, die sich gegen Unendlich dehnen. Der stumme Treck der Winterwochen. Ewig, ewig ist die Stille der Provinz. Sorgfältig aufgeräumt und gefegt wie das Zimmer einer alten Frau. Die Luft steht, Staub wirbelt im schräg stehenden Licht, niemand spricht, halb gesenkte Augenlider, das offene Buch im Schoß, das wollene Lesezeichen. Stundenlang, Sekunden ticken, als ginge das immer so weiter und hörte niemals auf, und die Wahrheit ist, es hört niemals auf."

Am Ende, als Wolfgang Büscher wieder an den Rhein, den Ausgangspunkt seiner Reise zurückgekehrt ist, ein letztes poetisches Bild:

"Ich beugte mich über das Wasser und steckte den Kopf hinein, und als ich ihn wieder herauszog, war mir, als sei ich weit gewesen, und alles, was sich zugetragen hatte, war in einer Sekunde geschehen."

So komprimiert wirkt diese Deutschlandreise, die das Land als schön und grausig, lieblich und zerrissen zugleich erschienen lässt, natürlich nicht. Aber die sechseinhalb Stunden bieten ein kurzweiliges Hörerlebnis und sehr viel mehr als gängige Landeskunde.


Wolfgang Büscher:
Deutschland, eine Reise

Lesung mit Christian Berkel,
Audio Verlag 2006, 5 CDs,
24.95 Euro.