Ein Update für Demokratie
Der ägyptische Autor und politische Aktivist Alaa al-Aswany vergleicht die politischen Proteste in seinem Land mit den Auseinandersetzungen in Deutschland vor 25 Jahren: So wie dort damals der Protest gegen Verkrustungen zum Fall der Berliner Mauer geführt habe, so sorge nun in Ägypten der Protest für neue Chancen.
Frank Meyer: Und der bedeutendste Beitrag Europas zur Kultur der Welt, das ist die Demokratie. Das hat die Mehrheit der Teilnehmer bei der Europa-Umfrage des Goethe-Instituts gesagt. In Ägypten haben viele der Befragten noch etwas ergänzt. Sie haben gesagt, Europa, das steht für mich für Fortschritt. Darüber habe ich vor der Sendung mit dem Autor und politischen Aktivisten Alaa al-Aswany gesprochen. Er ist vor allem bekannt durch seinen vielfach übersetzten Roman "Der Jacubijan-Bau". In Ägypten ist Alaa al-Aswany der am meisten gelesene Autor, und er hat eine wichtige Rolle gespielt bei den politischen Umbrüchen dort in der jüngsten Zeit. Ich habe ihn zuerst gefragt, woran denken Sie denn zuerst, wenn Sie an Europa denken?
Alaa al-Aswany: Die Frage ist natürlich ein bisschen allgemein, wenn Sie mich jetzt gleich nach einem ganzen Kontinent fragen. Ich werde mal versuchen, es ein bisschen spezifischer zu beantworten. Europa steht natürlich – erst einmal symbolisiert das für uns Ägypter Demokratie, Kunst und Kultur. Nun haben wir natürlich auch eine gewisse Geschichte des Kolonialismus. Wir haben ja dem britischen Empire angehört, aber vielleicht ist der größere Einfluss, zumindest, was das Kulturelle betrifft, kommt eigentlich aus Frankreich. Die wichtigsten ägyptischen Schriftsteller und auch Denker waren stark beeinflusst von der französischen Kultur. Und wenn ich jetzt an Deutschland zum Beispiel denke, dann steht Deutschland eigentlich für die industrielle Perfektion.
Meyer: Wir fragen Sie ja auch danach, weil viele Ihrer Landsleute bei der Europa-Umfrage des Goethe-Instituts gesagt haben: Europa steht für mich vor allem für Fortschritt. Und da fragen wir uns von hier aus, an was für eine Art Fortschritt denken Sie da. Weil unsere innereuropäische Perspektive ja oft auch ist: Wir trippeln so auf der Stelle, wir kommen nicht so richtig voran in der Europäischen Union. Also an was für eine Art Fortschritt denkt man da in Ägypten?
al-Aswany: Ich muss natürlich daran erinnern, dass Ägypten schon immer eigentlich ein unglaublich kosmopolitischer Staat war, nicht nur in den letzten Jahrzehnten, sondern eigentlich auch schon seit Jahrhunderten. Ich möchte nur beispielsweise erwähnen, dass in den 70er-Jahren etwa ein Drittel aller Einwohner von Alexandria europäischer Herkunft waren. Aber wenn wir Ägypter an Fortschritt in Europa denken, dann assoziieren wir das eben mit Demokratie. Und das ist diese Demokratie, die diesen europäischen Fortschritt ermöglicht, das ist kein Wunder an sich. Und wenn wir selber in Ägypten einen Fortschritt erreichen wollen, dann möchten wir eben auch demokratischer werden.
Meyer: Wenn wir über die gegenwärtige Demokratie in Ägypten reden – in Ihrem Land ist ja gerade eine gewählter Präsident, Mursi, abgesetzt worden. Im Westen hat man das zum Teil als Militärputsch angesehen. Wie schauen Sie denn auf den Sturz von Präsident Mursi? War das in irgendeiner Weise ein demokratischer Vorgang?
al-Aswany: Nun, das war auf keinen Fall ein Staatsstreich oder ein Putsch, wie man das in Europa sieht. Da fehlen einfach auch die Details. Mursi hat im vorigen November 2012 eben auch erklärt, dass er mit seinen Entscheidungen sich jetzt über das Gesetz stellt. Er hat praktisch die Verfassung ausgehebelt, und indem er sich verfassungswidrig verhalten hat, das war der eigentliche Putsch, nicht das, was später stattgefunden hat. Und natürlich war Mursi zwar demokratisch gewählt, er hat sich aber dann letztendlich zu einem Diktator entwickelt.
Einen ähnlichen Fall gab es 1992 in Peru, als Alberto Fujimori, ein gewählter Präsident, in allen Erklärungen sich plötzlich über das Gesetz gestellt hat und beispielsweise die gesamte Judikative lahmlegte und sich als ein Diktator entpuppt hat. Und damals hat der Westen ganz, ganz anders reagiert, obwohl die Erklärung von Mursi fast wörtlich die ist, die Fujimori damals verwendet hat. Das sind ähnliche Wörter, die er da benutzte, aber die USA haben zum Beispiel damals die diplomatischen Beziehungen abgebrochen, haben enormen Druck ausgeübt. Deutschland und Spanien haben sämtliche Wirtschaftshilfen für Peru gestrichen, und das führte, dieser internationale Druck führte letztendlich dazu, dass dieser peruanische Diktator Fujimori seine Erklärung widerrufen musste. All das ist im Fall von Mursi nicht geschehen. Nachdem er seine Erklärungen im November hatte verlautbaren lassen, gab es nicht so einen vergleichbaren Druck auf Ägypten und auf Mursi.
Also es war ja zum Beispiel so, das Parlament hätte ja an Mursi die Vertrauensfrage gestellt, das ging nur nicht mehr, weil das Parlament quasi ausgehebelt worden ist durch den Obersten Gerichtshof. Deswegen gab es diese Unterschriftenaktion, an der sich 22 Millionen Ägypter beteiligt haben, und das sind Unterschriften, die von der UN bestätigt worden sind. Und dann sind eben auch 30 Millionen Ägypter auf die Straße gegangen, um der Welt eben zu zeigen, dass man diesen Diktator nicht will. Und es waren die Muslimbrüder, die praktisch sich wie Faschisten benommen hatten gegenüber dem eigenen Volk. Und deswegen hat die Armee eingegriffen, eigentlich nur, um friedliche Demonstranten vor den Muslimbrüdern zu schützen. Also all das, um zu sagen, dass es sich hier keinesfalls um einen Staatsstreich handelt, weil ein Staatsstreich ist ja immer dann erst, wenn eine militärische Gruppe, eine militärische Elite mit Gewalt sich an die Macht putscht und eine militärische Elite letztendlich regiert. Davon kann in Ägypten keine Rede sein, denn es wird in wenigen Monaten einen neu gewählten Präsidenten und auch ein neu gewähltes Parlament geben.
Meyer: Herr al-Aswany, wenn wir die Perspektive einmal umdrehen: Die Ägypter haben ja im vergangenen Jahr zwei autoritäre Regime gestürzt. Das Regime von Hosni Mubarak und das der Militärs, vor allem durch konsequenten Druck von der Straße. So gesehen haben die so mutig revoltierenden Ägypter den Europäern im Moment zumindest vielleicht auch etwas voraus, wenn man auf die demokratische Praxis schaut?
al-Aswany: Also ich glaube vor allen Dingen an Humanismus, ich glaube vor allen Dingen an Menschlichkeit. Und da glaube ich, dass natürlich das, was in Ägypten passiert ist, erst mal menschliche Fragen waren und dass es so etwas wie einen gegenseitigen Einfluss letztendlich auch gibt. Also: Man könnte zum Beispiel sagen: Diese Revolution steht irgendwie ähnlich wie die Ideen, die zum Fall der Berliner Mauer geführt haben. Oder aber die sozialen Proteste, die jetzt in Deutschland und Italien, aber noch viel stärker in Brasilien stattfinden, haben auch etwas mit dem Einfluss der Ereignisse in Ägypten zu tun, weil sich Menschen einfach auch gegenseitig befruchten. Und wir sind eben eine Familie, und da soll man sich auch nicht auseinanderdividieren lassen. Und ich habe sehr viele europäische Freunde, die mir manchmal auch näher sind als beispielsweise ägyptische Freunde. Aber alles, was wirklich zählt, ist eben menschliche Erfahrung und menschliches Miteinander.
Meyer: Sie haben mehrfach beschrieben, Herr al-Aswany, dass so ein Grundmuster der menschlichen Erfahrung in Ägypten jahrzehntelang war, wie das autokratische Regime in Ägypten durchzogen hat, wie es lauter kleine Autokraten und Duckmäuser hervorgebracht hat im Alltag. Hat sich das inzwischen verändert durch die Ereignisse der letzten Zeit, durch die Rebellion in Ägypten?
al-Aswany: Ja, also sicherlich, weil das Problem mit autokratischen Regimen einfach all diese negativen Nebenfolgen sind. Der Mensch zählt einfach nicht mehr, man hat das Gefühl, seinem eigenen Land nicht mehr angehörig zu sein. Und das sind eben alles sehr, sehr viele, schlimme Entwicklungen. Ein Land ist dann wie paralysiert, und alle Menschen, die ein gewisses Talent vielleicht haben, kommen einfach nicht weiter. Und es sind eigentlich nur die korrupten Menschen, die irgendwie Karriere machen können. Und dabei spielt materieller Besitz kaum eine Rolle. Also selbst Leute, denen es vielleicht wirtschaftlich ganz gut geht, die haben überhaupt keine Aufstiegschancen. Und jetzt rede ich gar nicht von den Leuten, die dann auch noch arm und dazu unterdrückt sind. Aber ich werde niemals vergessen, wie in der ersten Welle der Revolution nach dem Sturz von Mubarak die Jugend auf die Straße gegangen ist. Weil wir dürfen nicht vergessen, 60 Prozent der ägyptischen Einwohner sind unter 40 Jahre alt. Und diese Jugend hat praktisch die Straße für sich entdeckt. Und das war ein sehr, sehr erhebender Moment, zu sehen, wie die Jugend plötzlich auf die Straße gegangen ist.
Meyer: Wenn wir hier über Ägypten und Europa reden, Herr al-Aswany, und was Sie gerade ansprechen, dass die Jugend auf die Straße geht, Verantwortung nimmt, das eigene Land in die Hand nimmt praktisch. Wenn Sie da auf Europa schauen – ich könnte mir vorstellen, dass Sie manchmal den Eindruck haben, die Europäer schätzen eigentlich das, was sie haben, den Wert ihrer eigenen Demokratie gar nicht hoch genug ein. Haben Sie manchmal diesen Eindruck?
al-Aswany: Gut. Wenn mir meine europäischen Freunde diese Frage stellen, dann antworte ich immer mit einer Metapher. Und zwar sage ich, das ist wie mit einem Auto, was irgendwann natürlich ein Problem hat, wie jedes Auto muss es instand gehalten werden, und man fängt dann an, die Ersatzteile auszutauschen. Und das Auto wäre sozusagen die Demokratie.
Wir in Ägypten brauchen erst einmal ein Auto, bevor wir uns darüber beklagen können, dass Einzelteile dieses Autos nicht so ganz funktionieren. Und natürlich muss jede Demokratie, jedes demokratische System in gewisser Weise neu erfinden, braucht ein Update. Und es gibt durchaus Probleme in einigen europäischen Ländern. Beispielsweise in Italien gibt es ernsthafte Probleme, weil ich nicht glaube, dass dort der Wille des Volkes wirklich ausgedrückt wird durch die aktuellen Regierungen. Aber um zurück auf die Metapher des Autos zu kommen: Wir in Ägypten brauchen erst einmal das Auto.
Meyer: Also die europäische Demokratie ist eine Art Auto mit einigen Schwächen an allen möglichen Ecken und Enden. So sieht es der ägyptische Autor und politische Aktivist Alaa al-Aswany. Ganz herzlichen Dank nach Kairo, Mr. al-Aswany, thank you for joining us!
al-Aswany: Thank you! Thank you very much.
Meyer: Und am kommenden Montag werden wir hier im Radiofeuilleton weiter über die Europa-Umfrage der Goethe-Institute sprechen, dann über Filme als Seelenspiegel Europas mit dem slowenischen Philosophen und Filmemacher Slawoj Zizek.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Zur Übersicht mit allen Interviews:
Fallschirm und Reisefreiheit - Was denkt Europa über Europa?
Mehr auf dradio.de:
"Europa darf man nie abschreiben" - Filmemacher Georg Stefan Troller ruft europäische Staaten zu stärkerer Zusammenarbeit auf
Don Quijote ist unser Europäer in der Literatur - Schriftstellerin Terezia Mora über verschiedene Heldentypen in der Poesie
"Der Eiffelturm signalisiert Fortschritt" - Architekt Kollhoff über das bedeutendste Bauwerk der Europäer
Alaa al-Aswany: Die Frage ist natürlich ein bisschen allgemein, wenn Sie mich jetzt gleich nach einem ganzen Kontinent fragen. Ich werde mal versuchen, es ein bisschen spezifischer zu beantworten. Europa steht natürlich – erst einmal symbolisiert das für uns Ägypter Demokratie, Kunst und Kultur. Nun haben wir natürlich auch eine gewisse Geschichte des Kolonialismus. Wir haben ja dem britischen Empire angehört, aber vielleicht ist der größere Einfluss, zumindest, was das Kulturelle betrifft, kommt eigentlich aus Frankreich. Die wichtigsten ägyptischen Schriftsteller und auch Denker waren stark beeinflusst von der französischen Kultur. Und wenn ich jetzt an Deutschland zum Beispiel denke, dann steht Deutschland eigentlich für die industrielle Perfektion.
Meyer: Wir fragen Sie ja auch danach, weil viele Ihrer Landsleute bei der Europa-Umfrage des Goethe-Instituts gesagt haben: Europa steht für mich vor allem für Fortschritt. Und da fragen wir uns von hier aus, an was für eine Art Fortschritt denken Sie da. Weil unsere innereuropäische Perspektive ja oft auch ist: Wir trippeln so auf der Stelle, wir kommen nicht so richtig voran in der Europäischen Union. Also an was für eine Art Fortschritt denkt man da in Ägypten?
al-Aswany: Ich muss natürlich daran erinnern, dass Ägypten schon immer eigentlich ein unglaublich kosmopolitischer Staat war, nicht nur in den letzten Jahrzehnten, sondern eigentlich auch schon seit Jahrhunderten. Ich möchte nur beispielsweise erwähnen, dass in den 70er-Jahren etwa ein Drittel aller Einwohner von Alexandria europäischer Herkunft waren. Aber wenn wir Ägypter an Fortschritt in Europa denken, dann assoziieren wir das eben mit Demokratie. Und das ist diese Demokratie, die diesen europäischen Fortschritt ermöglicht, das ist kein Wunder an sich. Und wenn wir selber in Ägypten einen Fortschritt erreichen wollen, dann möchten wir eben auch demokratischer werden.
Meyer: Wenn wir über die gegenwärtige Demokratie in Ägypten reden – in Ihrem Land ist ja gerade eine gewählter Präsident, Mursi, abgesetzt worden. Im Westen hat man das zum Teil als Militärputsch angesehen. Wie schauen Sie denn auf den Sturz von Präsident Mursi? War das in irgendeiner Weise ein demokratischer Vorgang?
al-Aswany: Nun, das war auf keinen Fall ein Staatsstreich oder ein Putsch, wie man das in Europa sieht. Da fehlen einfach auch die Details. Mursi hat im vorigen November 2012 eben auch erklärt, dass er mit seinen Entscheidungen sich jetzt über das Gesetz stellt. Er hat praktisch die Verfassung ausgehebelt, und indem er sich verfassungswidrig verhalten hat, das war der eigentliche Putsch, nicht das, was später stattgefunden hat. Und natürlich war Mursi zwar demokratisch gewählt, er hat sich aber dann letztendlich zu einem Diktator entwickelt.
Einen ähnlichen Fall gab es 1992 in Peru, als Alberto Fujimori, ein gewählter Präsident, in allen Erklärungen sich plötzlich über das Gesetz gestellt hat und beispielsweise die gesamte Judikative lahmlegte und sich als ein Diktator entpuppt hat. Und damals hat der Westen ganz, ganz anders reagiert, obwohl die Erklärung von Mursi fast wörtlich die ist, die Fujimori damals verwendet hat. Das sind ähnliche Wörter, die er da benutzte, aber die USA haben zum Beispiel damals die diplomatischen Beziehungen abgebrochen, haben enormen Druck ausgeübt. Deutschland und Spanien haben sämtliche Wirtschaftshilfen für Peru gestrichen, und das führte, dieser internationale Druck führte letztendlich dazu, dass dieser peruanische Diktator Fujimori seine Erklärung widerrufen musste. All das ist im Fall von Mursi nicht geschehen. Nachdem er seine Erklärungen im November hatte verlautbaren lassen, gab es nicht so einen vergleichbaren Druck auf Ägypten und auf Mursi.
Also es war ja zum Beispiel so, das Parlament hätte ja an Mursi die Vertrauensfrage gestellt, das ging nur nicht mehr, weil das Parlament quasi ausgehebelt worden ist durch den Obersten Gerichtshof. Deswegen gab es diese Unterschriftenaktion, an der sich 22 Millionen Ägypter beteiligt haben, und das sind Unterschriften, die von der UN bestätigt worden sind. Und dann sind eben auch 30 Millionen Ägypter auf die Straße gegangen, um der Welt eben zu zeigen, dass man diesen Diktator nicht will. Und es waren die Muslimbrüder, die praktisch sich wie Faschisten benommen hatten gegenüber dem eigenen Volk. Und deswegen hat die Armee eingegriffen, eigentlich nur, um friedliche Demonstranten vor den Muslimbrüdern zu schützen. Also all das, um zu sagen, dass es sich hier keinesfalls um einen Staatsstreich handelt, weil ein Staatsstreich ist ja immer dann erst, wenn eine militärische Gruppe, eine militärische Elite mit Gewalt sich an die Macht putscht und eine militärische Elite letztendlich regiert. Davon kann in Ägypten keine Rede sein, denn es wird in wenigen Monaten einen neu gewählten Präsidenten und auch ein neu gewähltes Parlament geben.
Meyer: Herr al-Aswany, wenn wir die Perspektive einmal umdrehen: Die Ägypter haben ja im vergangenen Jahr zwei autoritäre Regime gestürzt. Das Regime von Hosni Mubarak und das der Militärs, vor allem durch konsequenten Druck von der Straße. So gesehen haben die so mutig revoltierenden Ägypter den Europäern im Moment zumindest vielleicht auch etwas voraus, wenn man auf die demokratische Praxis schaut?
al-Aswany: Also ich glaube vor allen Dingen an Humanismus, ich glaube vor allen Dingen an Menschlichkeit. Und da glaube ich, dass natürlich das, was in Ägypten passiert ist, erst mal menschliche Fragen waren und dass es so etwas wie einen gegenseitigen Einfluss letztendlich auch gibt. Also: Man könnte zum Beispiel sagen: Diese Revolution steht irgendwie ähnlich wie die Ideen, die zum Fall der Berliner Mauer geführt haben. Oder aber die sozialen Proteste, die jetzt in Deutschland und Italien, aber noch viel stärker in Brasilien stattfinden, haben auch etwas mit dem Einfluss der Ereignisse in Ägypten zu tun, weil sich Menschen einfach auch gegenseitig befruchten. Und wir sind eben eine Familie, und da soll man sich auch nicht auseinanderdividieren lassen. Und ich habe sehr viele europäische Freunde, die mir manchmal auch näher sind als beispielsweise ägyptische Freunde. Aber alles, was wirklich zählt, ist eben menschliche Erfahrung und menschliches Miteinander.
Meyer: Sie haben mehrfach beschrieben, Herr al-Aswany, dass so ein Grundmuster der menschlichen Erfahrung in Ägypten jahrzehntelang war, wie das autokratische Regime in Ägypten durchzogen hat, wie es lauter kleine Autokraten und Duckmäuser hervorgebracht hat im Alltag. Hat sich das inzwischen verändert durch die Ereignisse der letzten Zeit, durch die Rebellion in Ägypten?
al-Aswany: Ja, also sicherlich, weil das Problem mit autokratischen Regimen einfach all diese negativen Nebenfolgen sind. Der Mensch zählt einfach nicht mehr, man hat das Gefühl, seinem eigenen Land nicht mehr angehörig zu sein. Und das sind eben alles sehr, sehr viele, schlimme Entwicklungen. Ein Land ist dann wie paralysiert, und alle Menschen, die ein gewisses Talent vielleicht haben, kommen einfach nicht weiter. Und es sind eigentlich nur die korrupten Menschen, die irgendwie Karriere machen können. Und dabei spielt materieller Besitz kaum eine Rolle. Also selbst Leute, denen es vielleicht wirtschaftlich ganz gut geht, die haben überhaupt keine Aufstiegschancen. Und jetzt rede ich gar nicht von den Leuten, die dann auch noch arm und dazu unterdrückt sind. Aber ich werde niemals vergessen, wie in der ersten Welle der Revolution nach dem Sturz von Mubarak die Jugend auf die Straße gegangen ist. Weil wir dürfen nicht vergessen, 60 Prozent der ägyptischen Einwohner sind unter 40 Jahre alt. Und diese Jugend hat praktisch die Straße für sich entdeckt. Und das war ein sehr, sehr erhebender Moment, zu sehen, wie die Jugend plötzlich auf die Straße gegangen ist.
Meyer: Wenn wir hier über Ägypten und Europa reden, Herr al-Aswany, und was Sie gerade ansprechen, dass die Jugend auf die Straße geht, Verantwortung nimmt, das eigene Land in die Hand nimmt praktisch. Wenn Sie da auf Europa schauen – ich könnte mir vorstellen, dass Sie manchmal den Eindruck haben, die Europäer schätzen eigentlich das, was sie haben, den Wert ihrer eigenen Demokratie gar nicht hoch genug ein. Haben Sie manchmal diesen Eindruck?
al-Aswany: Gut. Wenn mir meine europäischen Freunde diese Frage stellen, dann antworte ich immer mit einer Metapher. Und zwar sage ich, das ist wie mit einem Auto, was irgendwann natürlich ein Problem hat, wie jedes Auto muss es instand gehalten werden, und man fängt dann an, die Ersatzteile auszutauschen. Und das Auto wäre sozusagen die Demokratie.
Wir in Ägypten brauchen erst einmal ein Auto, bevor wir uns darüber beklagen können, dass Einzelteile dieses Autos nicht so ganz funktionieren. Und natürlich muss jede Demokratie, jedes demokratische System in gewisser Weise neu erfinden, braucht ein Update. Und es gibt durchaus Probleme in einigen europäischen Ländern. Beispielsweise in Italien gibt es ernsthafte Probleme, weil ich nicht glaube, dass dort der Wille des Volkes wirklich ausgedrückt wird durch die aktuellen Regierungen. Aber um zurück auf die Metapher des Autos zu kommen: Wir in Ägypten brauchen erst einmal das Auto.
Meyer: Also die europäische Demokratie ist eine Art Auto mit einigen Schwächen an allen möglichen Ecken und Enden. So sieht es der ägyptische Autor und politische Aktivist Alaa al-Aswany. Ganz herzlichen Dank nach Kairo, Mr. al-Aswany, thank you for joining us!
al-Aswany: Thank you! Thank you very much.
Meyer: Und am kommenden Montag werden wir hier im Radiofeuilleton weiter über die Europa-Umfrage der Goethe-Institute sprechen, dann über Filme als Seelenspiegel Europas mit dem slowenischen Philosophen und Filmemacher Slawoj Zizek.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Zur Übersicht mit allen Interviews:
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