Ein vergessener NS-Forscher
Im Dritten Reich hatte er zwei Jahre Lagerhaft im Konzentrationslager Auschwitz überlebt. In der Bundesrepublik war Joseph Wulf dann der erste Historiker, der Dokumentationen und Monografien zum Dritten Reich publizierte. Diese Studie rückt sein Leben und Werk ins rechte Licht.
Joseph Wulf ist heute wohl nur noch wenigen ein Begriff. Er war der Erste in der Bundesrepublik Deutschland, der Bücher zum Holocaust publizierte – sein Schicksal hatte ihn dazu getrieben. Wulf war Jude und er hatte Auschwitz überlebt.
Joseph Wulf: "Schauen Sie: Nationalsozialismus ist keine jüdische Angelegenheit, sondern Nationalsozialismus ist eine deutsche Angelegenheit. Sie wissen, es gibt einen wunderbaren Satz von Jean-Paul Sartre, der hat gesagt: Er verstehe nicht, warum sich mit Antisemitismus Juden beschäftigen. Es sei eine nichtjüdische Krankheit, sollen sich die Nichtjuden damit beschäftigen."
Nicht als Betroffener, sondern als Dokumentarist, als Historiker wollte er die Vergangenheit erforschen, Quellen aufspüren und Archive zusammenführen.
Und seine Dokumentationen waren sehr schmerzhaft und verstörend: Wulf ließ die Originalschriften für sich stehen. Wer lesen wollte, konnte spätestens jetzt Bescheid wissen und die Vernichtungsstrategien der Nationalsozialisten an Einzelbeispielen erkennen. Klaus Kempter streicht das Besondere von Wulfs Dokumentationen heraus.
Klaus Kempter: "Er war der Auffassung, dass große Sektoren der deutschen Gesellschaft, auch große Teile der vornazistischen Eliten, etwa in der Bürokratie, im Militär, zugearbeitet hatten. Und zwar freiwillig zugearbeitet hatten. Dass die Gewaltherrschaft, das war eine beliebte Formel, dass die nationalsozialistische Gewaltherrschaft eben nicht über das deutsche Volk kam, sondern aus ihm kam."
Das galt in Deutschland bis in die Neunzigerjahre hinein als Zumutung und Provokation. Der Historiker hat die erste umfassende biografische Studie zu Joseph Wulf, diesem Pionier der Holocaust-Forschung, vorgelegt. Kempter will sein Buch auch als "Kommentar zur bundesdeutschen Geistesgeschichte" verstanden wissen.
Klaus Kempter: "An Wulfs Leben lässt sich (...) die Konjunktur des Gedächtnisses der bundesdeutschen Gesellschaft (...) sehr schön nachzeichnen."
Joseph Wulf kam in Chemnitz zur Welt, doch er wuchs in Krakau auf. Er beteiligte sich am jüdischen Widerstand im Ghetto der südpolnischen Stadt, überlebte zwei Jahre Lagerterror in Auschwitz, gelangte schließlich über Paris in seine deutsche Sprachheimat. Seit 1952 lebte er ausgerechnet in der ehemaligen Reichshauptstadt.
Auf seinem Schreibtisch in West-Berlin stand die Mahnung: Erinnere dich an die sechs Millionen! Er hatte seinen Auftrag gefunden, er wurde zur Lebensaufgabe. Rasch wurde er damit vom Aufklärer zum Störenfried in der Bundesrepublik Deutschland.
Zwischen 1955 und 1964 veröffentlichte Wulf insgesamt sechzehn Dokumentationen und Monografien zum Dritten Reich, darunter waren Titel wie: "Das Dritte Reich und die Juden"; "Das Dritte Reich und seine Denker"; "Das Dritte Reich und seine Vollstrecker"; sowie die monumentale fünfbändige Dokumentation zur Verstrickung der Kultur im Dritten Reich.
Klaus Kempter: "Auch heute noch, meine ich, sind seine Dokumentationen lesenswert, weil sie sehr verdichtet die Sprache des Nationalsozialismus zum Ausdruck bringen. Die sind zum Teil noch immer sehr spannend zu lesen."
Schließlich beschreibt Klaus Kempter die "Existenzkämpfe eines Privatgelehrten" und sein Scheitern. Eine letzte große Enttäuschung für Wulf war, dass seine 1965 begonnene Initiative um die Wannsee-Villa im Sande verlief.
Es sollte ein "Internationales Dokumentationszentrum zur Erforschung des Nationalsozialismus und seiner Folgeerscheinungen" entstehen. Und zwar just in jenem historischen Gebäude, in dem am 20. Januar 1942 die berüchtigte Wannsee-Konferenz stattgefunden hatte. Joseph Wulf im November 1967.
Joseph Wulf: "Wenn Sie eine demoskopische Untersuchung machen, werden Sie erfahren, dass in Deutschland auf 100 Personen vielleicht zehn wissen, was die Wannsee-Konferenz war. Wenn Sie in New York, in Paris oder in Israel Menschen auf der Straße fragen, dann werden 90 sagen, dass Sie wissen, was die Wannsee-Konferenz war. Und das ist der Grund dafür, dass wir das Haus haben wollen: Es hat eine große Anziehungskraft."
Wulf fand viele Unterstützer für sein Vorhaben, vor allem im Ausland. Doch der West-Berliner Senat war dagegen.
Klaus Kempter: "Der Berliner Senat war damals nicht bereit, die SPD war auch nicht bereit, dieses umstrittene Haus zu unterstützen. Der Bürgermeister Schütz, der vor kurzem verstorben ist, sagte ja, er möchte keine ‚makabre Kultstätte‘ in Berlin. Und man muss ja auch sagen, die große Zeit der Gedenkstätten und Mahneinrichtungen, die kam ja auch erst sehr viel später. Auch da wäre Wulf Pionier gewesen und kam in gewisser Weise zur Unzeit."
Das historische Haus der Wannsee-Konferenz wird erst seit 1992 als Gedenk- und Bildungsstätte genutzt. – Klaus Kempter hat eine materialgesättigte Studie vorgelegt, die verdeutlicht, auf welch tragische Weise Joseph Wulf seiner Zeit voraus war. Bis auf einige unnötige Fremdwörter, die im akademischen Milieu wohl nicht zu vermeiden sind, liest sich das Buch weitgehend flüssig und anschaulich.
Es ist eine Studie, die nicht nur Leben und Werk des Historikers wieder ins Licht rückt, sondern auch beschämend ist für alle jene, die den Privatforscher seinerzeit und bis in die jüngste Vergangenheit verleugneten.
Klaus Kempter: Joseph Wulf - Ein Historikerschicksal in Deutschland
Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2012
422 Seiten, 64,99 Euro, auch als ebook
Joseph Wulf: "Schauen Sie: Nationalsozialismus ist keine jüdische Angelegenheit, sondern Nationalsozialismus ist eine deutsche Angelegenheit. Sie wissen, es gibt einen wunderbaren Satz von Jean-Paul Sartre, der hat gesagt: Er verstehe nicht, warum sich mit Antisemitismus Juden beschäftigen. Es sei eine nichtjüdische Krankheit, sollen sich die Nichtjuden damit beschäftigen."
Nicht als Betroffener, sondern als Dokumentarist, als Historiker wollte er die Vergangenheit erforschen, Quellen aufspüren und Archive zusammenführen.
Und seine Dokumentationen waren sehr schmerzhaft und verstörend: Wulf ließ die Originalschriften für sich stehen. Wer lesen wollte, konnte spätestens jetzt Bescheid wissen und die Vernichtungsstrategien der Nationalsozialisten an Einzelbeispielen erkennen. Klaus Kempter streicht das Besondere von Wulfs Dokumentationen heraus.
Klaus Kempter: "Er war der Auffassung, dass große Sektoren der deutschen Gesellschaft, auch große Teile der vornazistischen Eliten, etwa in der Bürokratie, im Militär, zugearbeitet hatten. Und zwar freiwillig zugearbeitet hatten. Dass die Gewaltherrschaft, das war eine beliebte Formel, dass die nationalsozialistische Gewaltherrschaft eben nicht über das deutsche Volk kam, sondern aus ihm kam."
Das galt in Deutschland bis in die Neunzigerjahre hinein als Zumutung und Provokation. Der Historiker hat die erste umfassende biografische Studie zu Joseph Wulf, diesem Pionier der Holocaust-Forschung, vorgelegt. Kempter will sein Buch auch als "Kommentar zur bundesdeutschen Geistesgeschichte" verstanden wissen.
Klaus Kempter: "An Wulfs Leben lässt sich (...) die Konjunktur des Gedächtnisses der bundesdeutschen Gesellschaft (...) sehr schön nachzeichnen."
Joseph Wulf kam in Chemnitz zur Welt, doch er wuchs in Krakau auf. Er beteiligte sich am jüdischen Widerstand im Ghetto der südpolnischen Stadt, überlebte zwei Jahre Lagerterror in Auschwitz, gelangte schließlich über Paris in seine deutsche Sprachheimat. Seit 1952 lebte er ausgerechnet in der ehemaligen Reichshauptstadt.
Auf seinem Schreibtisch in West-Berlin stand die Mahnung: Erinnere dich an die sechs Millionen! Er hatte seinen Auftrag gefunden, er wurde zur Lebensaufgabe. Rasch wurde er damit vom Aufklärer zum Störenfried in der Bundesrepublik Deutschland.
Zwischen 1955 und 1964 veröffentlichte Wulf insgesamt sechzehn Dokumentationen und Monografien zum Dritten Reich, darunter waren Titel wie: "Das Dritte Reich und die Juden"; "Das Dritte Reich und seine Denker"; "Das Dritte Reich und seine Vollstrecker"; sowie die monumentale fünfbändige Dokumentation zur Verstrickung der Kultur im Dritten Reich.
Klaus Kempter: "Auch heute noch, meine ich, sind seine Dokumentationen lesenswert, weil sie sehr verdichtet die Sprache des Nationalsozialismus zum Ausdruck bringen. Die sind zum Teil noch immer sehr spannend zu lesen."
Schließlich beschreibt Klaus Kempter die "Existenzkämpfe eines Privatgelehrten" und sein Scheitern. Eine letzte große Enttäuschung für Wulf war, dass seine 1965 begonnene Initiative um die Wannsee-Villa im Sande verlief.
Es sollte ein "Internationales Dokumentationszentrum zur Erforschung des Nationalsozialismus und seiner Folgeerscheinungen" entstehen. Und zwar just in jenem historischen Gebäude, in dem am 20. Januar 1942 die berüchtigte Wannsee-Konferenz stattgefunden hatte. Joseph Wulf im November 1967.
Joseph Wulf: "Wenn Sie eine demoskopische Untersuchung machen, werden Sie erfahren, dass in Deutschland auf 100 Personen vielleicht zehn wissen, was die Wannsee-Konferenz war. Wenn Sie in New York, in Paris oder in Israel Menschen auf der Straße fragen, dann werden 90 sagen, dass Sie wissen, was die Wannsee-Konferenz war. Und das ist der Grund dafür, dass wir das Haus haben wollen: Es hat eine große Anziehungskraft."
Wulf fand viele Unterstützer für sein Vorhaben, vor allem im Ausland. Doch der West-Berliner Senat war dagegen.
Klaus Kempter: "Der Berliner Senat war damals nicht bereit, die SPD war auch nicht bereit, dieses umstrittene Haus zu unterstützen. Der Bürgermeister Schütz, der vor kurzem verstorben ist, sagte ja, er möchte keine ‚makabre Kultstätte‘ in Berlin. Und man muss ja auch sagen, die große Zeit der Gedenkstätten und Mahneinrichtungen, die kam ja auch erst sehr viel später. Auch da wäre Wulf Pionier gewesen und kam in gewisser Weise zur Unzeit."
Das historische Haus der Wannsee-Konferenz wird erst seit 1992 als Gedenk- und Bildungsstätte genutzt. – Klaus Kempter hat eine materialgesättigte Studie vorgelegt, die verdeutlicht, auf welch tragische Weise Joseph Wulf seiner Zeit voraus war. Bis auf einige unnötige Fremdwörter, die im akademischen Milieu wohl nicht zu vermeiden sind, liest sich das Buch weitgehend flüssig und anschaulich.
Es ist eine Studie, die nicht nur Leben und Werk des Historikers wieder ins Licht rückt, sondern auch beschämend ist für alle jene, die den Privatforscher seinerzeit und bis in die jüngste Vergangenheit verleugneten.
Klaus Kempter: Joseph Wulf - Ein Historikerschicksal in Deutschland
Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2012
422 Seiten, 64,99 Euro, auch als ebook