Ein vielseitiger Komponist

Im Reclam Verlag ist jetzt die vor sechs Jahren bereits Englisch herausgekommene Mendelssohn-Biografie des amerikanischen Musikwissenschaftlers Larry Todd auch auf Deutsch erschienen: Es ist ein Buch, das die Mendelssohn-Biografik auf eine neue Basis stellt, denn akribischer als Todd hat bisher niemand die Quellen - darunter die 5000 von Felix Mendelssohn überlieferten, größtenteils ungedruckten Briefe - gesichtet.
Todds Buch führt vor Augen, wie ungemein vielseitig Felix Mendelssohn als Komponist gewesen ist. Er listet chronologisch Werk für Werk auf, klopft es nach stilistischen Einflüssen ab, analysiert es thematisch, ordnet es in die Zeit ein und entwirft so - basierend auf seiner lebenslangen Beschäftigung mit Mendelssohn, mit seiner Musik, seinen Autographen, Briefen, Tagebüchern und Zeichnungen - ein detailreiches Bild des Komponisten und seines Umfeldes.

Beginnend mit der Familiengeschichte und den Lehrjahren des Wunderkinds schildert er das Leben des legendären Pianisten und weit gereisten Dirigenten, des Wiederentdeckers Bachs und Komponisten eines staunenswert vielfältigen Oeuvres, aber auch des Lehrers, der zugleich als Zeichner und Altphilologe tätig war und eine bemerkenswerte, vielsprachige Bekanntschaft mit der kulturellen Elite seiner Zeit pflegte.

In keiner bisherigen Mendelssohn-Biographie erfährt man so viel wie bei Larry Todd: über die umfassende Neugierde des von seinem Vater materiell, von Zelter und Goethe ideell geförderten Wunderkindes, über seine Anfänge in Düsseldorf, seine Italien- und Englandreisen, seine Berufung zum Königlich Preußischen wie Sächsischen Kapellmeister und über die Krönung seiner Karriere als Gewandhauskapellmeister in Leipzig, der nicht nur ein Anwalt der eigenen, sondern auch der älteren Musik und der vieler Kollegen war.

Auch über Mendelssohns relativ fortschrittliche politische Ansichten und sein unverkrampftes Verhältnis zu den Religionen wird man gewissenhaft informiert – sowohl über seinen bekennenden Protestantismus, aber auch seine Beziehung zum Judentum seiner Vorfahren, mit dem er selbst so gut wie nichts mehr zu tun hatte - er war schließlich ohne jüdisches Bewusstsein, Brauchtum und Religionswissen aufgewachsen und hat nie eine Synagoge betreten.

Die mit einem gewaltigen Anmerkungsapparat versehene Biographie von Larry Todd ist ohne Frage die bisher sorgfältigste und umfassendste Darstellung des nur 38 Jahre kurzen Lebens und Schaffens Mendelssohns: ein neues Standardwerk.

Rezensiert von Dieter David Scholz

R. Larry Todd: Felix Mendelssohn Bartholdy,
Carus/Reclam Stuttgart 2008, 797 Seiten, 49,90 Euro