"Passt wie die Faust aufs Auge auf die türkische Situation"
Ibsens "Ein Volksfeind" führte beim Gastspiel der Berliner Schaubühne in Istanbul zu wahren Jubelstürmen im Publikum, erzählt Thomas Ostermeier. Eine regierungsnahe Zeitung wertete seine Inszenierung des Politdramas als Aufruf zum Umsturz, so der Regisseur.
Katrin Heise: Während der türkische Ministerpräsident Erdogan versucht hat, mithilfe von 25.000 Polizisten am Gezi-Jahrestag kürzlich Demonstrationen zu verhindern, lief beim Internationalen Theaterfestival in Istanbul Thomas Ostermeiers Inszenierung "Ein Volksfeind". Das ist ja das Stück von Ibsen, das gesellschaftskritische Drama um den Kurarzt Doktor Stockmann, der entdeckt, dass das Heilwasser seiner Bäderstadt vergiftet ist. Er will den Missstand aufdecken, stellt jedoch fest, dass die örtlichen Politiker den Skandal lieber vertuschen wollen, und nicht nur die. Ein Konflikt, bei dem es um Recht gegen Macht geht, um Wahrheit gegen Wirtschaft und natürlich überhaupt um das Thema öffentlich geäußerte Kritik.
Thomas Ostermeier hatte vor der Sendung Zeit, seine Eindrücke aus Istanbul zu schildern. Ich grüße Sie, Herr Ostermeier!
Thomas Ostermeier: Hallo!
Heise: Ibsens Stück stammt ja aus dem Jahr 1882, bietet sich aber immer wieder an für eine Analyse der Gegenwart, eben weil alles drin ist, Wahrheit, Kritik, Macht, Korruption – was erregte das Interesse der Festivalorganisatoren?
Ostermeier: Oh, die hatte das gesehen vor zwei Jahren, also noch vor den Gezi-Protesten, auf der Premiere in Avignon, und hat sofort danach gesagt, die will das unbedingt in ihrer ersten Ausgabe – es ist die erste Ausgabe gewesen, die sie zu verantworten hat, das Festival findet alle zwei Jahre statt – sie will es unbedingt dabei haben, weil sie meinte – wie viele andere auch –, es passt wie die Faust aufs Auge auf die türkische Situation.
Heise: Und die hat sich ja nun dramatisch verschärft. Als Sie eben eingeladen wurden, war die – die jetzt vom Wochenende, die Situation, die wiederaufflammenden Demonstrationen – überhaupt nicht absehbar. Der "Volksfeind" hält in Ihrer Inszenierung eine Rede ans Publikum am Ende, und es wird in Berlin, ich hab das vor Kurzem erlebt, auch immer noch diskutiert, mal mehr, mal weniger, mal müde, mal heftig – wie waren denn die Reaktionen in Istanbul? Das ist eine Rede, wo er tatsächlich alle eigentlich einlädt, kritisch hinzugucken.
"Jubelstürme im Publikum"
Ostermeier: In Istanbul war es schon vorher so, dass es zu Jubelstürmen kam im Publikum, schon vor der Rede. Weil es gibt da einen Moment, wo die beiden Brüder – es ist ja ein Brüderpaar, also der Bürgermeister, der sozusagen die Sache der ökonomischen Vernunft vertritt, und der Bruder, Doktor Thomas Stockmann, der die Sache der wissenschaftlichen Wahrheit vertritt. Und die beiden bekommen sich in die Haare, und der Bruder versucht ihn ja zu manipulieren und zu überreden – jetzt komm, jetzt bring das doch nicht gleich an die Öffentlichkeit, wir kehren das irgendwie unter den Teppich.
Heise: Zum Wohle unserer Stadt.
Ostermeier: Zum Wohle der wirtschaftlichen Vorteile unserer Stadt. Und dann, am Ende, kriegen die beiden sich richtig in die Haare, und in Istanbul haben wir das so gemacht – also hier sagt er "du hirnverbrannter Chaot", der Bruder zum Badearzt – und in Istanbul haben wir dieses türkische Wort "Çapulcu" in der Übersetzung genommen, und das ist eben das Wort, mit dem Erdogan die ganzen Protestierer mal belegt hat, was man wohl am besten so wie "Gesindel" übersetzt.
Heise: Und in dem Moment brach es im Publikum los?
Ostermeier: In dem Moment brach es im Publikum los, und alle schrien, weil eben Thomas Stockmann für die Sache der Gerechtigkeit kämpft, seinen Bruder am Hals packte und aufs Sofa warf und ihn niederrang. Und dann ging es wie im Stierkampf los, und wir hatten da noch eine andere Sache, eine kleine Sache eingebaut, dass der Bruder, gespielt von Ingo Hülsmann, dann aufsteht und ihn tritt, am Boden liegend –
Heise: Man erinnert sich an das Foto …
Ostermeier: Genau, das ist die Sache aus Soma, und dann, nachdem er ihn getreten hat, auf einmal, einen starken Schmerz im Knie verspürt. Und da war das türkische Publikum schon gar nicht mehr zu halten, weil sie das direkt wiedererkannt haben. Wie an vielen Orten, wo wir hinkommen, ist das ja schon ein bisschen bekannt, vorher durch die Medien gegangen, und deswegen war dann die Rede und auch die Reaktionen auf die Rede nicht die große Überraschung für das Publikum, sondern sie haben nahegehend darauf gewartet und haben dann auch viele Sachen gesagt, die dann wiederum bei einer regierungsnahen Zeitung zu einer Reaktion geführt haben.
Heise: Es sollte, als Sie es inszeniert haben, oder soll immer noch, ein Stück sein auch über das naive und halbherzige politische Engagement, das Sie selber spüren bei sich durchaus auch, bei Freunden, bei Bekannten. Und es ist auch ein Stück über die Grenzen politischer Veränderungsmöglichkeiten. Das ist ja jetzt sehr interessant, gerade das jetzt in der Türkei dann aufzuführen.
"Mein direkter Anlass war eigentlich Occupy"
Ostermeier: Na ja, mein direkter Anlass war eigentlich Occupy, weil ich diese Occupy-Bewegung als etwas sehr Hoffnungsvolles gesehen habe und dann eigentlich in dem, was sie politisch erreicht haben, ein ziemliches Scheitern man denen doch attestieren muss. Und das habe ich dann so mit meiner eigenen politischen Arbeit verknüpft, oder wie viel ich eigentlich schaffe, wirklich zu verändern. Und das ist eben in der Türkei auch eine Frage, oder bei vielen anderen Protesten – ich war auch vor zwei Jahren auf dem Syntagma-Platz in Athen, der ja geräumt wurde, und jetzt diese Gezi-Proteste. Die sind ja extrem basisdemokratisch, extrem pazifistisch, extrem unhierarchisch organisiert, und da liegt auch, glaube ich, immer so eine kleine Saat des Scheiterns auch schon drin, weil sie nicht organisiert sind, weil sie sich nicht versuchen, irgendwie an Gewerkschaften, politischen Parteien oder anderen zu orientieren.
Heise: Sie sind im Falle der Türkei jetzt aber auch tatsächlich extrem gefährlich.
Ostermeier: Ja, natürlich, das hat man am Wochenende erlebt. Und ich bin am Wochenende auch noch in Istanbul geblieben, um diesen Jahrestag zu feiern auf dem Taksim-Platz, hab die meiste Zeit eigentlich nur hoch bewaffnete Polizisten gesehen und, was mich am meisten schockiert und beunruhigt hat, viele Zivilpolizisten, die richtiggehend auch als Provokateure unterwegs waren, die nicht als Polizisten zu erkennen waren und die in der Menge Gewalt provoziert haben. Das war die Erfahrung, und das ist in Istanbul noch mal ein anderes Klima. Es ist hoch gefährlich.
Heise: Thomas Ostermeier über das jüngste Gastspiel des Schaubühnen-Ensembles in Istanbul war das, gerade wenige Tage her, und eben die Reaktionen auf Ihre Aufführung, Ibsens "Volksfeind". Auch ein Stück, was natürlich diskutiert: Wann wird Aufklärung zum Fanatismus?
Ostermeier: Natürlich – das war …
Heise: Spielt das eine Rolle? Oder spielte das beispielsweise beim Publikum …
"Die ganzen Treppen waren voll mit Leuten, die so reingelassen wurden"
Ostermeier: Nein, das spielt in der Türkei jetzt keine Rolle. Das war eher für viele im Publikum so ein Anlass, zu sagen, Mensch, wir spüren da eigentlich fast so etwas wie einen Atem von Solidarität und Unterstützung für unsere Bewegung. Es waren unwahrscheinlich viele junge Leute, die ganzen Treppen waren voll mit Leuten, die so reingelassen wurden, und das einzige, was eine direkte Reaktion war – ich habe es vorher schon mal kurz angesprochen, will es auch noch kurz erwähnen – war eine regierungsnahe Zeitung, die dann gesagt hat, Mensch, das ist ja eine Aufführung, die ruft zum Sturz auf, das ist fast wie eine Probe zum Umsturz. Und dann das auch noch zum Jahrestag von Gezi, übertitelt mit "German Game", also ein deutsches Spiel, was da gespielt wird, und die Aufführung würde zu Hass und Feindseligkeit aufrufen und Premierminister Erdogan beleidigen. Sogar aus dem Publikum heraus, weil viele im Publikum während der Diskussion über Erdogan gesprochen haben.
Heise: Als Sie es 2012 hier inszeniert haben, da haben Zeitungen zum Teil gesagt, Mitmachtheater für neue Wutbürger – also da ging es in eine ganz andere Richtung. Jetzt schildern Sie die Reaktion. Gab es dann wiederum ein Medienecho auf das, was da stand, also die Zeitung und daraufhin dann die Reaktion?
Ostermeier: Das war eben diese Zeitung, und das Festival bittet uns, da jetzt nicht zu viel über nur diese Kritik zu reden, weil sie sagen, alle anderen Zeitungen waren extrem positiv. Die gucken halt mehr auf die künstlerische, feuilletonistische Reaktion. Ich fand halt extrem interessant, was ja immer so eine heimliche Hoffnung vom Theater ist, dass es auch eine politische Reaktion hervorruft, dass diese Zeitung fast schon ein bisschen naiv uns unterstellt hat und gesagt hat: Mensch, das ist doch Aufruf zum Widerstand und Beleidigung von Erdogan und so, das war natürlich nicht in unserem Sinne. Aber dieser politische Mechanismus zeigt schon, wie stark da diktatorische Züge, glaube ich, im Moment sich entwickeln oder entwickelt haben.
Heise: Umso erregender war es ja wahrscheinlich dann, wenn man auf der Bühne steht und eine solche Reaktion im Publikum spürt, das zu merken, was man damit auslöst – konnte man damit umgehen in dem Moment?
Ostermeier: Es gab viele türkische Freunde von mir, die in der Vorstellung waren, die dann gefragt haben, ach Mensch, ist ja interessant, oh, die haben ja ganz schön Mut bewiesen von der Festivalleitung, dass sie diese Aufführung eingeladen haben. Das hat manche doch sehr überrascht, dass die Aufführung überhaupt im Moment in Istanbul läuft. Und ich glaube, bevor dann wirklich die politische Seite reagieren konnte, war es ein bisschen zu spät, weil es ja eben nur drei Aufführungen waren. Und es hätte, glaube ich auch, zu viel Skandal hervorgerufen, wenn sie da jetzt irgendwie interveniert hätten, aber was mich doch erstaunt hat, dass in den Publikumsreaktionen haben viele immer nur von ihm gesprochen, aus Angst, glaube ich, davor, dass sie, was weiß ich, danach rausgepickt werden oder von irgendjemand angesprochen werden, warum sie denn jetzt Erdogan hier öffentlich kritisieren.
Heise: Premiere war in Avignon, dann in New York gezeigt, in Buenos Aires gezeigt – wie unterschiedlich wird das Stück immer im Publikum oder vom Publikum interpretiert?
"Wo wir waren, wird extrem leidenschaftlich und sehr kritisch diskutiert"
Ostermeier: Wir haben es neben New York und Buenos Aires auch noch in Sao Paulo gezeigt, in Paris, in Lyon, in Kanada, in Australien – überall, wo wir hinkommen, kann man sagen, sagen uns die Festivalmacher vorher, ja, aber unser Publikum ist leider nicht so aktiv, und rechnet bitte nicht damit, dass da irgendwelche Meldungen aus dem Publikum kommen. Aber wo wir waren, sogar in New York, was mich am meisten erstaunt hat, wird extrem leidenschaftlich und sehr kritisch diskutiert, also sehr kritisch über den Stand der Politik, über den Stand der politischen Situation in den jeweiligen Ländern, über dieses Hoffnungsversprechen im Ökonomischen, was viele beklagen. Und viele sagen, wir sind da an einer Grenze angekommen, wo es nicht mehr weiter geht. Und am meisten ging es in Buenos Aires ab, wo die Zuschauer – es war ein Riesensaal, 1500 Leute – dann gesagt haben, ja, hier im Saal sind genauso korrupte Politiker wie da auf der Bühne, und die sollen jetzt mal aufstehen und was sagen.
Und dann hat sich sogar einer ein Herz genommen und ist aufgestanden. Er wurde niedergebrüllt, es kam fast zu Handgreiflichkeiten, wo wir dann gesagt haben, okay, wir spielen jetzt weiter, bevor das hier entgleist. Aber ich hab schon das Gefühl, dass an allen Orten der Welt und nicht nur, ob man – Athen hatte ich vorhin vergessen – ob man es jetzt in Athen oder in der Türkei spielt, wo man ja weiß, dass die Gesellschaft gerade sehr in Bewegung ist, sondern auch an Orten wie New York, Kanada oder Australien, die ja eher befriedete Regionen der westlichen Welt sind, ist ein extremer Unmut da und auch ein extremer Wille, sich auszudrücken.
Heise: Die Schaubühne war in Istanbul mit Ibsens "Volksfeind". Thomas Ostermeier berichtete hier über die heftigen Reaktionen dort, aber auch woanders auf der Welt, wo das Stück aufgeführt wurde. Danke schön, Herr Ostermeier, für den Besuch!
Ostermeier: Bitte schön!
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