Ein von Krankheit, Sensibilität und Melancholie geprägtes Leben

Chopin, heißt es, habe dem Klavier seine Seele gegeben. Jedenfalls ist der in Polen geborene Sohn eines französischen Lehrers mit seinen Klavierwerken unsterblich geworden. Er gilt als Inbegriff des romantischen Künstlers – ein Mythos, zu dem er nicht zuletzt von seinen Biographen stilisiert wurde; was seinen Grund vor allem darin hat, dass man kaum über zuverlässige Quellen verfügt. Chopin hat keine Tagebücher geschrieben, die meisten seiner Briefe und Dokumente sind verschollen.
Auch die neuesten Biografien des Komponisten leiden unter dieser Einschränkung. Adam Zamoyski, gebürtiger New Yorker, entstammt zwar einem alten polnischen Adelsgeschlecht, das mit der Familie Chopin bekannt war. Doch leider besitzt er keinerlei familiäres Insider-Wissen über den Künstler. Dem talentierten Erzähler Zamoyski gelingt es immerhin durch pures Bibliothekswissen, den Leser mit der Zeit und den Lebensumständen der Familie Chopin in jenem kleinen Örtchen nahe Warschau in Verbindung zu bringen, in dem der Komponist geboren wurde. Das Buch ist eine interessante Zeitreise durch Chopins Leben und vermittelt ein farbiges Gesellschaftsbild des frühen 19. Jahrhunderts - aber es ist auch eine neuerliche Idealisierung des Komponisten.

Chopins glänzende künstlerische Erscheinung und sein kurzes Leben waren prädestiniert zu Verklärung und Legendenbildung: Ein von Krankheit, Sensibilität und Melancholie geprägtes Dasein, eine turbulente Wunder-Kindheit, in der er in den polnischen Adelssalons auftrat, eine internationale Karriere als Klaviervirtuose und Komponist, eine fast zehnjährige, rätselhafte Beziehung zu der exaltierten, älteren Schriftstellerin George Sand, schließlich ein früher Tod im Alter von 39 Jahren.

Eva Gesine Baur hat in ihrer umfangreichen und weit ausholenden Chopin-Biografie "Chopin oder die Sehnsucht", die zum 200. Geburtstag des Komponisten erschien, deutlich und triftig herausgearbeitet, dass die eigenartige Konstellation von psychosomatischer Hypersensibilität und sehnsuchtsgetränkter Melancholie nicht nur Chopins Leben grundiert, sondern auch entschieden zur Magie seiner Erscheinung beigetragen hat.

Sie fragt sich Was ist eigentlich Sehnsucht? Ihre lapidare Antwort: Wenn das Herz woanders ist als der Körper. Chopin – der die meiste Zeit seines Lebens in Paris lebende Pole - hat nicht nur unter seinen Krankheiten gelitten, er hat sie auch kultiviert. Er wusste, dass er aus ihnen poetische Kraft schöpfen konnte. Eva Gesine Baur gelingt es in ihrer psychologisch so feinsinnigen wie fesselnden Biographie zu beglaubigen, dass seine Zeitgenossen Chopin gelegentlich als "menschliches Klavier" bezeichneten. Sie zitiert seinen Ausspruch: "Das Klavier ist mein zweites Ich".

Wer freilich über dieses "zweite Ich", also über die Musik Chopins - ihre Formen, ihre von den Zeitgenossen als kühn empfundene Chromatik und ihre patriotischen, um nicht zu sagen politischen Referenzen - Genaueres erfahren möchte, der wird bei den beiden Neuerscheinungen leider nicht fündig. Ihm ist nach wie vor Christoph Ruegers zum 200. Geburtstag des Komponisten neu überarbeitetes Buch "Frédéric Chopin. Seine Musik – sein Leben" zu empfehlen.

In dessen zweitem Teil, der ganz den Kompositionen Chopins gewidmet ist, die bei den beiden Neuerscheinungen entschieden zu kurz kommen, macht Rueger mit verständlicher Sprache jedem Leser begreiflich, dass "in der Welt der Klänge" Chopins "zweites Leben stattgefunden habe, wenn nicht gar sein erstes, eigentliches".

Beerdigt wurde Chopin auf dem Pariser Friedhof Père Lachaise. Doch sein Herz wurde – in Cognac eingelegt - nach Warschau gebracht und in eine Säule der Heilig-Kreuz-Kirche eingemauert. Dort wird es noch heute verehrt wie die Reliquie eines Nationalheiligen. Der Mythos Chopin lebt fort. Nicht nur in Warschau, auch in der neusten Chopin-Literatur.

Besprochen von Dieter David Scholz

Adam Zamoyski: Chopin. Der Poet am Piano
Bertelsmann
398 Seiten, 22,95 Euro

Eva Gesine Baur: Chopin oder Die Sehnsucht. Eine Biographie
C.H. Beck
564 Seiten, 24,90 Euro

Christoph Rueger: Frédéric Chopin. Seine Musik – sein Leben
Parthas
316 Seiten, 19,80 Euro
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