Ein Vorbote der großen Konflikte

19.10.2011
Im Krimkrieg ging es ging um geopolitische Machtfragen, aber auch um Religion. Diesem vernachlässigten Kapitel der europäischen Geschichte widmet sich Orlando Figes in seinem neuen Buch. Er macht deutlich, dass dieser Krieg ein Vorbote der großen Konflikte des 20. Jahrhunderts war.
Wer sich über Anlass, Verlauf und Ergebnis des Krimkriegs (1853-1856) zügig informieren will, sollte den Wikipedia-Artikel lesen, nicht aber Orlando Figes' opulente Darstellung. Das Werk des britischen Historikers fordert gerade von deutschen Lesern, denen der Krimkrieg zwischen Russland einerseits sowie England, Frankreich und dem Osmanischen Reich andererseits nur im Groben vertraut ist, Konzentration ab. Belohnt wird man dafür mit allem, was ein wissenschaftlich und stilistisch hervorragendes Geschichtsbuch bieten kann: Spannung, Erschütterung, Erkenntnis, Überblick - und verblüffende Aktualität.

Der Krimkrieg war nach dem Wiener Kongress (1815) das zweite große Ereignis im 19. Jahrhundert, das die Machtverhältnisse in Europa verschoben hat. Und er war der Kulminationspunkt komplexer Religionsstreitigkeiten. Figes beginnt nicht von ungefähr mit den Konflikten zwischen russisch-orthodoxen Pilgern und sonstigen christlichen Touristen am Karfreitag 1846 in Jerusalem. Im "absoluten Glauben an seine göttliche Mission" (Figes) verfolgte Zar Nikolaus I. den Traum von einem orthodoxen Reich mit Konstantinopel und Jerusalem als geistlichen Zentren.

Wobei das Osmanische Reich, zeitgenössisch als der "kranke Mann am Bosporus" tituliert, im Wege stand. Großbritannien und Frankreich sahen durch Moskaus Großmachtstreben eigene Interessen bedroht. Nachdem Russland in die Walachei und Moldau einmarschiert war, erklärten sie dem Aggressor den Krieg und schlossen mit den Türken einen Kriegshilfe-Vertrag. Im September 1854 erreichten alliierte Truppen nach diversen Schlachten die Krim. Wenig später begann die Belagerung Sewastopols, das spektakulärste Ereignis des Krieges.

War Krimkrieg zunächst ingeniöse Historiografie - Figes behält stets alle Kriegsparteien mitsamt der innenpolitischen und gesellschaftlichen Situation im Auge -, wird das Buch nun zur schauderhaft packenden Schlachtbeschreibung samt genauer Beobachtung technischer, militärischer, medizinischer und logistischer Details. Die berühmte Krankenschwester und Medizin-Managerin Florence Nightingale tritt genauso auf wie der junge Offizier und Erzähler Leo Tolstoi.

Vor allem aber unterfüttert Figes seine Darstellung mit Feldpostbriefen, Korrespondentenberichten, Zeugnissen von Sanitätern und Geistlichen. Man erlebt Belagerung und Fall Sewastopols samt den blutigen Opfer-Orgien und dem Lazarett-Elend geradezu körperlich mit. Die intellektuelle Plastizität und Ernsthaftigkeit der Darstellung bleibt dennoch stets auf höchstem Niveau.

Der Krimkrieg gilt wegen der Rolle von neuen Waffen, Telegrafie, Fotografie und Massenmedien als erster "moderner Krieg". Auch die Opferzahlen - je nach Schätzung bis zu einer Million Soldaten, dazu die Zivilisten - weisen ins 20. Jahrhundert. Figes macht die Modernität durchsichtig und skizziert am Ende die reiche Erinnerungskultur bis in die Gegenwart.

Sein Hauptverdienst aber ist es, den Krimkrieg als einen ungewöhnlichen Religionskonflikt auszuleuchten, in dem das christlich-orthodoxe Russland so fundamentalistisch agierte, dass die christlichen Länder England und Frankreich recht umstandslos mit den Muslimen des Osmanischen Reichs paktierten.

Zudem zeigt Figes die militärisch-menschliche Absurdität des Krieges. In Jerusalem brachen zwölf Tage nach Kriegsende neue Religionskämpfe aus. Die alliierte Vormacht am Schwarzen Meer hielt gerade 16 Jahre. Das Verhältnis von Gewinn und Verlust war auf allen Seiten letztlich überaus übel.

Besprochen von Arno Orzessek

Orlando Figes: "Krimkrieg. Der letzte Kreuzzug"
Aus dem Englischen von Bernd Rullkötter
Berlin Verlag, Berlin 2011
747 Seiten, 36,00 Euro
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