Ein wacher Berichterstatter

29.09.2011
Das Bundesverfassungsgericht ist eine zentrale Institution unserer Demokratie. Der Journalist Rolf Lamprecht war 30 Jahre lang Korrespondent in Karlsruhe. Jetzt legt er mit "Ich gehe bis nach Karlsruhe" eine "Geschichte des Bundesverfassungsgerichts" vor.
Das Bundesverfassungsgericht wird 60 Jahre alt, und Rolf Lamprecht gehört zu den jenen, die seine Schritte seit dem ersten Tag beobachtet haben. Die Hälfte dieser Frist, 30 Jahre, war Lamprecht Korrespondent des "Spiegel" in Karlsruhe, und auch seine Pensionierung 1998 hat seiner Neugier, was das Geschehen im Karlsruher Schlossbezirk betrifft, keinen Abbruch getan.

Jetzt hat er, als Geburtstagsgabe wie auch als Abrundung seines journalistischen Lebenswerks, ein Buch geschrieben, das eine "Geschichte des Bundesverfassungsgerichts" zu sein beansprucht. Ein Anspruch, den es indessen nur teilweise einlösen kann.

Die Geschichte, die Lamprecht erzählen will, handelt vom Bundesverfassungsgericht als Praeceptor Germanie in Sachen Demokratie und Grundrechte: In der Finsternis der Adenauer-Ära war es das Bundesverfassungsgericht, das den Deutschen "Lektionen in Staatsbürgerkunde" gab und sie "das demokratische Alphabet buchstabieren lernen" hieß. Das ist ein seit Jahrzehnten wohl bekanntes Narrativ, das nach dunkler Vergangenheit in einer lichtdurchfluteten Gegenwart mündet, in der wir, gute Demokraten allesamt, die Früchte ernten.

Es ist nicht falsch, dieses Narrativ – aber es ist affirmativ in einem Maße, das dem Autor einige drängende Fragestellungen aus dem Blick geraten lässt: Warum ziehen die Deutschen das gelehrte, im Geheimen debattierende und ex Kathedra entscheidende Verfassungsgericht ihrem Parlament so sehr vor? Was passiert mit dem Lehrer, wenn die Demokratie-ABC-Schützen erwachsen werden? Und was hat dieses Erwachsenwerden mit Europa zu tun, aus welchem dem Grundgesetz und dem Verfassungsgericht höchst prekäre Konkurrenz erwächst?

Eine Geschichte des Bundesverfassungsgerichts müsste auf diese Fragen Antworten suchen. Lamprecht fädelt stattdessen eine Gerichtsentscheidung nach der anderen auf den Zeitstrahl.

Vieles ist scharf beobachtet, vor allem die inneren Querelen der Senate, der Einfluss einzelner Richterpersönlichkeiten wie Gerhard Leibholz und Wiltraut Rupp-von Brünneck. Lamprecht, ganz Spiegel-Autor, personalisiert: Die abstrakten rechts- und politikgeschichtlichen Zusammenhänge werden oft nicht direkt adressiert, sondern vermittelt durch die handelnden Personen. Das schlägt sich auch in der wenig glücklichen Entscheidung nieder, die Geschichte des Gerichts nach den Amtszeiten seiner Präsidenten zu epochalisieren. Warum etwa dem Übergang von Wolfgang Zeidler zu Roman Herzog 1987 Zäsurcharakter zukommen soll, wird aus dem Buch nicht klar.

Eine umfassende Monografie über die Geschichte des Bundesverfassungsgerichts fehlt bis heute, und Lamprecht füllt diese zeithistoriografische Lücke nicht. Lamprecht ist Journalist, kein Historiker. Seine Quellen sind laut Fußnotenapparat fast ausschließlich Presseberichte, viele davon seine eigenen. Sein Buch ist ein eindrucksvolles Zeitzeugendokument eines kritischen, wachen Berichterstatters.

Wer eine Einführung sucht, woher das Bundesverfassungsgericht kommt und was sich in den 60 Jahren seines Bestehens alles zugetragen hat, wird es mit Gewinn lesen. Wer eine zeitgeschichtliche Einordnung dieser Institution erwartet, wird noch weiter warten müssen.

Besprochen von Maximilian Steinbeis

Rolf Lamprecht: "Ich gehe bis nach Karlsruhe. Eine Geschichte des Bundesverfassungsgerichts"
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2011
350 Seiten, 19,95 Euro
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